Samstag, 4. Dezember 2010

Die Kunst der Verwandlung

Kulturübergreifend: Herbie Hancock und Band mit einer Live-Version ihres „Imagine“-Projekts im Stuttgarter Hegelsaal

Der Meister mit der Keytar: Herbie Hancock entlockt seinem Umhänge-Keyboard auch mal jaulende Gitarrenklänge. Foto: dpa

Stuttgart - Als Zugabe spielten Herbie Hancock und seine Band im Hegelsaal der Stuttgarter Liederhalle sein funkiges „Chameleon“. Ein Titel, der das Wesen des Jazz glänzend umschreibt. Dient doch der Farbwechsel des Chamäleons nicht nur der Tarnung, sondern vor allem der Kommunikation mit den Artgenossen. Nicht anders der Jazz. Auch er kann sich jederzeit verwandeln. Er ist die Kunst der Fusion im Dienste des kulturellen Austauschs, er kann jeden Stil integrieren.

Jazzpuristen haben Hancock seine Ausflüge in die Pop-Musik trotzdem übel genommen. Aber der Pianist und Komponist, der kürzlich 70 Jahre alt wurde, sieht das pragmatisch: „Der Jazz muss sich, um in der Zukunft zu überleben, noch viel mehr öffnen“, forderte er einmal in einem Interview.

Bemerkenswertes Stilgemisch

In diesem Jahr tragen seine grenzüberschreitenden Ambitionen sogar politische Früchte. Die universelle Sprache der Musik nutzt Hancock für Friedensbotschaften: für die Einforderung einer globalisierten Welt mit menschlichem Antlitz als produktiven Gegenpol zur zerstörerischen Finanzkrise. So versammelte er für sein „Imagine“-Projekt Musiker aus verschiedenen Kulturen und coverte mit ihnen Hits von Kollegen - in einem bemerkenswerten Stilgemisch aus Jazz, Pop und Folklore. Mit dabei waren so gegensätzliche Künstler wie Anoushka Shankar, Seal, Pink, Jeff Beck, Los Lobos oder Oumou Sangare.

In Stuttgart beendete Hancock jetzt seine Deutschlandtournee zum „Imagine“-Projekt. Sechs Songs des Albums bildeten das Gerüst des Abends. Allerdings nicht in der Promi-Studiobesetzung, sondern dargeboten von einer junge Sängerin aus Georgia, Kristina Train, deren Stimme zwar sehr kräftig und laut ist, der aber ein wenig die vibrierende Geschmeidigkeit fehlt, die Jazz-Gesang fordert. Zudem musste man sich bisweilen mit Teilplaybacks behelfen: So bereicherten in der Multi-Kulti-Version von John Lennons „Imagine“ afrikanische Daumenklaviere von der Festplatte den Sound, und plötzlich war auch Oumou Sangare zu hören. In der Irish-Folk-Version von Bob Dylans „The times they are a-changin‘“ griff Kristina Train selbst zur Fiddle, Tin whistle und Dudelsack waren im Synthesizer von Greg Phillinganes gespeichert.

Fetzig und funkig

Doch Hancock wäre nicht Hancock, wenn er es bei der Live-Reproduktion der „Imagine“-Scheibe beließe und auf puren Jazz ganz verzichtete. So wechselten sich die globalen Ausflüge mit groovigen, fetzig-funkigen Jazznummern ab, in denen die Mitstreiter auf der Bühne ihr Welt-Niveau offenbaren konnten. Ob in „Watermelon man“ oder einem Medley aus anderen Hancock-Klassikern wie „Maiden Voyage“, „Dolphin Dance“ oder „Cantaloupe Island“: Trevor Lawrence junior an den Drums faszinierte durch sein spektakulär fein differenziertes, changierendes, ornamentales rhythmisch-metrisches Gewebe, während James Genus seinen E-Bass menschenstimmenähnlich in irrsinnig geschwindem Tempo plappern ließ. Wenn auch Greg Phillinganes an den Keyboards den Gesamtklang gelegentlich zu sehr in Synthesizer-Sahne schwimmen ließ, so gab er mit Sam Cookes souligem „A change is gonna come“ eine respektable Kostprobe seiner Sangeskunst.

Der Meister selbst, der zwischen bizarrer Keytar - einem Umhänge-Keyboard -, Korg-Synthesizer und klassischem Flügel wechselte, unterhielt neben seinen virtuosen Klavierimprovisationen, neben perlenden Licks und quirliger Polyrhythmik auch mit musikalischer Mimikry, indem er der Keytar jaulende Gitarrenklänge entlockte und dem Synthie Trompetenfanfaren.

Mehr Spaß als Melancholie

Der Höhepunkt war aber Hancocks ausgedehnte Improvisation am Flügel, bei der die Mitmusiker respektvoll die Bühne verließen. Inspiriert von Joni Mitchells Ballade „Court and Sparks“ ließ Hancock introvertiert und ohne jeden virtuosen Gestus graue Wolken aufziehen, ließ die Töne ziellos wie ein verwehtes Blatt durch den Klangkosmos streifen, wandelte schwermütig auf verwachsenen harmonischen Pfaden und ließ die Konturen in impressionistischem Farbnebel verschwimmen. Wunderbar! Ansonsten blieb die Melancholie aber zuhause. Der Abend wurde vor allem vom mitreißenden Spaß getragen, den die Musiker offenbar miteinander hatten. Davon könnte sich mancher deutsche Kollege eine Scheibe abschneiden.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 4.12.2010. Das Konzert fand statt am 2.12.

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