Montag, 7. Mai 2012

Mit allen Registern

Der Dirigent Herbert Blomstedt und der Geiger Sergey Khachatryan mit den Bamberger Symphonikern in der Stuttgarter Liederhalle

Stuttgart – Ein wenig erinnert Herbert Blomstedt an einen Kapitän auf der Kommandobrücke eines großen Ozeanschiffs, wie er da auf dem Dirigentenpodest mit bedächtigen, unaufgeregten und klaren Gesten die riesig besetzten Bamberger Symphoniker sicher durch die stürmisch aufgewühlte Klangwelt der Neunten Sinfonie Anton Bruckners führt. Im ausverkauften Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle, wo die Franken jetzt in der Meisterkonzert-Reihe zu hören waren, zeigte Blomstedt, der bedeutende Bruckner-Interpret, wieder einmal seine gelassene Größe. Eine Größe, die notwendig ist, um das an Bruckners Unvollendeter fühl- und hörbar zu machen, was Nikolaus Harnoncourt einmal „Antenne ins zwanzigste Jahrhundert“ genannt hat.

Deutlich arbeiteten die Bamberger in Blomstedts Leitung die krasse Harmonik des ersten Satzes heraus, beschönigten oder überspielten nichts. Und sie zeigten sich in den gewaltigen, unaufhaltsamen klanglichen Steigerungswellen als perfekt aufeinander eingespieltes Kollektiv, das Bruckners rhythmisch-metrische Arbeit exakt und wirkungskräftig zur Entfaltung bringt. Ob fundamentale Katastrophe oder tödliche Stille, ob Fluss oder Fläche: Alles fügte sich organisch ein in den architektonisch riesigen Spannungsbogen. Wie auch das Scherzo mit seinem brutal-bruitistischen Stampfen, das mit einer grotesk tapsenden Elfenmusik kontrastiert wird. Und das hinführt zum wenig melancholischen und überhaupt nicht trauernden, sondern vielmehr kämpfenden, gelegentlich auch mal singenden Adagio.
Selbst in den erschütternsten, aufdringlichsten Klangkulminationen blieb das Orchester und seine unterschiedlichen Instrumentengruppen perfekt ausbalanciert, wodurch die typische Bruckner’sche Instrumentation zur prachtvollen Entfaltung kommen konnte – eine Klanglichkeit, aus der man immer wieder das volle Orgelwerk herauszuhören meint: das Spiel mit allen Registern, das Bruckner als Organist offenbar besonders geliebt hat. Wie der vitale, agile 84-jährige Blomstedt die ungeheure Spannungsentwicklung der Neunten aufbaut, wie er dadurch Bruckners finallose und damit unvollendete Sinfonie zur Vollendung bringt, das war einfach grandios.

Zum nicht minder beeindruckenden Ereignis geriet Felix Mendelssohn Bartholdys zuvor aufgeführtes Violinkonzert. Dem jungen, phänomenalen Geiger Sergey Khachatryan gelang eine durch und durch poetisch durchleuchtete und damit eine wahrhaft romantische Interpretation. Nachdenklich, fragil, bedeutungsvoll der erste Satz, mit innigstem, ausdruckstarkem Ton das Andante, von berückender Leichtigkeit das filigran-flirrende Finale.
Die technischen Schwierigkeiten nahm der Armenier mit Leichtigkeit. Seine Stradivari malträtiert er nicht durch Dauervibrato, sondern bringt sie mit einem extrem feinfühligen, oft beinahe streichelnden Zugriff zum Singen, befragt jeden Ton auf seine emotionale Facette und Farbe hin. Selbst im leisesten Piano schwingt und singt der Ton und trägt weit. Es scheint oft, als spiele Khachatryan in Trance oder als müsse er aus seiner traumwandelnden Solokadenz vom Orchester im wahrsten Sinne des Wortes zurückgeholt werden. Doch er bleibt bei aller Versunkenheit hellhörig und dem Orchester zugewandt. So tief empfunden und von so euphorisierender Schönheit hört man Mendelssohns Violinkonzert nur ganz, ganz selten.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 7. Mai. Das Konzert fand statt am 4. Mai.

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