Sonntag, 3. November 2013

Das große Warten

Dürrenmatts „Das Versprechen“ in Armin Petras’ Theaterfassung am Stuttgarter Staatsschauspiel

Fritzi Haberlandt und Anja Schneider in „Das Versprechen“. (Foto: Staatstheater Stuttgart, Bettina Stöß)

Stuttgart - Schnee fällt. Immer wieder. Auf der fast leeren Bühne des Stuttgarter Schauspielhauses sind diese Schneefalleffekte eine der ganz wenigen visuellen Verzierungen, die Armin Petras der Inszenierung seiner eigenen Theaterfassung von Friedrich Dürrenmatts Erzählung „Das Versprechen“, entstanden 1958 aus der Drehbuchvorlage zum Film „Es geschah am hellichten Tag“, angedeihen ließ. Schnee fällt und fällt und fällt - und lässt in seiner melancholischen Monotonie jene Beinahe-Ewigkeit aufscheinen, die Ex-Polizist Gerd Schwarz auf den Killer wartet.

Der hat bereits drei kleine Mädchen mit dem Rasiermesser ermordet. Schwarz, vom selbstverordneten Zwang eines Versprechens an eine Opfer-Mutter getrieben, den wahren Mörder zu finden, hat sein ganzes Leben auf eine Karte gesetzt. Hat eine heruntergekommene Tankstelle gekauft, um dort im Fluss tankender Autos nach dem Mörder zu „fischen“: Ein kleines Mädchen soll, ohne es zu wissen, als Köder den Serientäter anlocken. Doch Schwarz wartet vergeblich. Zwar nimmt der Kindermeuchler Kontakt zum Mädchen auf, aber zur finalen Falle, die ihm die Polizei stellt, erscheint er nicht. Das sinnlose Warten geht weiter, bis zur völligen Selbstaufgabe.

Nach dem Auftaktwochenende des Staatsschauspiels mit Neuinszenierungen eröffnete „Das Versprechen“ jetzt den Reigen Stuttgarter Premie­ren von Übernahmen und Kooperationen. Petras’ „Das Versprechen“ ist schon einige Jahre alt. Die Uraufführung in derselben Besetzung fand 2005 am Thalia-Theater in Hamburg statt. Ist das der Grund dafür, dass dem Abend die innere Spannung fehlt? Das Ensemble spielt allerdings gut und noch immer frisch. Es ist wohl eher Petras’ Bearbeitung, die der Vorlage das Tempo und jegliche Dramatik nimmt - und nehmen soll. Er behandelte sie recht frei. Originaltext gibt es wenig, die grobe Handlung ist allerdings nur in Details oder durch Weglassungen geändert. Petras wählte eine neue Erzählperspektive. Als Erzählerin zwischen den Dialogen fungiert jetzt die inzwischen erwachsene Chrissi, die den Lockvogel für den Kindermörder gab. Und das ist eines der Hauptprobleme: die Nacherzählung, der Tod des Theatralen. Und das verbunden mit viel Stehtheater, dessen stärkster Vertreter an diesem Abend Peter Kurth sein muss. Humorlos, steif, ungesellig, einsam zeichnete Dürrenmatt seinen Schwarz. Bei Petras verzieht er keine Miene, bewegt sich kaum. Schwarz bleibt undurchdringlich, nichts gibt Einblick in seine Seele und sein Verhalten. Ohnehin ist sein völliger Verfall vorweggenommen, bevor die eigentliche Handlung beginnt: Er liegt zu Beginn wie ein Toter auf der Bühne.

Schwarzens Lethargie wird kontrastiert durch oft comedyhafte Übertreibung der anderen Protagonisten: Sehr witzig spielt Thomas Schmauser den aufgedrehten, geschwätzigen Polizistenkollegen, eine wirr-bigotte Oma oder den ängstlich-unsicheren tatverdächtigen Obdachlosen. Und Fritzi Haberlandt brilliert als Chrissi, die sich flugs von der Erwachsenen ins Mädchen zurückverwandelt. Da braucht ihr nur die Mutter (Anja Schneider) die Perücke abzureißen und die Zöpfchen freizulegen, und schon gickert und gackert einem die kleine Chrissi entgegen in all ihrer kindlich-nervösen Geschäftigkeit und bewegungstechnischen Skurrilität, die eben anfällt, wenn ein Erwachsener ein Kind spielen muss. Wenn die schlaksige Haberlandt-Chrissi, getrieben von Harndrang und in Beschlag genommen von einem roten Luftballon, der sie gen Himmel zieht, verkrampft von der Bühne tänzelt, ist das unglaublich komisch.

Zwischen den schrägen und meditativen Schneefall-Szenen brechen sich immer wieder, garniert von entsprechend harten Rhythmen aus den Boxen, cholerische Anfälle und Gewalt Bahn. Es sind im Innern aggressive und psychisch degenerierte, emotional verklemmte Menschen, die sich da auf der Bühne treffen. Der Kopfschuss des Obdachlosen lässt Theaterblut spritzen, oder Peter Moltzen als Kommissar Henning ballert mit seiner Pistole umher - nicht immer ist es nachvollziehbar, warum. Auch nicht, warum er einmal mit Blechauto unterm Arm und mit blutüberströmtem Kopf auf die Bühne kommt. Im Original wurde der Täter bei einem Autounfall getötet - eine Erklärung, warum er am Ende nicht in Falle tappte.

Die karge Bühne von Susanne Schu­both bietet nur wenige symbolhafte Requisiten: ein kleines Bambi, einen Kühlschrank, der mal als Schneemobil, mal als Verhörtisch dient. In Halbhöhe der nach hinten steil ansteigenden Rampe werden immer wieder skurrile Tänzchen aufgeführt. Beim Fallestellen der Polizei wird dort die kleine Chrissi als Opferlamm präsentiert, auf Feuerboden und zwischen Stelen, bevor sie von einem Feuerwehrmann gerettet wird.

„Die Vergangenheit ist ein schlafender Vogel, wenn er erwacht, kommt alles wieder“, sagt Chrissi zu Beginn. Petras hebt die Erzählung, die „Requiem auf den Kriminalroman“ sein will, weil hier der Zufall dem Spürsinn und der Logik den Garaus macht, ins Allgemeine, schafft Distanz und verhindert jede Identifikation. Man bleibt deshalb unberührt, verfolgt diese Erweckung eines großen, verschütteten Alptraums über einunddreiviertel Stunden aber mit Interesse. Am Ende freundlicher Applaus fürs Ensemble und Regisseur.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 2. November 2013. Premiere war am 31. Oktober.

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