Mittwoch, 13. November 2013

Schuld und die Vergebung

Uraufführung von Georg Wötzers „Esslinger Judenmusik“ im Theodor-Rothschild-Haus in Esslingen

Esslingen - Esslingen am 10. November 1938: Ein bewaffneter Haufen, wild schreiend, SA und Zivilisten, marschiert die Burgsteige hinauf zum jüdischen Waisenhaus, zerschlägt dort alles in blinder Wut, zündet die kleine Haussynagoge an, bedroht und verprügelt Kinder und Lehrer, wirft Menschen auf Laster und deportiert sie in das KZ Dachau. Die Nachbarn schweigen. „Eine Schande für das deutsche Volk“, schreit nur einer und wird dafür bestraft.

Dieser Bericht steht im Mittelpunkt der „Esslinger Judenmusik“, die der Komponist Georg Wötzer jetzt am Jahrestag und am Ort des Geschehens – dem heutigen Theodor-Rothschild-Haus – zur Uraufführung brachte. Der Saal war voll, platzte aus allen Nähten. Es war ein doppelter Gedenktag: Vor 100 Jahre wurde das Jüdische Waisenhaus eröffnet, vor 75 Jahren wurde das Gebäude und seine Bewohner durch die Nazis geschändet.

Wötzer kleidet die schrecklichen Ereignisse in ein komplexes zeitgenössisches Klanggewand: Klarinette und Akkordeon – eigentlich Herz jeder Klezmer-, jeder jüdischen Volksmusik – artikulieren sich mal krass und schrill, mal nervös und geräuschhaft. Lediglich Schatten von Vertrautem werden spürbar, elektronische Verfremdungen verunsichern. Von außen wird die Tür bearbeitet. Klopfen, Hämmern dringt in den Saal, Unheil bahnt sich an. Der Sänger, das mehrgesichtige lyrische Ich des Abends, spricht, singt, schreit, flüstert auf Deutsch und Hebräisch.

Wötzer ist ein schlauer Fuchs. Er weiß seine Zuhörerschaft bei der Stange zu halten. Auch jene, deren Ohren nach klanglicher Harmonie dürsten. Die „Esslinger Judenmusik“ – „ein Zyklus aus acht Musikstücken über Schuld, Vergebung und uns“ – wechselt zwischen neuem und altem Stil: zwischen karger, schmerzhaft dissonanter und zerbrechlicher Musik und wunderbar arrangierten Streichquartettklängen in Dur und Moll, die die warme Baritonstimme begleiten. Wötzer kann eben beides: knallharte Avantgarde und süffig-sinnliche Romantik.

Trotz kleiner Besetzung ist der musikalische Kosmos der „Judenmusik“ prall, die Mittel vielseitig, mit denen Wötzer Vergangenheit und Gegenwart zusammenbringt. Die drei romantischen Lieder auf jüdische Gebete etwa verwenden Melodien aus dem Kompendium für Synagogengesänge von Mayer Levi, der 1844 bis 1874 in Esslingen als Kantor wirkte. Sie stehen in ihrer „himmlischen“ Schönheit für das Vertrauen in Gott, während die Neue Musik als einzig mögliche Ausdrucksform des Unsagbaren die furchtbare Realität darstellt: auch in Gestalt einer Vertonung von Jitzchak Katzenelsons Klagegesang über die Ermordung des jüdischen Volkes, in der das Rattern der Züge nach Auschwitz hörbar wird. Oder im „Esslinger Viduj“, des jüdischen Sündenbekenntnisses, das Wötzer umformte zum Dialog zwischen einem Deutschen und einem Israeli: „Wir können euch nicht vergeben, es vergebe euch der Allerhöchste.“ Zur Vergebung einer Sünde von solcher Dimension reicht die Kraft des Menschen nicht aus.

Die Aufführung war zwar nicht auf allen Ebenen perfekt – so machte etwa die reflexionsarme Akustik des Saals karge Klänge noch trockener und ließ sie zuweilen auseinanderfallen –, insgesamt aber ging der Abend sehr nahe. In der Leitung von Mark Johnston gelang dem Krakauer Archos-Streichquartett der Wechsel zwischen neuen und romantischen Tonfällen meist gut. Klarinettist Martin Möhler und Fanny Vicens am Akkordeon profilierten sich als gediegenes Avantgarde-Duo. Vor allem aber Bariton Reto Rosin sorgte dafür, dass das 90-minütige Werk durchweg fesselte. Ob Sprechgesang, Bodypercussion, Pantomime oder wohltönende Baritoninbrunst – mit kräfteraubendem Stimm- und Körpereinsatz warf er sich in die verschiedenen Darstellungs- und Artikulationsarten, die ihm die Partitur abverlangte. Am Ende verließ er die Bühne als gebrochener Mann. Nicht in der Rolle des jüdischen, sondern des nichtjüdischen Menschen, der schwer trägt an der Schuld, die nicht nur Esslingen einst auf sich geladen hat.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 12. November 2013. Das Konzert fand statt am 10. November.

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