Mittwoch, 15. Januar 2014

Im Geisterhaus

Uraufführung von David Martons „Doppelgänger“ im Stuttgarter Kammertheater

Stuttgart - Der Dichter lässt seine Geliebte aus seinem Roman „Die Elixiere des Teufels“ vorlesen - jene Stelle, als Mönch Medardus in Gestalt seines Doppelgängers nach dem Bruder auch die Mutter seiner Angebeteten mordet. Und erbost über die fehlende Leidenschaft beim Vortrag und Kritteleien am Stil zückt der Dichter, E.T.A. Hoffmann, das Messer und schleicht sich von hinten an die Rezitierende heran. Er zieht das Mordwerkzeug dann aber plötzlich wieder zurück und verschwindet. Ebenso unvollendet bleibt die spätere Liebelei mit einer anderen. Der Dichter kriegt seine Hose nicht auf, verfällt in Körperstarre und regelmäßige Schnarchgeräusche, die das weitere Bühnengeschehen dann gefühlte zehn Minuten als merkwürdigen Grundrhythmus untermalen. Das sind zwei der skurrilen Szenen, aus denen sich David Martons Musiktheaterstück „Der Doppelgänger“ zusammensetzt, das jetzt im Kammertheater als Produktion des Stuttgarter Staatsschauspiels uraufgeführt wurde.

Seelische Abgründe

Dem unheimlichen Phänomen des Doppelgängers will Regisseur David Marton, bekannt für sein bizarr durch Stile und Sparten treibendes Musiktheater, in seinem neuesten Stück auf den Grund gehen - und damit einem zentralen literarischen Motiv der Romantik. Seelische Abgründe, Bewusstseinsspaltung, geistige Zerrüttung - nichts verbildlicht ja die Angst vor dem psychischen Zerfall und vor dem Wahnsinn so genau wie die Figur des Doppelgängers: des ultrabösen Schattengängers des Ichs.

Nicht nur Motive und Textfragmente von E.T.A. Hoffmann, dem romantischen Dichter, Komponisten, Maler und nicht zuletzt Mozart-Fan, verbrät Marton in seinem neuen Stück, sondern auch Musik, vor allem Lieder, von Hoffmanns Bruder im Geiste, Robert Schumann, der in einer Irrenanstalt verdämmerte. Und Marton wollte noch mehr: Er begab sich gemeinsam mit seiner interna­tional besetzten Crew aus sieben hervorragenden Schauspielern und Musikern auf die „Suche nach dem Verdrängten und Unheimlichen unserer Zeit und ihren Erscheinungen“.

Ein richtig stringenter Abend ist daraus jedoch nicht geworden. Keine Geschichte wird erzählt, sondern Bruchstücke, Assoziiertes, Improvisiertes, kurze Szenen reihen sich aneinander. Die Dramaturgie zerfasert, bleibt vage, letztlich unverständlich. Immer wieder bleibt die Zeit stehen, passiert nichts. Es ist ja auch unendlich schwierig, den Wahnsinn, der im romantischen Doppelgängertum steckt, mit Ernst auf die Bühne zu bringen. So driftet man immer wieder ab ins Komische.

Das Bühnenbild von Christian Friedländer klebt Disparates in absichtsvoll falschen Größenverhältnissen zusammen: vorne eine Sitzgruppe, mittig ein zu enger Bürgersalon mit Tisch und Stühlen, rechts ein Flügel und ein Hochbettgestell, links eine zu kleine Kirche aus Wellblech und ein Harmonium, hinten ein großes Fotostudio. Ranzige, zerfetzte Vorhänge an einer Wäscheleine verschleiern zuerst den Blick der Zuschauer, später werden die Lappen beiseite gezogen. Düsteres Licht schafft Gespensteratmosphäre und Alptraumstimmung, in die sich irgendwie alles integrieren lässt. Nichts ist so unlogisch wie der Traum.

„Das fromme, treue Vaterland“

Aber es gibt auch richtig gute Szenen: Hoffmann alias Holger Stockhaus singt sitzend im Sessel Schumanns „Sonntags am Rhein“, und immer wenn der Refrain „Das fromme, treue Vaterland“ kommt, haut ihm sein Doppelgänger alias Thorbjörn Björnsson bei „Vaterland“ voll auf den Hinterkopf, bis Hoffmann aufspringt und sich mit ihm prügelt. Obwohl Björnsson präzise agiert, bleibt der Doppelgänger im Verlauf des Abends aber nicht wirklich dauerhaft als zweites Ich des Dichters erkennbar. Nicht nur, weil er ganz anders aussieht; er präsentiert sich auf der Bühne so autark wie die anderen sechs Protagonisten: sitzt entweder sinnend im Sessel und stöhnt ob der Klänge, die sein Ohr umschmeicheln, „Schöööön!“ oder fummelt an einem weiblichen Model herum, das ihm im Fotostudio kaugummiknatschend posiert. Ein anderer, gespielt vom famosen Trompeter Paul Brody, hockt auf dem Dach oder unterm Flügel und baut mit penetranter Geduld Modell-Kriegslandschaften aus Erde, Ästeleien, Soldatenfigürchen und Mini-Panzern. Zwischendurch verjazzt er Schumann oder spielt Mahler. Herrlich!

Musikalisch hat der Abend ohnehin einiges zu bieten. Nicht nur wegen verblüffender Verfremdungseffekte, in die neben Schumann auch Bach, Busoni, Händel, Mozart, Mahler überführt werden, sondern auch wegen der exzellenten Geigerin Nurit Stark, die sogar Bartóks Violinsolosonate drauf hat - während der aber leider so gut wie nichts auf der Bühne passiert. Oder die charismatische Sängerin Léa Trommenschlager, die nicht nur im Wahnsinn geschriene Dialoge über ihre Ähnlichkeit mit der Mutter zu bieten hat, sondern auch recht extravagante Schumannliedinterpretationen - dann immer begleitet von Stefan Schreiber an den Tasten. Der musikalische Leiter des Abends klebt auch mal gerne hinter den Vorhängen und gibt den paralysierten Voyeur oder dient als Projektionsfläche einer gemalten, nackten Schönen, deren Gesicht mit dem seinen verschmilzt und zum Objekt einer leidenschaftlichen Kussorgie des Doppelgängers wird, bevor sich Schreiber aus der Umarmung befreien und „Wüstling“ schreien darf. Richtig unheimlich ist aber nur die phänomenale Marie Goyette: eine Art strenge Gouvernante mit tiefgelegter Stimme, die Geisterhausstimmung à la Hitchcock verströmt.

Dem zweistündigen Abend hätte mehr Tempo gut getan: eine halbe Stunde weniger. Wären die einzelnen Episoden schneller getaktet, gäbe es weniger Leerstellen. So wirkt manche Musiknummer als Zeitschinderin, und der Abend findet kein wirklich zwingendes Ende. Am Schluss plätschert gar noch Schuberts Forelle vorbei. Na dann: Gute Nacht.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 14.1.2014. Premiere war am 11.1.

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