Samstag, 14. Juni 2014

Nachrichten aus der ideologischen Antike

Die Dreigroschenoper – Sebastian Baumgarten reist mit Bertolt Brechts Unterhaltungsklassiker in Stuttgart zum Planet der Affen

Von Verena Großkreutz

Erst kommt die Faust und dann die Moral: Hanna Plaß (im Hintergrund), Johann
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Jürgens, Horst Kotterba, Sebastian Röhrle und Paul Grill. (Foto: Staatstheater Stuttgart, Bettina Stöß)

Stuttgart, 12. Juni 2014. "Und der Haifisch, der hat ..." Hundertfach gehört. Die Brecht-Weill'sche "Dreigroschenoper": beliebtestes Theaterstück aller Zeiten. Abgedudelt, abgenudelt inklusive ihrer Sentenzen: "Erst kommt das Fressen ..." – "Denn die Verhältnisse, die sind nicht so ..." Ihre Songs umkreisen seit der Uraufführung 1928 die Unterhaltungsbranche wie Satelliten. Wie bringt man das heute noch glaubhaft auf die Bühne, diesen Spagat zwischen witziger Opernparodie und gesellschaftskritischem Lehrstück über Gier, Gewalt und Korruption?

Sehr geehrte Primaten ...

Sebastian Baumgarten hat jetzt am Stuttgarter Staatsschauspiel einen Weg gefunden, einen spannenden, überraschenden Theaterabend daraus zu machen. Durch philosophische Befruchtung. Bevor das Spektakel beginnt, gibt's erst einmal eine Vorlesung. "Sehr geehrte Primaten, liebe Menschen": Drei Affen referieren die zentralen Thesen aus Giorgio Agambens Essay "Die kommende Gemeinschaft". Nein, soziale Klassen gebe es nicht mehr. Nur noch ein planetarisches Kleinbürgertum, in dem sämtliche Klassen aufgegangen seien undsoweiter.

Baumgarten sampelt auch noch andere Ansichten des italienischen Denkers, für den das Verhältnis des Menschen zur Tierheit und der Menschheit zum Tier, die Diskrepanz zwischen Weltarmut des Tiers und Welthaben des Menschen, zum entscheidenden politischen Konflikt geworden ist. Deshalb die Affen, die gleichzeitig auch auf Kafkas "Bericht für eine Akademie" und die legendären Filme um den "Planet der Affen" verweisen. Das ist Baumgartens V-Effekt, mit dem er die dringend notwendig Distanz schafft. Es wird ein tierisches Vergnügen.

So beginnt die "Dreigroschenoper" nach dem Vorspann mit der ironischen Ankündigung: "Nachrichten aus der ideologischen Antike". Es treten Menschen auf, aber das Bühnenbild zeigt sie in zoologischen Ansichten – umgeben von höhlenartigen Steingemäuern. Peachum, der profitgierige Bettler-Ausbeuter, singt sein "Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens" im Hamsterrad laufend (wie kriegt das Rainer Philippi bloß hin?). Die frommen Sprüche an seinen Wohnungswänden verwandeln sich in rechte Parolen: "Sozial geht nur national", "Polen-Invasion stoppen", "Heimreise statt Einreise". Die Peachums hängen ihr Fähnchen in den Wind und treten trotzdem auf der Stelle – äußerlich ist das Paar einem "Oliver-Twist"-Film entsprungen: Er mit Backenbart und hellbraunem Dreiteiler. Sie mit überdimensionalen Lockenwicklern im ondulierten Haar. Die ewig Gestrigen.

Hamsterrad und Affenkäfig

Mackie Messers Hochzeits-Festmahl im Pferdestall findet zwischen antikisierenden Säulen und Kachelwänden statt. Man redet vom Lachs, während man wie die Tiere die Zähne in Kohlköpfe haut und aus Konservendosen trinkt. Mackie und seine kriminellen Kumpels tragen Klamotten aus jenem Stoff, aus dem die "Türkenkoffer" sind, wie man politisch unkorrekt gewisse karierte großen Plastiktaschen nennt. Das Hurenhaus mit der Spelunken-Jenny stellt sich als urwaldartig verwuchertes Etablissement dar, indem die Freier herumklettern und mit ihren "Eiern" spielen. Mackies Gefängniszelle ist ein Affenkäfig mit Strohballen, Blechnapf und Klettergerüst.

Je tierischer desto weniger menschlich? Peachum jedenfalls beißt dem Bettler Filch die Kennnummer 314 mit den Zähnen in den Arm, es zuckt verdächtig affenartig in seiner Mimik. Er knabbert Möhren, statt Zigarre zu rauchen.

Erst wenn der Mensch seine Tierheit ablegt, öffne sich ihm die Welt, so Agamben. Insofern liegt Baumgartens Sympathie bei Polly, die sich wenigstens durch ihre Liebe zu Mackie auszeichnet, auch wenn der ein Verbrecher ist. Ihr "Song vom Nein und Ja", den Hanna Plaß mit mitreißender Leidenschaft spielt und singt, ist der emotionale Glanzpunkt des Abends. Hier darf Polly ganz Mensch sein: Gefühl statt Triebhaftigkeit. Mackies Ex-Geliebte Lucy hat derart Menschliches nicht zu bieten. Sie richtet sich ihre Haare animalisch: wie Katzen ihr Fell.

Der Abend lebt vom fantastischen und spielwütigen Ensemble, das die Songs überraschend frisch und frei von Pathos und Kitsch wirken lässt: etwa Caroline Junghanns als Spelunken-Jenny oder Susanne Böwe als Mrs. Peachum. Distanz zum kommerziell so oft verbratenen Bühnenhit schafft Baumgarten auch durch Anleihen aus der Film- und Comicbranche. Polly etwa scheint einem Manga entsprungen, Horst Kotterba als Polizeichef Tiger-Brown erinnert an den Rosaroten Panther. Der schöne Johann Jürgens – athletisch und mit knallblauen Augen – spielt Mackie mit Berliner Schnauze und lässt Ganovenfilme der 30er-Jahre durchscheinen. Und die sechsköpfige Band sorgt für Geräuschsynchronisation wie im Stummfilm.

Von Kanonensong bis Haifischsong - bong!

Dass die "Nachrichten aus der ideologischen Antike" selbstverständlich nach wie vor brandaktuell sind, wird nicht erst im modernisierten "Kanonensong" klar: "Aus der Ukraine, zurück zum Rheine". Gier, Gewalt und Korruption überdauern die Zeiten wie Peachum, der auch ein deutscher Waffenhändler sein könnte, der an Saudi-Arabien liefert.

Und die "Moritat von Mackie Messer"? Die erklingt in Stuttgart erst am Ende. Nicht live, sondern von einer alten Schallplatte. Funktioniert eben nur noch als Relikt aus fernen Zeiten, wie der uralte Westernfilm und seine Revolverhelden, der im Hintergrund auf Leinwand läuft. Die zerkratze Platte dreht ihre Kreise, und alle tanzen fröhlich, ballern um sich herum und feiern die Freiheit des Mörders Mackie Messer, der von der korrupten Staatsmacht Tiger-Brown, der vom Himmel herunterfuhr wie Gott, begnadigt und in den Adelsstand erhoben wurde. Die Geschichte mag aktuell bleiben, der bis zum Erbrechen gecoverte und dadurch inhaltslos gewordenen "Mackie Messer"-Song ist es nicht mehr. Ein Sack fällt vom Himmel und zerschrotet die Platte, bevor sie abgelaufen ist.

Rezension für nachtkritik.de.

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