Die Stuttgarter Philharmoniker und Pianist Ivo Pogorelich im ausverkauften Beethovensaal der Liederhalle
Stuttgart - Ivo Pogorelich, einstiger Superstar der Klassikszene, setzt sich nur noch selten dem Rampenlicht aus. Auch das Aufnahmestudio meidet er. Sein Name ist indessen noch immer ein Zugpferd: Das Konzert der Stuttgarter Philharmoniker im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle, in dessen Rahmen Pogorelich jetzt mit Tschaikowskys erstem Klavierkonzert auftrat, war komplett ausverkauft. Diverse Abendkassenkunden mussten enttäuscht wieder nach Hause gehen.
Der für seine völlig gegen den Strich gebürsteten Interpretationen bekannte Pianist machte auch an diesem Abend seinem Ruf alle Ehre: Schon die ersten Klavierklänge, die wohl berühmtesten Des-Dur-Akkorde aller Zeiten, erschütterten in ihrer ganzen Kälte und Härte: Pogorelich stemmte sich mit all seiner Körperkraft in die Tasten, worauf der Steinwayflügel ein wenig verstimmt reagierte. Da war klar: Mit aalglattem, flinkem Virtuosenzauber oder poetisch-fantastischem Fingerballett würde man die nächsten 40 Minuten nicht rechnen können. Der 51-Jährige entfaltete stattdessen das ganze Panorama einer abweisenden, erstarrten Winterlandschaft. Wie aus Eisblöcken gehauen, formierte sich das virtuose Akkord- und Passagenwerk, grell-blendende Akzente zuckten durch düsteres Schneetreiben, und selbst den langsamen Satz gab Pogorelich distanziert, fahl, trocken. In den Solopassagen schien er zuweilen aus dem Zeitgefüge auszusteigen, die Musik zum Schweigen zu bringen. Einzelne Töne gefroren langsam zu scharfen Eiszapfen.
Darin steckte sehr viel Schmerz und Verzweiflung, was das Publikum irritiert zurückließ. Vom „Kampf zweier ebenbürtiger Kräfte“, von dem Tschaikowsky einmal in Hinblick auf seine eigenen Solokonzerte gesprochen hatte, war wenig zu spüren. Die Philharmoniker unter ihrem Chef Gabriel Feltz wirkten eher ein wenig eingeschüchtert, und Feltz hatte alle Hände voll zu tun, um des Pianisten verstörende Sicht auf die Dinge mit der rhythmisch-metrischen Auffassung des Orchesters in Einklang zu bringen. Da waren zwei Welten aufeinandergetroffen, die zueinander nicht finden konnten.
Wirklich zum Zuge kamen die Philharmoniker erst in Schostakowitschs Achter Sinfonie. Entstanden 1943 mitten im zweiten Weltkrieg und wie viele Sinfonien Schostakowitschs ein „Grabdenkmal für die Opfer von Krieg und Faschismus“, wie sie der Komponist einmal charakterisierte, fordert das schwierige Werk unterschiedlichste Tonfälle des Leidens, des Schreckens, des Trauerns. Feltz gelang es bravourös, den großen Spannungsbogen des fünfsätzigen, über einstündigen Werkes dezidiert aufzubauen und bis zum letzten Ton zu halten.
Das Orchester brachte sein ganzes Potenzial an Klangfarben, allen voran die glänzenden Holzbläser, zur Entfaltung: In den unbarmherzig in die Katastrophe führenden krassen Steigerungen und schrillen Klangballungen genauso wie in den grotesk-satirischen Passagen oder den fahlen, schleppenden Trauergesängen. Am Ende herrschte atemlose Stille im Beethovensaal.
Rezension für die Eßlinger Zeitungvom 20.1.2010
eduarda - 15. Jan, 23:23
Stuttgarter Philharmoniker mit der Klarinettistin Sharon Kam und dem Dirigenten Walter Weller
Sharon Kam
Stuttgart - Der deutsche Komponist Louis Spohr gehört zu jenen charismatischen Persönlichkeiten, die das europäische Musikleben im 19. Jahrhundert entscheidend mitgeprägt haben, die aber heute so gut wie keine Rolle mehr in den Konzertsälen spielen. Das ist unverständlich, denn der experimentierfreudige Romantiker hinterließ ein umfangreiches, vielseitiges Werk, in dem so manche Innovation zu finden ist.
Im jüngsten Konzert der Stuttgarter Philharmoniker im Beethovensaal der Liederhalle kam eines seiner Frühwerke zur Aufführung: das klassizistisch-schlanke zweite Klarinettenkonzert von 1810. Als Solistin hatten die Philharmoniker Sharon Kam eingeladen - eine Klarinettistin der absoluten Spitzenklasse. Neben der profunden technischen Beherrschung ihres Instruments faszinierte vor allem ihr dramatischer und poetischer Ton.
Die gebürtige Israelin bringt ihre Klarinette zum Singen, als wäre das Rohrblatt ihr Stimmband. Lebendig phrasierend und das motivische Material farblich stets fein ausleuchtend übersetzte sie die musikalischen Affekte so deutlich in Klang und Melos, dass ihr Instrument schier zur Protagonistin einer Opernszene zu werden schien.
Weil der Konzertabend im Rahmen der Reihe „Krieg und Frieden“ stattfand, hatten die Philharmoniker, die unter Leitung ihres Ehrendirigenten Walter Weller spielten, den Abend mit Tschaikowskys Ouvertüre „1812“ begonnen - einem Gelegenheitswerk, in dem der Komponist dem Genre des musikalischen Schlachtengemäldes frönte und dem Sieg der Russen über die Armee Napoleons ein tumultuöses Denkmal setzte. Die Philharmoniker ließen hier nichts anbrennen und malten plastisch nach, wie die Marseillaise von russischen Pauken und Trompeten mächtig zusammengehauen wird. Einen stärkeren Kontrast als die zum Schluss gespielte dritte Sinfonie von Franz Schubert kann es dazu wohl kaum geben. Zumal die Philharmoniker und ihr Dirigent sehr liebevoll, ja fast zärtlich zur Sache gingen. Man brachte diesen frühen sinfonischen Versuch des 18-Jährigen mit transparentem Streichersatz und wunderschönen Holzbläsereinsätzen zu Gehör, wodurch sich die Qualitäten dieses Stücks - seine mozarteske Melodik und sein buffoneskes Finale - frei entfalten konnten. Das zahlreich erschienene Publikum dürfte erfrischt nach Hause gegangen sein.
Veröffentlicht in der Eßlinger Zeitung von 28.11.2009
eduarda - 28. Nov, 10:21
Fundament – Jan Neumanns neues Stück über Sinnsuche heute uraufgeführt
Stuttgart - "Die größte Scheiße ist, dass ich nicht weiß, gegen welche Scheiße ich jetzt was machen kann", brüllt der Student Benjamin Ullrich seinen tumben WG-Mitbewohnern entgegen, nachdem er ihnen in einer mehrminütigen Wortkanonade sämtliche aktuellen Vergehen der Menschheit um die Ohren gehauen hat: von "Folter, Kinderarbeit, Todesstrafe" über den "Kampf ums Wasser, das Verschwinden der Arten, die schmelzenden Pole" bis hin zur "Unfähigkeit zu kommunizieren, Dominanz der Medien, Verrohung der Jugend" und zu "Atomkraftwerken und Atombomben".
So gut wie alles ist dabei, was einem so einfällt zum Thema menschenverschuldetes Ungemach. Doch Ullrichs Demo-Transparent wird am Ende leer bleiben. Er weiß einfach nicht, was er draufschreiben soll.
Im neuesten Projekt "Fundament" des Theaterautors und Regisseurs Jan Neumann, das jetzt im Depot des Staatstheaters Stuttgart zur Uraufführung kam, brachte diese Tirade das Publikum spontan zum Klatschen. Das Dilemma schien den Anwesenden nicht ganz unbekannt: Das Engagement eines Gutmenschen erstickt an der Unübersichtlichkeit seiner Aufgaben und hat Orientierungslosigkeit und Sprachlosigkeit zur Folge.
Sich kreuzende Wege in der Bahnhofshalle
Der Student (Matthias Kelle) ist in Neumanns Stück einer von fünf Protagonisten, deren Leben durch einen Sprengstoffanschlag auf den Hauptbahnhof einer größeren Stadt schicksalhaft miteinander verknüpft werden. In episodenhaften Rückblenden werden ihre unterschiedlichen Existenzen beleuchtet. Da ist zunächst ein Frührentner (Bijan Zamani), der seine Mitpassagiere im Zugabteil wortreich über seine erfolglose Sinnsuche in sämtlichen Weltreligionen aufklärt. Oder die junge Frau (Lisa Wildmann), die an einem esoterischen Malkurs teilnimmt, wo der Lehrer sie dazu animiert, in der Gruppe eine Beichte abzulegen: In Tränen aufgelöst berichtet sie von ihrer gescheiterten Ehe und dem unüberwindbaren Zwiespalt zwischen Familie und Beruf.
Eine andere Frau (Stephanie Schönfeld), Single, einsam, fühlt sich auch im Augenblick ihres Todes nicht dazu befähigt, irgendetwas zu empfinden – genauso wie damals im Krankenhaus, als ihr Vater im Sterben lag. Einem wohlhabenden, beruflich erfolgreichen Familienvater (Sebastian Röhrle) dagegen gelingt der Spagat zwischen seiner Arbeit in der Werbeagentur, seiner Familie und sozialem Engagement auf fast schon übermenschliche Weise. Vier der fünf Leben treffen zufällig an einem Nachmittag in einem Bahnhof zusammen, als eine Bombe detoniert. Die einen sterben, die anderen überleben.
Zufall, Willkür oder Bestimmung?
Der Plot erinnert ein wenig an Thornton Wilders Roman "Die Brücke von San Luis Rey", in dem eine Hängebrücke plötzlich zusammenstürzt und fünf Menschen in den Tod reißt, was ein Franziskanermönch zum Anlass nimmt, sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob der Tod dieser Menschen göttliche Fügung oder reiner Zufall war. Neumann stellt solche Fragen nicht, und doch geht es um den Glauben und was uns erschüttern kann in unseren Grundfesten.
"Fundament" zeichnet ein Bild unserer Zeit, zeigt unterschiedliche Formen der oft verzweifelten Sinnsuche. Da geht es eher um Assoziationen als um Antworten. Sehr viel Text bändigt das virtuos agierende Ensemble an diesem gut 100 Minuten dauernden Abend. "Fundament" hat der Regisseur mit seinen Schauspielern zusammen erarbeitet. Vieles ist aus der Improvisation und aus Diskussionen heraus entstanden, hat das Schreiben des Autors beeinflusst. Die Logik der Ereignisse wird von der Erzählstruktur bestimmt, einer Mischung aus detailgenauer Erzählung, Monologen und Dialogen. Die Schauspieler erzählen, schlüpfen dann flugs in eine Rolle und switchen wieder zurück – mal sind sie Hauptfiguren in ihrer eigenen Episode, mal Nebenfiguren in den anderen. Die quecksilbrige Struktur verhindert jegliches Pathos: Niemand muss auf der Bühne sterben, man darf aufrecht stehen, während vom Tod erzählt wird.
Mühsame Glaubenssuche heute
Neumanns Theater ist unterhaltsam und überraschend. Gelegentlich verhakelt es sich ein wenig in humoristischer Comedy, befreit sich aber immer wieder erfolgreich und findet zu berührenden Szenen, die die Irrungen und Wirrungen des Ichs spürbar machen. Das mit viel schwarzem Isolierband und Papier arbeitende Bühnenbild von Thomas Goerge kokettiert mit einem gewissen Dilettantismus und weiß doch mit den Möglichkeiten des Theaters zu beeindrucken: Die Drehbühne des Depots gehört an diesem Abend nicht den Schauspielern, sondern dem Publikum. Es sitzt auf Kissen und Teppichen, derweil die vier Seiten mit weißen Vorhängen verhüllt sind, die sich abwechselnd öffnen und schließen.
Zwischen den Episoden dreht sich die Bühne, und mit ihr das Publikum. Ein starker Effekt – vor allem im Finale: Da öffnen sich die drei schmalen Seitenflächen und der eigentliche Zuschauerraum erstmals gleichzeitig, und von allen Seiten strömt es auf das Publikum ein: Ein Mann liest aus der Bibel vor, ein Attentäter schreibt das Nietzsche-Zitat "Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit" an die Wand, man erblickt eine marienhafte Erscheinung aus dem Totenreich und eine blutüberströmte Frau, grelles Licht blendet, Rauch dringt in den Raum, und Plastik-Asche schneit nieder. Dazu Passionsmusik von Bach. Da spätestens ist die Erschütterung des Fundaments auch in die Gefühlswelt der Zuschauer übergegangen.
Rezension für www.nachtkritik.de
eduarda - 27. Nov, 10:28
Porträtkonzert zum 85. Geburtstag des Komponisten Milko Kelemen in der Stadtkirche Bad Cannstatt
Stuttgart - Der kroatische, heute in Stuttgart lebende Komponist Milko Kelemen antwortete kürzlich in einem Interview auf die Frage, woran man ein gutes Musikstück erkenne: „an der Liebe.“ Im Porträtkonzert anlässlich seines 85. Geburtstags, das Jörg-Hannes Hahn im Rahmen der Konzertreihe „Musik am 13.“ in der Stadtkirche Bad Cannstatt leitete, dürfte sich Kelemen auf Interpretenseite vieler Brüder und Schwestern im Geiste sicher sein. Vor allem der Geiger Joachim Schall, der sich an diesem Abend Kelemens fantasieartiges Violinsolostück „Incanto“ von 2004 vorgenommen hatte, ist ein Musiker, der stets mit sehr viel Liebe an neue Werke herangeht. Dank seiner profunden Beherrschung seines Instruments und seines schönen, warmen Tones glückten ihm die schnellen, sprudelnden Läufe genauso delikat wie die frei sprechenden Tonfälle oder die in ihrer Faktur oft an Bachs mehrstimmige Violinsolowerke erinnernden Passagen. Selbst Geräuschhaftes, das Kelemen mit Vorliebe in seine Stücke integriert, klingt bei Schall so, als verzehre er gerade eine schmackhafte Speise.
Von „komplizierter Einfachheit“ spricht Kelemen, wenn er erklären möchte, warum er sich schon früh von der Dodekaphonie und dem Serialismus abgewandt hat, um seinen eigenen Weg zu gehen und dem Intellekt wieder das Gefühl zur Seite zu stellen. Neuartige Gestaltung könne auch ohne komplizierte Kompositionstechniken erreicht werden: mit musikalischen Archetypen, die fest im kollektiven Unbewussten verankert seien, so Kelemen frei nach C.G. Jung.
Vielleicht gab das „Inferno di Dante. Canto III“ für Mezzosopran und Gong von 2003 diese Ästhetik am besten wieder: Christoph Haas entlockte dem Gong schillernd-farbige Klänge, die sich langsam ins Infernalische steigerten. Spätestens da setzte das Zwiegespräch zwischen dem Gong und dem aufwühlenden Sprechen und Singen der Vokalistin Stephanie Haas wahrhaft archaische Gefühle frei.
In dem Stück „Daniel“ für Doppelchor a cappella, das an diesem Abend uraufgeführt wurde, nahm Kelemen Auszüge aus dem biblischen Buch Daniel und dem 130. Psalm („De profundis clamavi“), splittete den Text in kleine Teile und ließ ihn eine detaillierte vokale Bearbeitung durchlaufen. Der Chor Cantus Stuttgart unter Leitung von Jörg-Hannes Hahn konnte jetzt beweisen, dass er sich zu einem Spezialisten für Neue Musik entwickelt hat. Denn das Stück verlangt neben dem traditionellen chorischen und solistischen Einsatz der Stimmen die unterschiedlichsten Artikulationsarten wie Sprechen, Flüstern, Schreien, lautes Atmen, Glissandi und das Singen in Vierteltönen.
Zu Beginn hatte Jörg-Hannes Hahn an der Orgel Kelemens anarchisch humoristisches „Fabliau“ von 1972 zum Besten gegeben: Fröhlich, bunt und glitzernd sprudeln hier die Läufe, werden kontrastiert mit deftigen, oft brüllenden Clustern. Und immer wieder dringt die Stimme des Organisten aus den Lautsprechern, der sein eigenes Spiel mit einem Lachen oder Schnaufen bedenkt und es zuweilen sogar niederbrüllt.
Veröffentlicht in der Eßlinger Zeitung vom 16.11.2009 sowie bei der nmz online
eduarda - 16. Nov, 10:14
Das English Chamber Orchestra und Isabelle Faust im Stuttgarter Beethovensaal
Stuttgart - Man merkt der Geigerin Isabelle Faust an, dass sie eine erfahrene Streichquartett-Spielerin ist. Sehr genau hört sie in die Orchesterfarben hinein und tönt das Timbre ihres Instruments dem Augenblick entsprechend fein ab. Im Zusammenspiel mit dem English Chamber Orchestra, mit dem sie in der Reihe Konzertanter Querschnitt in Stuttgarter Beethovensaal zu hören war, gelangen ihr besonders im Adagio des Violinkonzerts in A-Dur von Mozart wahrhaft poetische Momente, als sie ihre Geigenstimme ganz bewusst mit den Bläserfarben verschmelzen ließ. Die 1972 in Esslingen geborene Künstlerin besitzt auch im leisesten Bereich einen intensiven, glasklaren und doch warmen Ton, der Mozarts ausdrucksvolle Melodik ideal zur Geltung brachte. Fausts elfenhaftes, spritziges Spiel in den schnellen Sätzen verband sich formidabel mit dem transparent und innig artikulierenden Orchester. Einen so luftigen, lichten und dennoch emotional durchgearbeiteten Mozart, wie er dann auch im Rondo für Violine und Orchester KV 373 aufschien, hört man selten.
Das Londoner Orchester spielte nicht mit einem Dirigenten, sondern unter der Leitung seiner jungen Konzertmeisterin Stephanie Gonley. Man schien sich bestens zu verstehen, artikulierte sehr genau und fand nicht nur in der klein besetzten Streichersonate G-Dur von Gioacchino Rossini, sondern vor allem auch in Haydns 44. Sinfonie, der sogenannten Trauersinfonie, zu einem inspirierten, beseelten Miteinander. Letztere brachte man dynamisch fein abgestuft, sehr transparent, mit lebendig geformter Phrasierung zu Gehör. Das Allegro con brio strotzte nur so vor Energie, das Menuett dagegen setzte rationale und lichte Kontraste, statt in Tränen und Seufzern zu versinken.
Die lyrische Con-sordino-Melodik des Adagio glückte sehr farbig, und im Finale schließlich, einem Meisterstück an kontrapunktischer Feinarbeit, kamen Stimmen und Gegenstimmen genauso plastisch zur Geltung wie der unerbittlich vorwärtstreibende Gestus zu seinem Recht. Ein brillanter Schlusspunkt, den das Publikum im sehr gut besuchten Beethovensaal mit warmem Applaus honorierte.
Veröffentlicht in der Eßlinger Zeitung vom 10.11.2009
eduarda - 10. Nov, 09:58
Gidon Kremer, die Kremerata Baltica und die Musikkomödianten Igudesman & Joo im Stuttgarter Theaterhaus
Stuttgart - Reines Entertainment sei ihm fremd, erklärte der lettische Geiger Gidon Kremer kürzlich in einem Interview. Umso erstaunlicher ist es, dass der sonst so ernste Künstler, der sich mit Leidenschaft auch der Neuen Musik widmet, neuerdings in musikkabarettistischen Programmen zu sehen ist. Derzeit sind er und das 1997 von ihm gegründete Kammerorchester Kremerata Baltica auf Tournee mit dem kultigen Musikkomödiantenpaar Aleksey Igudesman und Richard Hyung-Ki Joo. Station machten sie jetzt auch im voll besetzten Stuttgarter Theaterhaus. Unter dem Motto „Being Gidon Kremer. The rise and fall of the classical musician“ bot der Abend ein buntes Spaßprogramm rund um die Klassik-Szene. Im Visier: ihre Crossovertrips und ihre Kommerzialisierung.
„Mein Name ist Kremer. Gidon Kremer“, stellte sich ebendieser in Bond-Manier vor. Seine Mission sei es, für das Überleben der gefährdeten Klassischen Musik einzustehen.
Für die deftigen Gags über die Absurditäten der Klassik-Branche waren Igudesman und Joo zuständig. Beide beherrschen nicht nur ihre Instrumente, sondern auch den anarchischen Humor: „Lächle immer schön und spiele das, was jeder kennt. Dann klappt es schon mit der Karriere.“ Wenn sie sich als Bach und Vivaldi in Kung-Fu-Manier raufen, die Geige zum Schnarchen bringen oder beim Tangospiel den Körper verknoten, sind das eher platte Schenkelklopfer. Daneben brillieren sie aber immer wieder mit virtuos-witzigen Nummern - etwa wenn der Geiger Igudesman den verzweifelten Kremer mimt, der im Studio seiner Plattenfirma Bachs Violinsonaten einspielen will, sich der Marketing-Tipps des Produktmanagers aber nicht erwehren kann: Die absurdesten Tempi werden ihm vorgeschrieben, die seltsamsten Effekte. Weil doch Bach total antik sei, wird ein „antikes“ Plattenrauschen eingespielt: „Jetzt klingst du wie Fritz Kreisler!“ Und am Ende ziert die CD die Aufschrift „Erotic Solos“ und das Foto einer nackten Frau.
Neben den extrovertierten lauten Komikern wirkte Gidon Kremer ein wenig scheu und verloren auf der Bühne, fast zerbrechlich seine Kunst - seine zarten Paganiniaden genauso wie seine geistreiche Paraphrase über Beethovens Violinkonzert. Vor allem, nachdem Joo am Klavier Rachmaninows berühmteste „schöne Stelle“ aus dem 2. Klavierkonzert durch lautes Mitheulen massakriert hatte. Da grölte das Publikum vor Lachen, und Kremers Mission schien gescheitert.
Überzeugend war der Abend deshalb vor allem, als man fernab aller Albernheiten dennoch mit Witz miteinander musizierte: in den Variationen über eine berühmte Handy-Melodie im Stile Mozarts, Brahms' oder Schönbergs etwa oder in einem furiosen Zapp-Konzert, in dem Kremer und die Kremerata der „Fernbedienung“ der Komiker folgten und virtuos zwischen berühmten Violinkonzerten hin- und herswitchten. Oder wenn sich aus barocken Strukturen langsam irische Volksmusik herausschälte und man gemeinsam zu Riverdancern mutierte. Launig auch die Duette, in denen Gounods Bach-„Ave Maria“ mit Astor Piazollas „Libertango“ oder ein Mozart- mit dem James-Bond-Thema verschmolz.
Ob sich mit solchen Programmen ein Publikum für die klassische Musik gewinnen lässt, darf bezweifelt werden. Denn dieses amüsierte sich ja gerade über die Zertrümmerung der hehren Sphäre. Vielleicht will sich Kremer auch einfach nur den heilsamen Aspekt des Lachens zunutze machen, mit dessen Hilfe sich nach Freud das Ich lustvoll über die missliche Realität hinwegsetzen kann - auch über die Gefahr, dass eines Tages ernsthafte Musiker wie Kremer nicht mehr gefragt sein könnten.
Veröffentlicht in der Eßlinger Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten vom 04.11.2009
eduarda - 4. Nov, 09:56
Tonhalle-Orchester Zürich mit David Zinman und Radu Lupu im Stuttgarter Beethovensaal
Radu Lupu
Stuttgart - Ein bisschen sah Radu Lupu so aus, als wäre er gerade eingeschlafen. Während sich das Tonhalle-Orchester Zürich in der Leitung seines Chefdirigenten David Zinman am Beginn des dritten Klavierkonzerts in c-Moll von Beethoven abarbeitete, saß der Pianist mit verschränkten Armen und geschlossenen Augen entspannt nach hinten gelehnt auf einem Stuhl vor dem Steinway. Nichts deutete darauf hin, dass er gleich in das Geschehen eingreifen würde. Warum auch? Zinman nahm die Tempoanweisung „Allegro con brio“ ziemlich locker, nämlich recht träge. Und so geriet der erste Einsatz Lupus eher zu einem Schumannschen „Der Dichter spricht“ als zu jenem leicht aggressiven Auftrumpfen, mit dem Beethoven den Solisten erstmals in der Geschichte der Gattung zum heroischen Individuum kürte. Im Meisterkonzert im voll besetzten Stuttgarter Beethovensaal war von Pathos und Dramatik nichts zu spüren. Lupu und Zinman gingen stattdessen gemeinsam auf die Suche nach impressionistischen Farben. Wer das Tempo bestimmte, blieb allerdings unklar. War es Lupus introvertierte, durchaus reizvolle Art der improvisatorisch-freien Tempogestaltung, die den Ton angab und es ihm - dem großen Lyriker unter den Virtuosen - ermöglichte, dem Flügel die herrlichsten und feinsten Farben zu entlocken? Oder war es Zinmans Idee, aus dem Konzert einen ausgeglichenen, verträumten Dialog zwischen Orchester und Solist zu machen? Mit viel Sinn für augenblickliche Inspiration brachte Lupu das Largo zum Singen und Klingen, aber bremste selbst im finalen Rondo das Orchester immer wieder aus. Das alles klang schön, aber spannungslos und hatte mit Beethoven so gut wie nichts zu tun.
Dass Zinman an diesem Abend offenbar der Mut zur Vision fehlte, schlug sich auch im übrigen Programm nieder. In Schumanns vierter Sinfonie blieb man gestalterisch an der Oberfläche, arbeitete lediglich mit dynamischen Unterschieden, die sich aber selten zum wirklichen Kontrast formierten. Obwohl die Streicher mit sehr zurückhaltendem Vibrato spielten, wirkte das Klangbild insgesamt nicht transparent. Atemlose Phrasierung ersetzte den großen Bogen, die Orchesterfarben blieben stumpf. Von der für Schumann typischen Paarung von Poesie und äußerster innerer Gespanntheit wurde nichts hörbar.
Mit „Till Eulenspiegels lustigen Streichen“ von Richard Strauss hatte man den Abend zwar humoristisch begonnen, aber dem musikalischen Witz keine Chance gegeben. Lediglich in einigen Bläsersoli dürfte der legendäre Schelm mal die lange Nase machen. Und zu wenig plastisch artikulierte das Orchester die tonmalerische, effektvolle Klangsprache Strauss' samt ihren virtuosen Stimmungswechseln. Das Publikum feierte die Gäste am Ende dennoch mit herzlichem Applaus.
Veröffentlicht in der Eßlinger Zeitung vom 31.10.2009
eduarda - 31. Okt, 09:52
Patricia Kopatchinskaja und das Russische Staatliche Sinfonieorchester in der Liederhalle
Stuttgart - Mit der erhabenen, reinen Klangwelt der Hahns und Mutters hat sie wenig gemein: Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja blieb auch in ihrem jüngsten Auftritt in der Stuttgarter Liederhalle ihrem kompromisslosen Motto, Kunst sei nicht da, um schön zu sein, treu. Ihre Sicht auf die Dinge harmoniert nicht mit jedem Komponisten. Sergeij Prokofjew aber kommt sie zugute. Barfüßig wie immer, mit verwuschelten Haaren und mit robustem Körpereinsatz verpasste Kopatchinskaja Prokofjews zweitem Violinkonzert eine ungewöhnlich krasse, moderne Klanglichkeit. Zusammen mit dem exzellenten Russischen Staatlichen Sinfonieorchester Moskau unter der Leitung seines Chefdirigenten Valerij Poljanskij gab sich die 32-Jährige nicht mit traditionellen Einheits-Konzerttonfällen ab. Ihr Zugriff ist subtiler, entlockt den durch Bogendruck zuweilen arg überspannten Saiten stets überraschende Charaktere: Da tapst es schwerfällig, da jault es, schleicht auf samtigen Pfoten oder kichert rumpelstilzchenhaft.
Besonders extravagant gelang der langsame Mittelsatz, den sie nicht mit schmerzlich-lyrischem Gestus spielte, sondern eigenartig fahl und beklemmend, während das Orchester hart und knöchern begleitete - ein enorm wirkungsvoller Kontrast. Valerij Poljanskij bügelte auch in den Orchesterstücken des Abends nichts glatt. Tschaikowskys Fantasie-Ouvertüre „Hamlet“ prägte ein eher massiges als transparentes Klangbild. Die unruhige, explosive Dramatik erhielt ihre Erdung durch deutlich gegeneinander abgesetzte Streicher- und Bläserfarben. Die grandiose Bläserfraktion bezauberte solistisch genauso wie im Chorus durch einen plastischen, saftigen Sound.
In acht ausgewählten Sätzen aus Prokofjews „Romeo und Julia“-Suiten hatte Poljanskij stets den tödlichen Ausgang des Dramas vor Augen, betonte die unerbittliche rhythmische Motorik. Ein eher statischer, dunkler Klang mit fahlen und grellen Farben verkündete Unheil. Euphorisch erblühten nur die Liebesthemen. Satirisch doppelbödig erklang „Julia als Mädchen“, bleich wie eine Danse macabre der „Tanz der antillischen Mädchen“.
Und im finalen „Tybalds Tod“ hörte man dank einer extrem trockenen, schroffen Artikulation eine ganze Armee von Sensenmännern aufmarschieren. Das Publikum im gut besuchten Beethovensaal war schockiert, dann hellauf begeistert.
Veröffentlicht in der Eßlinger Zeitung vom 26.10.2009
eduarda - 26. Okt, 09:48
Meisterliches im Meisterkonzert: Das Bayerische Staatsorchester unter Kent Nagano gastierte in der Stuttgarter Liederhalle
Er träume von einer Welt, in der jeder Mensch die Möglichkeit habe, seinen Weg zur Kunst zu finden, schrieb der Dirigent Kent Nagano einmal in der "Zeit". Kultur sei Menschenrecht und führe das Individuum aus der Herrschaft der Notwendigkeit in die Sphäre der Freiheit. Worte, die sich alle Kulturschaffenden angesichts unserer von Markt und Kapital beherrschten Gesellschaft, in der die so genannte "Hochkultur" in zunehmendem Maße zu einem nicht mehr finanzierbaren Luxus umdefiniert wird, mutig auf die Fahne schreiben sollten.
Man kann Naganos philanthropische Sicht der Dinge auch in seinem Dirigierstil erkennen: Er steht nicht herrisch vor seinem Orchester, sondern es scheint, als befinde er sich mittendrin, um die Schwingungen der einzelnen Stimmen möglichst genau aufzunehmen und durch impulsgebende Fingerzeige in die richtige energetische Richtung zu lenken.
So zeigte sich auch im ersten Meisterkonzert der Saison in der Stuttgarter Liederhalle, dass sich das Bayerische Staatsorchester mit seinem Chef – Nagano ist seit 2006 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper – bestens versteht: Max Regers epische, farbtrunkene Tondichtungen nach vier Gemälden von Arnold Böcklin erklangen in einem so plastischen, reinen, farblich saftigen Sound, dass die Bildvorlagen vor dem inneren Auge sofort in Bewegung gerieten: Deutlich sah man den Eremiten melancholisch vor sich hinfiedeln, erkannte das ausgelassene Spiel der triebhaften Wasserdämonen mit den Meeresnymphen und die finster umnebelte Toteninsel.
Selten hört man auch Schumanns "Rheinische" derart inspiriert wie an diesem Abend. Dank äußerst transparentem Klangbild bei satter Durchfärbung selbst in sehr leisen und sehr lauten Bereichen ging nicht eine Nebenstimme verloren, und das perfekte Zusammenwirken der Musizierenden brachte jene für Schumann so typische Paarung von Poesie und äußerster innerer Gespanntheit aufwühlend zutage.
Etwas fragwürdig erschien die Idee, nach der mächtigen Böcklin-Suite Mozarts zierliches G-Dur-Flötenkonzert zu bringen. Aber Paolo Taballione, Soloflötist des Orchesters, spielte das Leichtgewicht nicht wie so viele andere als virtuoses Schmankerl, sondern als hochsensibel gestalteten, überaus beseelten Gesang. Da hätte man auch noch mehr Mozart in Kauf genommen.
Veröffentlicht in den Stuttgarter Nachrichten vom 2. Oktober 2009
eduarda - 2. Okt, 13:01