Spielwütig im Paradies
Christian Weise inszeniert am Stuttgarter Staatstheater Shakespeares "Was ihr wollt" als rasante Slapstickkomödie

Stuttgart - Zehn Männer sitzen in einer Reihe auf der Bühne, splitternackt, mit traurigen Gesichtern. Spielen auf Gitarre, Melodica, Rohrblattflöte schwermütig eine traurige Weise, bis einer aufsteht, sich einen dunkelroten Morgenmantel überwirft: Es ist Orsino, Herzog von Illyrien: "Das Lied noch mal, es starb so schön dahin", entfleucht es gebieterisch seinen Lippen. Wie wahr!
Ein starkes Bild, mit dem Regisseur Christian Weise William Shakespeares Komödie "Was ihr wollt" beginnen lässt, die gestern in einer der Interimsspielstätten des Staatsschauspiels Stuttgart in der Türlenstraße, in der kleinen "Box", Premiere hatte. Stark, weil es einen denkbar großen Kontrast herstellt zur Komödie: Nackte Körper können ihr Geschlecht nicht verbergen, sind schutzlos auf sich selbst zurückgeworfen. In "Was ihr wollt" aber geht es um Sein und Schein, um Täuschung, Verwechslung, Uneindeutigkeit: Da wird sich verkleidet, versteckt, in die Falschen verliebt, in die Falle gelockt, was das Zeug hält.
Im Mittelpunkt Viola, eine Frau, die sich als Mann verkleidet hat, aus Selbstschutz, um dem Herzog dienen zu können. Christian Weise treibt die Travestie noch weiter: Er besetzt alle Rollen mit Männern, auch die weiblichen - wie es bei den Kollegen im Jahre 1602, als "Was ihr wollt" uraufgeführt wurde, gang und gäbe war. Die doppelte Travestie macht das geschlechtliche Kuddelmuddel perfekt: Viola ist ein Mann, der Mann und Frau nur spielt.
Auch der melancholische Vorspann täuscht: Ihm folgt ein rasanter Theaterabend, mit einer ungeheuer schnell getakteten Slapstick- und Pointendichte, mal grob boulevardesk, mal liebevoll im Detail. Immer mit Spielwucht und voller Überraschungen. Drei Stunden Theater ohne Längen. Selbst ins finale Lied des Narren "Und als ich ein winzig Bübchen war" wird noch eine Pointe hineingehauen: Dienstmagd Maria läuft mit dem Junker Rülps auf dem Arm durchs Bild, der ein Brautsträußchen ins Publikum wirft, während beide hysterisch vor sich hingiggeln.
Gespielt wird auf einer minimalistisch schwarzen, rechteckigen Fläche, die im Hintergrund durch Projektionen auf die Schiebewände erweitert wird: Julia Oschatz hat Gemälde von Botticelli und Cranach wirkungsvoll videoanimiert. Ständig wird das Geschehen ironisch kommentiert: In Cranachs Paradies segeln träumerisch Blätter hernieder, wenn Gräfin Olivia ihren Trauerschleier hebt, um dem geliebten Cesario alias Viola ihr schönes Gesicht zu präsentieren, später fliegt Amor durchs Bild und schießt seine Pfeilchen, und am Ende sind die Protagonisten selbst Teil des Paradieses, wo sie nackend Ringelreihen tanzen und Liebe machen. Jens Dohle am Synthezizer und E-Piano und als Geräuschemacher sorgt für witzige musikalische Pointen und die Begleitung der Lieder.
Durch die erweiterte Travestie zentriert Weise Shakespeares Liebeskummerkomödie auf die Komik und ihre spielsüchtige Seite. Man sieht den Darstellern an, dass sie sich mit Haut und Haar der Sache verschrieben haben. Grandios Martin Leutgeb in einer Doppelrolle: als Orsino schwermütig, schwerfällig, männlich, und als Olivias Dienstmädchen Maria eine schlaue Schlampe mit verrutschter Perücke, füllig, aber behände, haarig, aber herzig. Zum Totlachen, wie Leutgeb Maria eine gewisse elefantöse Zierlichkeit verleiht, sie zwischen mädchenhafter Koketterie und verdorbenem Draufgängerinnentum lavieren lässt.
Selbst an der Klappe der Hausbar scheitert Johannes Benneckes prollig-berlinernder, notgeiler, durch ständige Alkoholzufuhr schwer koordinationsgestörter Junker Rülps, der während seiner grotesken Stolperpirouetten auch mal kurz auf die Bühne kotzt. Cornelius Schwalm als dümmlicher, schlaksiger, ständig hysterische Lachsalven herausdonnernder Junker Bleichenwang tanzt herrlich zappelnd-virtuose Luftsprünge, Sebastián Arranz' bartschattige, aber zierliche und wunderschöne reiche Gräfin Olivia betört durch Eleganz, kokette Augenaufschläge und spanisch-melancholische Gesänge in schwarzem Flamencokleid.
Boris Koneczny spielt den Narren als einen Überlebenskämpfer am Abgrund, gelegentlich weltweise, aber meistens grob, depressiv oder gar gewalttätig. Einer, bei dem man nie genau weiß, woran man ist. Und dem Mobbingopfer Malvolio verpasst Michael Stiller schmierigen Berlusconi-Charme. Ihm gelingt an diesem Abend wohl die subtilste Komik bei gleichzeitiger Nähe zur Tragik: Am Ende ist das Mitleid auf seiner Seite.
Die große Qualität von Weises Inszenierung ist, dass sie ihr Tempo bis zum Schluss hält. Sie steigert sich nach der Pause durch virtuos-knochenbrecherische Fecht- und Prügelszenen, bei denen auch ganze Bretter auf Köpfen zertrümmert werden – sehr akrobatisch hier Toni Jessen als Violas Zwillingsbruder Sebastian.
Für die reflektierenden Augenblicke sorgt im Karussell der Liebeswirren vor allem Lukas Rüppel als Viola: Sein doppeltes Spiel, das auch eigene Verwirrung und innere Zerrissenheit zur Folge hat, die in einer mitreißenden Interpretation des Prince-Songs "Purple rain" Entladung finden, geht unter die Haut. Und in seiner finalen Rückverwandlung in eine Frau – flugs entkleidet er sich und klemmt sein Gemächt zwischen die Beine –, in dieser krassen Entblößung zeigt sich plötzlich die ganze Zerbrechlichkeit, Gefährdung und Einsamkeit des Menschen – ein erschütternder, zutiefst beklemmender Augenblick inmitten des Klamauks.
Rezension für www.nachtkritik.de. Die Premiere fand statt am 23.11.2010.

Stuttgart - Zehn Männer sitzen in einer Reihe auf der Bühne, splitternackt, mit traurigen Gesichtern. Spielen auf Gitarre, Melodica, Rohrblattflöte schwermütig eine traurige Weise, bis einer aufsteht, sich einen dunkelroten Morgenmantel überwirft: Es ist Orsino, Herzog von Illyrien: "Das Lied noch mal, es starb so schön dahin", entfleucht es gebieterisch seinen Lippen. Wie wahr!
Ein starkes Bild, mit dem Regisseur Christian Weise William Shakespeares Komödie "Was ihr wollt" beginnen lässt, die gestern in einer der Interimsspielstätten des Staatsschauspiels Stuttgart in der Türlenstraße, in der kleinen "Box", Premiere hatte. Stark, weil es einen denkbar großen Kontrast herstellt zur Komödie: Nackte Körper können ihr Geschlecht nicht verbergen, sind schutzlos auf sich selbst zurückgeworfen. In "Was ihr wollt" aber geht es um Sein und Schein, um Täuschung, Verwechslung, Uneindeutigkeit: Da wird sich verkleidet, versteckt, in die Falschen verliebt, in die Falle gelockt, was das Zeug hält.
Im Mittelpunkt Viola, eine Frau, die sich als Mann verkleidet hat, aus Selbstschutz, um dem Herzog dienen zu können. Christian Weise treibt die Travestie noch weiter: Er besetzt alle Rollen mit Männern, auch die weiblichen - wie es bei den Kollegen im Jahre 1602, als "Was ihr wollt" uraufgeführt wurde, gang und gäbe war. Die doppelte Travestie macht das geschlechtliche Kuddelmuddel perfekt: Viola ist ein Mann, der Mann und Frau nur spielt.
Auch der melancholische Vorspann täuscht: Ihm folgt ein rasanter Theaterabend, mit einer ungeheuer schnell getakteten Slapstick- und Pointendichte, mal grob boulevardesk, mal liebevoll im Detail. Immer mit Spielwucht und voller Überraschungen. Drei Stunden Theater ohne Längen. Selbst ins finale Lied des Narren "Und als ich ein winzig Bübchen war" wird noch eine Pointe hineingehauen: Dienstmagd Maria läuft mit dem Junker Rülps auf dem Arm durchs Bild, der ein Brautsträußchen ins Publikum wirft, während beide hysterisch vor sich hingiggeln.
Gespielt wird auf einer minimalistisch schwarzen, rechteckigen Fläche, die im Hintergrund durch Projektionen auf die Schiebewände erweitert wird: Julia Oschatz hat Gemälde von Botticelli und Cranach wirkungsvoll videoanimiert. Ständig wird das Geschehen ironisch kommentiert: In Cranachs Paradies segeln träumerisch Blätter hernieder, wenn Gräfin Olivia ihren Trauerschleier hebt, um dem geliebten Cesario alias Viola ihr schönes Gesicht zu präsentieren, später fliegt Amor durchs Bild und schießt seine Pfeilchen, und am Ende sind die Protagonisten selbst Teil des Paradieses, wo sie nackend Ringelreihen tanzen und Liebe machen. Jens Dohle am Synthezizer und E-Piano und als Geräuschemacher sorgt für witzige musikalische Pointen und die Begleitung der Lieder.
Durch die erweiterte Travestie zentriert Weise Shakespeares Liebeskummerkomödie auf die Komik und ihre spielsüchtige Seite. Man sieht den Darstellern an, dass sie sich mit Haut und Haar der Sache verschrieben haben. Grandios Martin Leutgeb in einer Doppelrolle: als Orsino schwermütig, schwerfällig, männlich, und als Olivias Dienstmädchen Maria eine schlaue Schlampe mit verrutschter Perücke, füllig, aber behände, haarig, aber herzig. Zum Totlachen, wie Leutgeb Maria eine gewisse elefantöse Zierlichkeit verleiht, sie zwischen mädchenhafter Koketterie und verdorbenem Draufgängerinnentum lavieren lässt.
Selbst an der Klappe der Hausbar scheitert Johannes Benneckes prollig-berlinernder, notgeiler, durch ständige Alkoholzufuhr schwer koordinationsgestörter Junker Rülps, der während seiner grotesken Stolperpirouetten auch mal kurz auf die Bühne kotzt. Cornelius Schwalm als dümmlicher, schlaksiger, ständig hysterische Lachsalven herausdonnernder Junker Bleichenwang tanzt herrlich zappelnd-virtuose Luftsprünge, Sebastián Arranz' bartschattige, aber zierliche und wunderschöne reiche Gräfin Olivia betört durch Eleganz, kokette Augenaufschläge und spanisch-melancholische Gesänge in schwarzem Flamencokleid.
Boris Koneczny spielt den Narren als einen Überlebenskämpfer am Abgrund, gelegentlich weltweise, aber meistens grob, depressiv oder gar gewalttätig. Einer, bei dem man nie genau weiß, woran man ist. Und dem Mobbingopfer Malvolio verpasst Michael Stiller schmierigen Berlusconi-Charme. Ihm gelingt an diesem Abend wohl die subtilste Komik bei gleichzeitiger Nähe zur Tragik: Am Ende ist das Mitleid auf seiner Seite.
Die große Qualität von Weises Inszenierung ist, dass sie ihr Tempo bis zum Schluss hält. Sie steigert sich nach der Pause durch virtuos-knochenbrecherische Fecht- und Prügelszenen, bei denen auch ganze Bretter auf Köpfen zertrümmert werden – sehr akrobatisch hier Toni Jessen als Violas Zwillingsbruder Sebastian.
Für die reflektierenden Augenblicke sorgt im Karussell der Liebeswirren vor allem Lukas Rüppel als Viola: Sein doppeltes Spiel, das auch eigene Verwirrung und innere Zerrissenheit zur Folge hat, die in einer mitreißenden Interpretation des Prince-Songs "Purple rain" Entladung finden, geht unter die Haut. Und in seiner finalen Rückverwandlung in eine Frau – flugs entkleidet er sich und klemmt sein Gemächt zwischen die Beine –, in dieser krassen Entblößung zeigt sich plötzlich die ganze Zerbrechlichkeit, Gefährdung und Einsamkeit des Menschen – ein erschütternder, zutiefst beklemmender Augenblick inmitten des Klamauks.
Rezension für www.nachtkritik.de. Die Premiere fand statt am 23.11.2010.
eduarda - 25. Nov, 17:19
Gelungen, etwas derb