Montag, 15. November 2010

Belebende Wut

"The Rage of Life" als deutsche Erstaufführung an der Jungen Oper Stuttgart

Aufbegehren gegen eine beängstigende Wirklichkeit. Tobias Hächler als Leif in „The Rage of Life“. Foto: Sigmund

Stuttgart – Es gibt kein richtiges Leben im falschen, lautet die berühmte Adorno-Weisheit: Es kann für den einzelnen Menschen kein moralisch integres Leben geben, solange nicht auch die Gesellschaft verantwortungsbewusst und im Interesse menschlicher Bedürfnisse handelt. Gelindert werden kann dieses Dilemma nur, wenn man sich das Empfinden für das moralisch Richtige von den Mitmenschen nicht rauben lässt. Solcherlei Fragen, die etwa den Sinn von Kriegen oder die Zerstörung ökologischer Lebensgrundlagen betreffen, sind gerade für Jugendliche existentiell. Weil sie sich noch nicht mit denn gesellschaftlichen Defiziten arrangiert haben, weil sie Amoral verständnislos gegenüberstehen, weil sie auf der Suche sind. Es ist die besondere Qualität der neuesten Produktion der Jungen Oper der Staatsoper Stuttgart, die am Freitag im Kammertheater ihre umjubelte Premiere feierte, dass sie sich genau diesen existentiellen Themen widmet. Es geht um das Aufbegehren gegen eine als beängstigend empfundene Wirklichkeit.

"The Rage of Life" (Lebenswut), ein Musiktheaterstück für Jugendliche ab 14 Jahren mit Musik von Elena Kats-Chernin auf ein Libretto von Igor Bauersima (englischsprachig mit deutschen Übertiteln), erzählt die Geschichte des 18-jährigen Leif, dessen Freundin Helena spurlos verschwunden ist. Leif liebt Helena wegen ihres Mutes, ihres Wissens- und Wahrheitsdurstes. Seine Eltern haben es sich längst im falschen Leben gemütlich gemacht. Ihre Behauptung, Elena sei tot, glaubt Leif nicht. Elena sei geflohen vor der Lüge, sagt Leif und ist verzweifelt. "Was ist das, richtiges Leben? Was ist Wahrheit?" fragt er die Mutter. Die antwortet verständnislos: "Bist du in einer Sekte?"

Leif sucht Helena und findet sie schließlich in einem heruntergekommenen Industrieareal. Sie sei auf der Flucht vor Verfolgern, die sie töten wollen, sagt sie, weil sie Beweisstücke für korrupte politische Machenschaften in ihrem Besitz habe. Ist's Traum, ist's Wirklichkeit? Leif landet in einer Psychiatrie, der er entfliehen kann – auch wenn der Staat seine Bürger durch Chips im Personalausweis überwachungstechnisch fest im Griff hat. Auf der Flucht vor der Polizei, herumirrend im Dickicht der Großstadt, findet er gemeinsam mit Helena den einzigen Ausweg aus dem Überwachungsstaat: Einen Schacht, in den man hineinspringen muss, ohne zu wissen, wohin er führt. Leif und Helena springen.

"The Rage of Life", das die Junge Oper in Kooperation mit der Flämischen Oper Antwerpen und Gent in Auftrag gegeben hat, wo das Werk im Mai 2010 uraufgeführt wurde, bietet einen bis zur letzten Sekunde spannenden Theaterabend. Das liegt am formidablen achtköpfigen Ensemble, allen voran die beiden Hauptdarsteller: Tobias Hächler als Leif stellt Lebenswut, Hilflosigkeit, Verzweifelung gleichermaßen wahrhaftig dar und erfreut durch seine geschmeidige Baritonstimme mit schöner Tiefe. Sopranistin Liesbeth Devos gelingt es mit flexibler Stimme, den komplexen Charakter Helenas glaubwürdig zu vermitteln: ihre Reife, ihre Arroganz, ihre geistige Freiheit genauso wie ihr ambivalentes, anfänglich distanziertes und erst allmählich sich annäherndes Verhalten Leif gegenüber.

Mitreißend auch die Musik: Elena Kats-Chernin hat sich bei der Komposition am amerikanischen Minimalismus und seinen melodischen und rhythmischen Patterns orientiert, über der sich die Singstimmen frei deklamierend entfalten können. Ihr Umgang mit der Tonalität ist unbefangenen. An emotionalen Hochpunkten bricht sich Musical-Schmelz Bahn und immer wieder auch der Swing. Das Kammerorchester aus Studierenden und Absolventen der Musikhochschule sorgte unter Leitung von Hans Christoph Bünger für rhythmischen Drive und feine, kontrastierende Klangfarben und Stimmungen.

Durchweg überzeugend auch die Inszenierung von Igor Bauersima (Neueinstudierung für Stuttgart: Lars Franke). Schlicht und vielseitig nutzbar Bauersimas Bühnenbild: In der Mitte eine weiße Stellwand, auf die sich allerlei projizieren lässt: Das durchgestylte Ambiente der elterlichen Wohnung, eine hässliche Industriebrache oder die sterilen Gänge einer Nervenklinik. Endlich werden Videoprojektionen (Georg Lendorff) mal nicht nur zur Illustration genutzt, sondern bewirken räumliche Weitung nach außen. Ergänzend kommt ein beweglicher Kubus zum Einsatz, der schnell in eine Schlafstelle für Obdachlose oder in Betten einer Psychiatrie verwandelt werden kann.

Und wie endet die "Lebenswut"? Mit einem ironischen Bruch und einem spektakulären Effekt: Nach ihrem Sprung in den Schacht – Suizid? – landen die Liebenden nicht auf dem Friedhof, sondern im Paradies. Mit einem Schlag klappt die Projektionswand nach vorne auf und entfaltet donnernd einen idyllischen Garten aus Blätterwerk und Blumen – wie im Klappbilderbuch. Turtelnd fallen sich die Verliebten in die Arme. Schluss-Kuss, Fine. Tosender Applaus.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 15.11.2010. Die Premiere fand statt am 12.11.

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