Samstag, 30. April 2011

Die Mixas unserer Zeit

Molières „Tartuffe“ hat in der spritzigen Inszenierung von Harald Demmer Premiere am Alten Schauspielhaus in Stuttgart

Stuttgart - Mit seiner entlarvenden Darstellung religiösen Heuchlertums, das er zum Thema seiner Komödie „Tartuffe“ gemacht hatte, löste Molière 1664 einen Riesenskandal aus. Nach zwei Umarbeitungen und der Intervention Ludwig XIV. konnte das Stück die Zensur aber passieren. Doch selbst in dieser offenbar entschärften Fassung, die als einzige die Jahrhunderte überlebt hat, dürfte das Stück noch viele Kirchenkonservative echauffiert haben - bis heute. Vermutlich, weil es an Aktualität nichts verloren hat. Die Mixas unserer Zeit sorgen schon dafür.

Unter dem Deckmantel der Kirche geht auch in unseren Tagen so manch einer unbehelligt seinen sexuellen Gelüsten und habgierigen Geschäften nach. So wie der Bettler Tartuffe eben, der sich mit frömmelndem Geschwätz beim wohlhabenden Orgon einschleimt, wie die Made im Speck in dessen Haus lebt, sich an dessen Frau heranmacht und sich sogar das gesamte Vermögen unter den Nagel reißt. Am Ende hilft nur noch die Staatsmacht, um Orgon aus der Klemme zu helfen. Ein Happy End mit doppeltem Boden.

Gut also, dass dieses Stück wieder einmal in Stuttgart zu sehen ist. Und das in einer wirklich witzigen und quirligen Inszenierung am Alten Schauspielhaus. Harald Demmer hat Regie geführt und die französische Komödie dank gut getimten Slapsticks, amüsanten Details, perfekt besetzten Rollen und einer genauen Personenführung in den rasanten Fluss bester Abendunterhaltung überführt.

Immer ist Bewegung auf der Bühne, selbst im Halbdunkel der Szenenwechsel gehen sich die Protagonisten an den Kragen oder prallen aufeinander. Dass dies auf der kleinen Bühne des Alten Schauspielhauses überhaupt möglich ist, dafür sorgt Manfred Schneiders raffinierte Raumlösung: Ein Treppenaufgang schafft zusätzliche Eingänge, im schneckenartigen Sitzrondell in der Mitte kann man sich prima verstecken oder in wilder Verfolgung drumherum jagen. Das überdimensionale, kitschig leuchtende Kreuz an den gelb ausgepolsterten Wänden und darunter das Weihwasserbecken, mit dessen Inhalt gelegentlich die erhitzten Gemüter gekühlt werden, stehen nicht nur für die Scheinheiligkeit Tartuffes und die Verblendung Orgons, der selbst durch betrügerische Machenschaften zu Geld kam und sich durch Tartuffes himmlische Nähe Gewissenserleichterung erhofft.

Molière ist da ganz zeitlos modern: Der Großteil der Familie durchschaut zwar das falsche Spiel Tartuffes - schließlich ist die Erbschaft in Gefahr. Aber im Vordergrund stehen nur die eigenen Interessen. Dass Orgons erst Fanta, dann Champagner saufende Tochter (klasse: Julia Sontag) immer mehr in Depressionen verfällt, scheint niemanden zu interessieren. Und die Zofe Dorine, köstlich aufgedreht gespielt von Lucia Peraza Rios, versucht zwar innerhalb der Familie zu vermitteln, aber das tut sie in dieser Inszenierung recht gewaltsam - etwa wenn sie Tochter Mariane mit ihrem geliebten Valère (Stefan Kiefer) versöhnen will und den beiden dabei beinahe die Finger bricht.

Erst als Orgons Ehefrau vor den Augen des Hausherrn den Betrüger in die Liebesfalle lockt (sehr akrobatisch: Natalie Forester), öffnen sich Orgon die Augen. Der wird von Andreas Klaue als kleiner, immer unter Strom stehender spießiger Choleriker gespielt. Ben Daniel Jöhnk als Tartuffe ist ein langer Lulatsch mit dem Charme eines Max Raabe - beides Charaktere unserer Zeit, wie auch die restliche Personage.

Die hat Manfred Schneider in moderne Designerklamotten gekleidet: Schwager Cléante alias Harald Pilar von Pilchau etwa tritt mit Karl-Lagerfeld-Zöpfchen, Sonnenbrille und Fächer auf und León Schröder als Sohn Damis im schicken roten Anzug und schwarzem Rüschenhemd.

Highlights der Inszenierung sind aber immer wieder ihre überraschenden Details. So sitzt der Gerichtsvollzieher, der Orgons Vermögen pfänden soll, vor seinem ersten Auftritt zunächst unauffällig im Publikum und fällt den Sitznachbarn durch sein penetrant klingelndes Handy auf die Nerven, bevor er von den Schauspielern auf der Bühne aufgefordert wird, das Ding endlich abzustellen. Im Wandschränkchen mit Devotionalien, ist auch ein Schalter versteckt, mit dem Orgon je nach Gefühlslage meditative oder bombastisch dröhnende Orgelmusik zuspielen kann. Und die Zofe Dorine hält nur mit dem Gewehrlauf zwischen den Augen mal für eine Minute die Klappe. Das durchweg temporeiche und überzeugende Ensemblespiel wurde am Ende vom Publikum mit tosendem Applaus belohnt.

Täglich außer sonntags bis 4. Juni, jeweils 20 Uhr.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 30.4.2011. Die Premiere war am 28.4.

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