Montag, 16. Januar 2012

Dienst nach Vorschrift

Radio-Sinfonieorchester Stuttgart mit dem Pianisten Fazil Say und dem Dirigenten Gerd Albrecht

Stuttgart – Dass eine solistische Zugabe das Highlight eines großen Sinfoniekonzerts werden kann, ist kurios. So war's aber im jüngsten Abo-Konzert des Stuttgarter Radio-Sinfonieorchesters (RSO) im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle. Der Pianist Fazil Say demonstrierte in Mozarts "Ah! vous dirai-je, Maman"-Variationen seine besondere Begabung im variativen und lyrischen Spiel. Mit leichtem, perlendem Anschlag, mit einfallsreicher Akzentuierung, mit Spielwitz und Innigkeit modellierte er unterschiedlichste Gesichter, die Mozarts variatives Gelegenheitswerk in eine Folge anrührender und extravaganter Charakterstücke verwandelte.

Sein eigentlicher Beitrag zum Programm, Mozarts A-Dur-Klavierkonzert KV 488, wirkte indes wie eine vom Augenblick inspirierte Stegreif-Interpretation – mit manch einem wunderbaren Klangmoment freilich, der utopische Ferne suggerierte, doch insgesamt ohne klares Konzept.

Es ist Says Personalstil geworden, sich während des Spiels zu winden, zu verdrehen, mitzusingen und die Stimme der rechten Hand, wenn es der Klavierpart zulässt, mit der linken Hand zu segnen, als sei jeder Ton, der dem Flügel entschwebt, eine süß ersehnte Offenbarung. Solcherlei Verhaltensauffälligkeiten mögen in einem Solo-Recital noch in Ordnung sein, in der Zusammenarbeit mit einem erstklassigen Orchester stört das außerordentlich. Wenn Says Körper, statt sich dem Flügel zuzuwenden, im Orchester hing, als erbitte er von der Konzertmeisterin Streicheleinheiten, wie er dem Orchester pädagogisch deutlich zu machen schien, wie es zu spielen habe, lenkte von der Musik ab, wegen der man ja eigentlich da war.

Zumal das Solokonzert eine Gattung ist, die über Jahrhunderte deshalb nichts von ihrer Faszination verloren hat, weil sie so viel mitzuteilen hat über das Verhältnis von Individuum und Kollektiv. An diesem Abend jedoch drohte das RSO Spielball des Solisten zu werden.

Der Rest des Abends fiel der völligen Bedeutungslosigkeit anheim. Gerd Albrecht, der für den erkrankten Neeme Järvi eingesprungen war, zeigte, was geschieht, wenn ein Dirigent mit seinem Orchester so gut wie nichts anzufangen weiß. Dabei war das Programm geändert und Albrechts Bedürfnissen angepasst worden. In Erwin Schulhoffs neoklassizistischer 2. Sinfonie von 1932 machte das RSO Dienst nach Vorschrift, korrekt und transparent im Klang, aber scheinbar ohne innere Beteiligung. Das Finale geriet gar so spannungslos, dass das Publikum am Ende irritiert reagierte, weil es nicht so recht wusste, ob das jetzt der Schlusspunkt oder nur eine Binnenpause war.

Und was hatte Albrecht dem RSO bloß in den Proben zu Smetanas sinfonischen Dichtungen aus dem Zyklus "Mein Vaterland", die er als ehemaliger Chef der Tschechischen Philharmonie wohl unzählige Male zur Aufführung gebracht hat, befohlen? Dass sie sich bitte mit den Klangfarben zurückhalten, dass sie den Anfang der "Moldau" ganz besonders laut spielen und insgesamt ordentlich viel Pathos aufschäumen lassen sollen? Die "Moldau" geriet so zu einem draufgängerischen Beitrag zu einem "Best of Smetana"-Potpourri, und nicht zu einem geheimnisvoll schillernden Fluss. Es ist die Aufgabe des Dirigenten, das Kleine ins Große zu integrieren, Zusammenhang herzustellen, die besonderen Qualitäten eines Klangkörpers auszureizen. Das ist Albrecht an diesem Abend deutlich misslungen.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 14./15. Januar 2012. Das Konzert fand statt am 12.1.

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