Heiliger Geist in Kontrasten
Sylvain Cambreling und das Stuttgarter Staatsorchester kreuzen Sakrales von Haydn, Messiaen und Mosebach
Stuttgart - Eignet sich Musik Joseph Haydns als Objekt moderner Raumklang-Experimente? Der Stuttgarter Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling bejahte dies, knöpfte sich 2005 Haydns „Sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuz“ vor und bearbeitete das Orchesterwerk für vier im Raum verteilte Streichseptette und ein Solocello. Haydns Meditationen erfahren dadurch eine enorme klangliche Weitung, wie man im Matineekonzert des Stuttgarter Staatsorchesters unter Leitung Cambrelings am Sonntag miterleben konnte. So positionierten sich zwei der Septette links und rechts auf der Bühne des Beethovensaals, die anderen zwei im Zuschauersaal, während das Solocello in der Mitte des Saales thronte.
Aber damit nicht genug. Vorne, in der Mitte der Bühne, saßen dicht gedrängt die Schlagwerker und Bläser. Denn Haydns sieben Adagio-, Largo- und Grave-Sätze erklangen nicht am Stück, sondern im Wechsel mit den fünf Sätzen der Bläser- und Schlagzeugsinfonie „Et exspecto resurrectionem mortuorum“ (Und ich erwarte die Auferstehung der Toten), die Olivier Messiaen 1964 den Opfern des Ersten und Zweiten Weltkriegs widmete. Hier sämiger, beweglicher Streicherklang, dort Monolithe aus Bläsern und Ewigkeitsglockendonner. Hier Cambreling frontal, dort mit dem Rücken zum Publikum. Hier meditatives Fließen, melodisches Seufzen und Klagen, dort grell-dissonante, blockhafte, statische Klanglichkeit. Mehr Kontrast geht nicht.
Allein um die gewohnte Konzertsituation einmal aufzubrechen, lohnen sich solche Experimente. Zumal Cambreling Haydns „Sieben letzten Worten“ feinste Verfremdungen angedeihen ließ, die so manche Ohren spitzer machen. Denn den Streichersatz würzen Spieltechniken wie Bogenklopfen, Nah-am-Steg-Spielen, Flageolett. Die Musik gerät ins Beben und Pulsieren. Obertöne pfeifen leise, Klänge bleiben länger liegen, immer wieder schält sich eindrücklich das Solo-Cello (Francis Gouton) aus dem Stimmgeflecht, oder es werden seltsam blubbernde elektronische Töne hörbar. Aber all das geschieht sanft, geheimnisvoll, mystisch - auch wenn es bei der Aufführung in der Koordination der vier Streichergruppen oft kleckerte. Einsätze kamen leicht zeitverschoben. Auf Tuchfühlung im Podium oder Graben funktioniert die musikalische Schwarmintelligenz eben besser.
Keine Probleme hatten Bläser und Schlagwerker in Messiaens Auferstehungshymnus, der durch die Ausdehnung in extrem hohe und tiefe Bläserregister per se von kathedralenhafter räumlicher Wirkung ist. Das ist für den religiösen Offenbarungston dieses strengen und schmucklosen Opus fast zwingend.
Intellektuelle Erdung erfuhr Cambrelings Experiment durch eine weitere Zutat: Zwischen den Sätze lasen die Staatsschauspieler Svenja Liesau und Peter Kurth sachlich und lebendig Martin Mosebachs „Das Tuch“, in dem der Schriftsteller forschend in die Tiefenstruktur des Turiner Grabtuchs eindringt - jener Reliquie, die als Abdruck des Leichnams Christi verehrt wird. Mosebach sucht in den Brandflecken und Körperflüssigkeiten dieses „sich selbst gemalt habenden Bildes“ Antworten auf die letzten Dinge. Und so mancher gläubige Zuhörer mag aus dieser weltlichen Messe im Beethovensaal neue Erkenntnisse mit nach Hause genommen haben.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 25.11.2013. Das Konzert fand statt am 24.11.
Stuttgart - Eignet sich Musik Joseph Haydns als Objekt moderner Raumklang-Experimente? Der Stuttgarter Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling bejahte dies, knöpfte sich 2005 Haydns „Sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuz“ vor und bearbeitete das Orchesterwerk für vier im Raum verteilte Streichseptette und ein Solocello. Haydns Meditationen erfahren dadurch eine enorme klangliche Weitung, wie man im Matineekonzert des Stuttgarter Staatsorchesters unter Leitung Cambrelings am Sonntag miterleben konnte. So positionierten sich zwei der Septette links und rechts auf der Bühne des Beethovensaals, die anderen zwei im Zuschauersaal, während das Solocello in der Mitte des Saales thronte.
Aber damit nicht genug. Vorne, in der Mitte der Bühne, saßen dicht gedrängt die Schlagwerker und Bläser. Denn Haydns sieben Adagio-, Largo- und Grave-Sätze erklangen nicht am Stück, sondern im Wechsel mit den fünf Sätzen der Bläser- und Schlagzeugsinfonie „Et exspecto resurrectionem mortuorum“ (Und ich erwarte die Auferstehung der Toten), die Olivier Messiaen 1964 den Opfern des Ersten und Zweiten Weltkriegs widmete. Hier sämiger, beweglicher Streicherklang, dort Monolithe aus Bläsern und Ewigkeitsglockendonner. Hier Cambreling frontal, dort mit dem Rücken zum Publikum. Hier meditatives Fließen, melodisches Seufzen und Klagen, dort grell-dissonante, blockhafte, statische Klanglichkeit. Mehr Kontrast geht nicht.
Allein um die gewohnte Konzertsituation einmal aufzubrechen, lohnen sich solche Experimente. Zumal Cambreling Haydns „Sieben letzten Worten“ feinste Verfremdungen angedeihen ließ, die so manche Ohren spitzer machen. Denn den Streichersatz würzen Spieltechniken wie Bogenklopfen, Nah-am-Steg-Spielen, Flageolett. Die Musik gerät ins Beben und Pulsieren. Obertöne pfeifen leise, Klänge bleiben länger liegen, immer wieder schält sich eindrücklich das Solo-Cello (Francis Gouton) aus dem Stimmgeflecht, oder es werden seltsam blubbernde elektronische Töne hörbar. Aber all das geschieht sanft, geheimnisvoll, mystisch - auch wenn es bei der Aufführung in der Koordination der vier Streichergruppen oft kleckerte. Einsätze kamen leicht zeitverschoben. Auf Tuchfühlung im Podium oder Graben funktioniert die musikalische Schwarmintelligenz eben besser.
Keine Probleme hatten Bläser und Schlagwerker in Messiaens Auferstehungshymnus, der durch die Ausdehnung in extrem hohe und tiefe Bläserregister per se von kathedralenhafter räumlicher Wirkung ist. Das ist für den religiösen Offenbarungston dieses strengen und schmucklosen Opus fast zwingend.
Intellektuelle Erdung erfuhr Cambrelings Experiment durch eine weitere Zutat: Zwischen den Sätze lasen die Staatsschauspieler Svenja Liesau und Peter Kurth sachlich und lebendig Martin Mosebachs „Das Tuch“, in dem der Schriftsteller forschend in die Tiefenstruktur des Turiner Grabtuchs eindringt - jener Reliquie, die als Abdruck des Leichnams Christi verehrt wird. Mosebach sucht in den Brandflecken und Körperflüssigkeiten dieses „sich selbst gemalt habenden Bildes“ Antworten auf die letzten Dinge. Und so mancher gläubige Zuhörer mag aus dieser weltlichen Messe im Beethovensaal neue Erkenntnisse mit nach Hause genommen haben.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 25.11.2013. Das Konzert fand statt am 24.11.
eduarda - 28. Nov, 10:50