Mittwoch, 30. Oktober 2013

Im Schatten der Herzen

Tschechows „Onkel Wanja“ hatte im Stuttgarter Schauspielhaus in einer Inszenierung von Robert Borgmann Premiere

Peter Kurth in „Onkel Wanja. Szenen aus dem Landleben“. (Foto: Staatstheater Stuttgart, Julian Röder)

Stuttgart - Darf man einem Geigenkonzert vorwerfen, dass darin eine Geige mitspielt? Darf man an einem Tschechow-Stück die Langsamkeit kritisieren? Und darf man einem Regisseur ankreiden, dass er diese Langsamkeit noch einmal verdoppelt und den Abend auf quälerische dreieinhalb Stunden dehnt? Etwas viel für „Onkel Wanja. Szenen aus dem Landleben“, deren Handlung schnell erzählt ist: Wanja arbeitet auf dem Gut des schmarotzenden Mittelmaß-Professors Serebrjakow. Als dieser das Gut verkaufen will, greift Wanja zum Gewehr.

Vermutlich war es die gedehnte Länge, die dem Publikum am Ende der Premiere dieser Tragikomödie im Stuttgarter Schauspielhaus unverhältnismäßig lautstarke Buh-Rufe aus den Kehlen lockte, die jeden Jubelruf übertönten. Vielleicht war der Grund aber auch die Weigerung des jungen Regisseurs Robert Borgmann, dem Stück jene psychologisierende Fokussierung angedeihen zu lassen, die Tschechow-Inszenierungen heute prägen.

Klangvolle Kulisse

Wie dem auch sei, jedenfalls bietet der Abend keineswegs schlechtes Theater. Die Bilder und Stimmungen, in die Borgmann den Text überführt, wirken nach und bleiben in Erinnerung. Für die Trägheit und den völligen Stillstand, der sich auf dem Landgut ausgebreitet hat, seit Professor Serebrjakow sich hier niedergelassen hat, fand Borgmann einen denkbar einfachen Raum: Auf der kahlen Bühne, die mal von Neonleuchten, mal von grellem Gegenlicht erhellt wird, zieht ein alter Volvo ohne Reifen im Schneckentempo seine Kreise. Mal schläft oder döst dort einer, mal sitzen viele drin, starr und steif. Von Russland sprechen nur das Matroschka-Püppchen und ein Teeservice. Statt einer Kulisse füllen monotone Klanglandschaften aus wenigen E-Gitarren- und Synthesizer-Akkorden die gähnende Leere, in der ein paar angewitterte Klappgartenstühle von früheren Festen zeugen. In einer solchen Atmosphäre bewegen sich die Menschen nicht schneller als der Volvo: Meist schleichen sie, sitzen, stehen, liegen - hoffnungslos, zukunftslos, leblos. Nur wenn der Professor erscheint und anhebt, lateinische Worte ins Mikrophon zu raunen, ist Tempo angesagt. Dann sucht die Bagage fluchtartig das Weite. Der Professor ist nicht gerade beliebt.

In dieser Kälte und Freudlosigkeit, in der jeder leidet und klagt, besitzt nur Wanjas Nichte Sonja (anrührend jugendlich gespielt von Katharina Knap) jene Energie, die gespeist wird von echten Gefühlen für einen anderen Menschen. Sonjas unerwiderte Liebe zum Arzt Astrow, Wanjas Freund, ist das kleine Feuer, das da brennt an diesem Abend und am Ende auch eine szenische Überhöhung erfährt: Eine riesige, jahrmarktmäßig rotierende Leuchtstoff-Sonne fährt auf die leere Bühne herunter, auf der nur Sonja und Wanja zurückgeblieben sind und einer tristen Zukunft harren. Schnell verglimmt die Sonne der Hoffnung, und eine letzte kleine Funzel dreht ihre Kreise, während nur noch das Knipsen der Zange zu hören ist, mit der Sonja ihrem Onkel die Fußnägel kürzt. Ein kaltes Geräusch, aber eine warme Geste der Zuwendung, die ansonsten im Miteinander der illustren Gesellschaft kläglich fehlte. Deren Darsteller überzeugen ausnahmslos: ob Susanne Böwe als Wanjas gestrenge Mutter, Sandra Gerling als cool-arrogante Professorengattin Elena oder Michael Stiller als stotternder, rührender Sonderling Telegin. Ob Peter Kurth, der den Wanja nicht als Schöngeist spielt, sondern als grobes, ungepflegtes Arbeitstier, Thomas Lawinkys Astrow, der sich ständig selbstzerstörerisch gegen Wände brettert, oder Elmar Roloff als distanziert-selbstgerechter Professor.

In all der Beziehungslosigkeit blieben Gefühle im Innern gefangen. Doch Borgmann macht sie sichtbar durch einen witzigen Kunstgriff: durch irreal wirkende Pantomimen in Zeitlupe, die immer dann zwischengeschaltet werden, wenn es um das Unsagbare geht. So entladen sich die Aggressionen während des Besäufnisses Wanjas und Astrows in einer ausgedehnten Auto-Action-Szene, in der die Windschutzscheibe splittert und die Körper über die Motorhaube fliegen. Oder Wanja wird am Regenschirm vom Sturm in den Himmel gezogen und später von der Mutter an einem Faden wie ein Luftballon auf die Erde zurückgeholt. Highlight dieser Slow-(E)motions: Nachdem Wanjas beide Schüsse auf den Professor danebengegangen sind, weitet sich das Ziel seines Amoklaufs auf die gesamte Verwandtschaft aus. In Wanjas Fantasie sind jetzt alle tot.

Keine Dämmerung, kein Tag

Die Langsamkeit des Abends mag immer wieder ermüden, aber zum eindrücklichsten Moment dieser Inszenierung gerät doch gerade jener, in dem auf der Bühne gar nichts mehr passiert. In fast rabenschwarzer Finsternis, nur schütter beleuchtet, sitzen im hintersten Winkel bewegungslos die Amme und ein Mädchen. Und dieses Kind, gemeint ist wohl Sonjas junges Alter Ego, singt nun live und sanft begleitet von Gitarre und Synthi „Cosmic Love“ der britischen Band Florence and the Machine. Und die kleine Gina Bartel singt dieses Lied so wunderschön und unschuldig, dass man meint, hier ein stille Botschaft des Regisseurs zu vernehmen, die Sonja zur inoffiziellen Hauptperson macht: „Die Sterne, der Mond, sie wurden alle ausgeblasen. Du hast mich in der Dunkelheit zurückgelassen. Keine Dämmerung, kein Tag, ich bin immer in diesem Zwielicht. Im Schatten deines Herzens.“

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 29. Oktober 2013. Premiere war am 27. Oktober.

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