Mittwoch, 24. Oktober 2012

Vor dem großen Kater

Die Stuttgarter Schauspielschule zeigt im Wilhelma-Theater Shakespeares „Was ihr wollt“

Stuttgart - Sir Rülps und sein Saufkumpan Bleichenwang saugen Unmengen von Kokain in sich hinein, dass es nur so staubt. Der eifersüchtige Orsino gedenkt wutschnaubend, die verwirrte Viola alias Cesario mit der Axt zu erschlagen, Mobbingopfer Malvolio trägt gelbes Tütü und Brustnippelpiercing, als er Olivia zu bezirzen versucht. Es herrscht äußerste Geistesverwirrung in Shakes­peares Komödie „Was ihr wollt“, die jetzt im Stuttgarter Wilhelma-Theater zu sehen ist. Der Schauspieler Samuel Weiss hat mit Schauspieleleven der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst einen rasant gespielten, pointen- und ideenreichen Theaterabend auf die Bühne gebracht.

Weiss lässt das Stück auf einer Kirmes spielen. Fünf Schiffschaukeln dienen den Figuren zum Rauschausschlafen, Turteln oder gen Himmel-Schwingen samt euphorischen Liebesbekundungen. Massen von Spirituosen lagern unter dem Bretterboden - ob leer oder voll, bleibt hier die Frage. Jedenfalls eine Anspielung auf den englischen Originaltitel „Twelfth night“, auf die zwölfte Nacht nach Weihnachten: den Dreikönigstag, der zu Shakespeares Zeiten das Finale karnevalistischer Umtriebe darstellte und auch den Rahmen, in dem „Was ihr wollt“ 1601 oder 1602 uraufgeführt wurde.

Volksfeststimmung ist angesagt

Volksfeststimmung ist also angesagt, Grenzen überschreiten, Sex oder drugs, als wär‘s das letzte Mal. Doch mit dem Sex will es nicht klappen, und statt Rock-‘n‘-Roll gibt‘s Schnulzen auf die Ohren. Die Schiffschaukeln dienen ja nicht nur als effektvolles Bühnenbild (von Ralph Zeger, der auch für die schrillen Kostüme verantwortlich ist), sondern verweisen auf den Blockbuster „Titanic“. Violas Bruder Sebastian verschwand schließlich während eines Schiffsunglücks in den Fluten -„wie Leonardo“, heult sie. Und immer wieder muss der Narr - von Marianne Jordan nicht als tragische Figur gespielt, sondern als omnipräsente Beobachterin, Straßenmusikerin und überlegene Geschäftemacherin, die Rülps mit Drogen und Alkohol versorgt - die Megaschnulze „My heart­ will go on“ aufs Grammophon legen oder sie selbst singen oder auf dem Cello spielen, während die anderen sich am abgedroschenen, musikalischen Gefühlskitsch aufgeilen, in Rage reden, weinerlich werden.

Weiss nutzt den karnevalistischen Hintergrund des Stücks zur Nivellierung der Standesunterschiede. Herzog Orsino (Andreas Ricci) in Willy-de-Ville-Outfit ist genauso ein unzivilisierter Proll wie Rülps. Und auch die von fast allen Männern umworbene Gräfin Olivia (Robin la Baume) verliert im Kirmes-Umfeld schnell an überlegenem Adel, zumal sie Cesario, den Liebesboten Orsinos, auch in der Öffentlichkeit hemmungslos an die Wäsche geht, wobei sie nicht weiß, dass er eigentlich Viola ist, die wiederum Orsino liebt. Violas Verwirrtheit, die das geschlechtliche Doppelleben in ihr stiftet, zeigt Lilith Häßle anrührend, das Switchen zwischen den Identitäten gelingt ihr trefflich.

Die Verkleidungskomödie treibt Weiss derweil auf die Spitze: Da sitzen Rülps und Bleichenwang auf einmal als Grantlerpaar Statler und Waldorf in der Loge und machen sich lustig über das Bühnengeschehen, als sei‘s die Muppet-Show. Und der Narr trägt plötzlich eine Totenkopfmaske und spricht wie ein Monster. Rülps freilich darf authentische Proll-Klamotten tragen und so schöne Sätze sagen wie „Wo gestern meine Leber war, ist heute eine Minibar“. Arlen Konietz spielt ihn als aufgedrehten, in Gucci-Taschen kotzenden Kokainschnupfer. Bleichenwang alias Julius Forster in Leggings, blauen Westernstiefeln und brokatener Torrero-Jacke hat den akrobatischsten Job zu erledigen und lässt sich virtuos und melancholisch die Treppe hinunter- und von der Bühne fallen. Der schöne Feigling weiß nicht so recht, ob er Rülps oder Olivia lieben soll. Forster verleiht seiner Tumbheit auch im witzig vorgetragenen Big-Brother-Zlatko-Song „Ich bin nicht Shakespeare oder Einstein“ überzeugend Gestalt.

Eine tragische Figur bleibt vor allem Malvolio, der ordnungsfanatische Hausmeister. Daniel Friedl stellt ihn als rotbackigen Choleriker dar, der stets kurz vor dem Herzinfarkt steht. Seine brüllenden Unverschämtheiten und Handgreiflichkeiten werden ihm zum Verhängnis, als die gedemütigte Maria (Alrun Herbing) sich kokaingestärkt an ihm rächt und ihn in die Liebesfalle lockt. Er endet als armseliges, verprügeltes Häufchen Elend, mit blutiger Brustwarze und verrutschten Strumpfbändern.

Rache am „Schauspielerpack“

Anders als im Original finden im Wilhelma-Theater am Ende keine Paare zusammen. Dem aufgedrehten, klamaukischen Trubel und fruchtlosen verwirrenden Liebestreiben folgt der große Kater. Plötzlich ist man wieder einsam und greift auf dämmriger Bühne zu Gitarre und Akkordeon, um gemeinsam ein letztes Mal, jetzt müde und traurig, das unvermeidliche „My heart will go on“ zu zelebrieren. Doch dann erscheint Malvolio, um endlich Rache zu üben am „Schauspielerpack“. Und was tut er? Er packt tatsächlich die Blockflöte aus und spielt das von allen so gehasste, penetrante Tin-Whistle-Solo des Originals. Und alle fliehen.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 24.10.2012. Premiere war am 20.10.

EDUARDAS UNIVERSUM

weblog für ernste kultur von verena großkreutz

Wer ist Eduarda?

Eduarda bin natürlich ich! Diesen Spitznamen verpasste mir ein Freund in meiner Anfangszeit als Musikkritikerin in Erinnerung an den berühmten Eduard Hanslick.

Aktuelle Beiträge

"Nazis sind immer die...
Ein Gespräch mit dem Theaterregisseur und Autor Tobias...
eduarda - 22. Mär, 23:46
wie schön!
Ich freue mich schon sehr auf die Lektüre! Allein schon...
ChristophS - 28. Dez, 16:17
Unter Hochdruck
Das SWR Symphonieorchester spielt in der Leitung des...
eduarda - 3. Dez, 10:33
Kecke Attacken
Mirga Gražinytė-Tyla hat in der Stuttgarter Liederhalle...
eduarda - 29. Nov, 19:34

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Status

Online seit 5340 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 22. Mär, 23:46

Credits


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren