Mittwoch, 12. Februar 2014

Wiederkehr des Verdrängten

Neue-Musik-Festival Eclat: Finale mit dem Großprojekt „Mediterranean Voices“

Stuttgart - Mystisches Säuseln und Pfeifen, erzeugt durch Plastikschläuche, die über den Köpfen geschwungen werden, was ein wenig an Medusas Schlangenhaupt erinnert. Fünf menschliche Stimmen, die atmen, wispern, hauchen und langsam zum reinen Sington finden. Wind, Wasser, Meer und mörderische Geschichten: In der Klangwelt, die der zyprische Komponist Evis Sammoutis in seinem Stück „Sculpting Air“ aufbaut, stellen sich ganz von selbst Assoziationen zur griechischen Mythologie ein. „Sculpting Air“ eröffnete vielversprechend das interkulturelle Großprojekt „Mediterranean Voices“, mit dem Eclat im ganzräumig in Anspruch genommenen Theaterhaus ins Finale ging: eine über sechsstündige „Video-Konzert-Architektur“ in vier Teilen mit zwölf Uraufführungen, die die „kulturelle Diversität des Mittelmeerraumes“ mit seinen europäischen und arabischen Kulturen widerspiegeln sollten. Komponisten aus zwölf Mittelmeerländern waren beauftragt worden, ihre künstlerische Situation und ihre Sicht auf ihr Heimatland zu reflektieren. Und weil der Gesang im Mittelmeerraum eine so große Rolle spielt, sollten es Werke für die sieben Stimmen der Stuttgarter Neuen Vocalsolisten sein. Die Interpreten und der Videokünstler Daniel Kötter hatten die einjährige Vorbereitungsphase zum intensiven Austausch mit den Komponisten genutzt und waren in deren Heimatländer gereist. Die visuellen Früchte dieser Reisen standen in den Pausen bereit: Kötters Videoporträts der Komponisten und, aufgeteilt auf sechs thematische Orte, 144 Reise-Video-Filmchen mit Interviewfetzen, Straßenszenen, stehenden Bildern. Agrarflächen, Grenzgebiete, Außenansichten; Beirut, Istanbul, Kairo, Tel Aviv. Eine künstlerische One-Man-Show, deshalb ästhetisch gesehen etwas eindimensional.

Sänger auf beweglichen Podesten

Für die Raumgestaltung zum Programm war die griechische Architektin Sofia Dona zuständig, die ihre Aufgabe klug gelöst hat: Der schummrige große Saal des Theaterhauses war geräumt worden, das Publikum wurde um das Raumzentrum gruppiert, in dem die Vocalsolisten über den Köpfen der Zuschauer auf einzelnen, beweglichen Podesten agierten, die je nach Besetzung zu immer neuen Formationen zusammengeschoben werden konnten.

Die musikalischen Ergebnisse, die die Vocalsolisten mit bewundernswerter Kondition und Konzentration Stück für Stück abarbeiteten, waren denkbar unterschiedlich, sowohl inhaltlich als auch qualitativ. Einer der stärksten Beiträge ist zweifellos „Hummus“ des Libanesen Zad Moultaka: ein Stück von ungeheurer Energie, weil es sich klarer Rhythmen und szenischen Sprechgesangs bedient. Es verwendet Alltagstexte, etwa ein „Hummus“-Rezept, das zu Beginn im Wechselgesang zwischen Solo und Gruppe noch humoristisch wirkt, sich aber langsam als Mittel zwanghafter Verdrängung furchtbarer Erinnerungen an die Massaker von Sabra und Schatila in Beirut entpuppt. Stark auch „Jarich (Mondgott)“, in dem der Palästinenser Samie Odeh-Tamimi Erinnerungen an das Leid seiner Familie - Opfer der israelisch-palästinensischen Konflikte - verarbeitet und drei sich dramatisch artikulierende Frauenstimmen einbettet in alptraumhaft sich wandelnde Tonbandzuspielungen mit verfremdeten Höreindrücken aus Palästina: rituelle Gesänge, Sufi-Musik, Gongs und Trommeln. Ein Werk, das einen Hörsog erzeugte, der an diesem Tag nicht immer gegeben war. Auch ließen einige Kompositionen den Bezug zum Projekt und seiner politisch-gesellschaftlichen Ausrichtung vermissen.

Manches blieb blass und fad

Blass wie sein titelloser Titel blieb etwa „Untitled VI“ von Marianthi Papalexandri-Alexandri aus Griechenland, die drei Männer in Klangobjekte sich hineinartikulieren lässt. Ebenso fad die Elektro-Basteleien des Israelis Nimrod Katzir. Brahim Kerkour aus Marokko strapazierte die Nerven erheblich durch sein klangliches Nichts namens „Intone“, das die Vocalsolisten 15 Minuten lang mit verschiedenen Atmungstechniken knapp über der Wahrnehmungsschwelle beschäftigte.

Nichtsdestotrotz entwickelte der Abend eine Eigendynamik, die solche Längen vergessen ließ. Sein Ziel einer ersten Bestandsaufnahme dessen, was für Komponisten des Mittelmeerraumes heute in Sachen einer an Europa ausgerichteten Avantgarde (noch) möglich ist, dürfte das Projekt ohnehin erreicht haben.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 11.2.2014. Das Konzert fand statt am 9.1.

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