Montag, 1. März 2010

Mitsingender Tastenlöwe

Fazil Say spielt in der Stuttgarter Liederhalle

Stuttgart - Es gibt unter den vielen Stilmitteln der Rhetorik eines mit dem schönen Namen Hyperbel. Das meint Übertreibung des Ausdrucks in vergrößerndem wie verkleinerndem Sinne. Maßvoll angewendet kann man damit komische, ironische, aber auch ernste Effekte erzielen. Übertreibt man die Übertreibung, verliert man indes schnell an Glaubwürdigkeit. Das kommt einem in den Sinn, wenn man den Rezitalen des türkischen Pianisten Fazil Say derzeit lauscht. Etwa beim Konzert im vollbesetzten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle.

Der 40-Jährige, der sich sein Publikum nicht nur durch seine pianistischen Qualitäten, sondern auch durch seinen entspannten Umgang mit den Grenzen zwischen E- und U-Musik sowie durch gefällige eigene Kompositionen erspielt hat, kultiviert eine Vortragsweise, die sich immer stärker der Übertreibung verschreibt und damit mehr von den Werken ablenkt, als ihnen noch wirklich gerecht zu werden. Das betrifft einerseits seine Gestik: Spielt seine rechte Hand eine langsame Melodie, so begrüßt seine linke stets jeden Ton persönlich, der dem Flügel entschwebt. Diese Höflichkeitsbekundung gegenüber einer rein akustischen Erscheinung wirkt zunächst pathetisch, beim dritten Mal schon unfreiwillig komisch.

Dass man im eröffnenden Variationensatz der berühmten A-Dur-Sonate Mozarts die Vielfalt der Charaktere herausarbeitet, ist selbstverständlich. Aber Say macht aus geistreichen Bonmots einen albernden Clown, aus tänzerischer Heiterkeit einfältiges Grinsen und aus einer kleinen dunklen Wolke gleich ein ganzes Sturmgewitter. Und wenn der ohne Frage eigentlich mit Spielwitz und viel Sinn für das Lyrische ausgestattete Klavierlöwe brüllt, dann gleich so, dass außer Saitendonnern nichts mehr hörbar wird. Im ersten Satz von Leos Janáceks Sonate „1.X.1905“ zerhämmerte er auf diese Weise jegliche wahrhafte Dramatik, die sich gerade aufzubauen schien. Und den zweiten Satz „Der Tod“ kommentierte er durchweg mit so lautem schrägen Mitgesinge, dass jegliche verinnerlichte, trauernde Stimmung sofort über den Jordan ging.

In Beet­hovens Sturm-Sonate konnte man über die ständigen vokalen Äußerungen Says dann zwar hinweghören, zumal der erste Satz mit seiner durch improvisatorische Elemente aufgeweichten Faktur dem kreativen Potential des Pianisten entgegenkommt. Im Adagio aber blieb er weit hinter seinen farblichen Möglichkeiten zurück, und das Finale geriet viel zu perkussiv.

So blieb einzig und allein Says Zugabe in Erinnerung: seine Jugendkomposition „Black Earth“. Nicht unbedingt wegen ihrer balladesken, eingängigen Melodik und ihrer von der türkischen Musik und vom Jazz inspirierten Ausdruckswelt, sondern weil Say hier erstmals an diesem Abend ganz bei sich blieb: ohne übertriebene Gestik und Mimik, ohne laut mitzusingen. Sollte er seine Übertreibungskunst demnächst noch forcieren, wird sie vielleicht eines Tages auf das Publikum überspringen. Dann werden die begeisterten Fans, von denen hörbar viele im Beethovensaal anwesend waren, zukünftig wohl Rad schlagend die Liederhalle verlassen.

Artikel für die Eßlinger Zeitung vom 1.3.2010

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