Freitag, 6. September 2013

Zerbrechliche Klangwelt

Musikfest Stuttgart: Die Geigerin Carolin Widmann mit Soloprogramm in der Johanneskirche

Stuttgart - Totenstille herrscht in der Stuttgarter Johanneskirche am Feuersee. Salvatore Sciarrinos Flüsterstücke für Geige solo, die Sechs Capricci, fordern das ein. Der Italiener revolutionierte damit 1976 die Spieltechnik der Violine. Fast immer werden die Töne im Flageolett gegriffen, also mit nur leicht aufgesetzten Fingern auf den Saiten, so dass die Obertöne, die Naturtöne der Geige, hörbar werden. Carolin Widmann spinnt daraus an diesem späten Montagabend beim Musikfest zarte Geflechte aus Vogelzwitschern oder aus feinsten Schraffuren und Glissandi, die oft in zackigen Fieberkurven huschen und tanzen. Die Zeit scheint still zu stehen. Auch greift sie den Bogen mit der Faust und reibt ihn auf die Saiten, die Quälgeräusche von sich geben, oder sie klopft mit den rechten Fingern auf das Griffbrett, macht diffuses Tröpfeln und Zischen hörbar. Alles in rasendem Tempo und Wechsel natürlich.

Sciarrino goss die zerbrechlichen Klänge in wohlstrukturierte Formen, die sich deutlich auf Paganinis 24 Capricci beziehen und diese auch gelegentlich subtil zitieren. Eine Welt jenseits des Schönklangs, und doch so ausdrucksstark, vielfältig und berührend. Niemand derzeit kann sie vermutlich so teuflisch gut spielen und so schön erdentrückt und verschleiert in den Raum schicken wie Carolin Widmann, die sich stets für die Neue Musik stark macht. Mit „Bravo“-Rufen bedankte sich das Publikum für diese Virtuosenkunst im Gewande der Avantgarde. Der Geist Paganinis offenbart sich in diesen Stücken ja auch im verwunderten Aufhorchen: Wie schafft es Widmann nur, das so zu spielen? Und wie viel Üben braucht es? Der rote Geigenfleck am Hals, Arbeitsmal aller Vielübenden, ist bei der Mitdreißigerin nicht eben klein.

Sciarrinos zerbrechliche Klangwelt war zwischen zwei Klassikern für Solovioline - einem der Moderne und einem des Barock - gut aufgehoben. Béla Bartóks späte Violinsonate, sein letztes Kammermusikwerk, ist auf andere Weise höchst anspruchsvoll. Es bezieht sich auf Bachs d-Moll-Partita, die Widmann als letztes Werk spielte: auf die berühmte Chaconne, auf die Fugentechnik, auf die Synthese eines mehrstimmigen und tänzerischen Stils. Aber die expressive Verdichtung, mit der Widmann ihr Publikum in den Bann zog, ist in Bartóks Sonate verzweifelter und voller dissonanter Grenzgänge, die im Finale gar zu mikrointervallischen Fortschreitungen führt. Klar, dass eine Spezialistin für Neue Musik für Bartóks zukunftsweisende Sonate wesentlich mehr Klangfarben parat hat als konventionelle Virtuosen, sowohl im fahlen Suchen als auch in krasser Geräuschhaftigkeit.

Bachs d-Moll-Partita beendete den umjubelten Abend und war damit glänzend positioniert. Denn die Wirkung tonaler Musik verstärkt sich auf geheimnisvolle Weise, wenn sie auf neue Klänge folgt. Warm, weich, satt war der Ton, mit dem Widmann das polyphone, akkordisch-melodische Spiel meisterte, dem tänzerischen Geist nachspürte und wie zupackend, deutlich und kräftig sie die Chaconne interpretierte. So klar und rein, so geerdet und auch ein bisschen deftig kann diese Partita wohl nur nach einem Sciarrino klingen.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 4.9.2013. Das Konzert fand statt am 2.9.

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