Mittwoch, 11. September 2013

Tödlich langweilig

Musikfest Stuttgart: Das Hilliard Ensemble und die Geigerin Muriel Cantoreggi in der Domkirche St. Eberhard

Stuttgart - Spielerei oder Zufall? Sieben Töne umfasst das Thema des Credo der Bach’schen h-Moll-Messe. Sieben ist die Zahl der Vollkommenheit. Also, mutmaßt so mancher Bach-Exeget, sagt die Musik hier: Der Gott, an den wir glauben, ist vollkommen. Verborgene Zahlensymbole in Bachs Werk ausfindig zu machen, ist ein beliebtes Hobby musikwissenschaftlicher Spürnasen. Ein anderes Verfahren der Dechiffrierung geheimnisvoller Mitteilungen ist die Suche nach Parallelstellen zwischen Vokal- und Instrumentalwerken. Eine eigentlich mit Text unterlegte Tonfolge kann dann im Kontext eines rein instrumentalen, also wortlosen Werks plötzlich Bedeutsames an den Tag bringen. Wenn es sich dabei um ein genaues Zitat handelt, macht das Sinn. Wenn man aber die Töne mühsam aus der Partitur zusammenklauben muss, um die Melodie erkennbar zu machen, wird das Verfahren fragwürdig.

Die Musikwissenschaftlerin Helga Thoene hat 1994 eine solch spekulative, weil nicht beweisbare Zahlen- und Zitate-Analyse der berühmten Chaconne aus Bachs d-Moll-Partita für Violine solo angedeihen lassen. Sie glaubte, darin ein klingendes Epitaph, also eine Grabinschrift Bachs für seine plötzlich verstorbene erste Gattin Maria Barbara entdeckt zu haben. Thoene stützte ihre These unter anderem auf verborgene Zitate aus dem Choral „Christ lag in Todesbanden“, die sich wie ein roter Faden durch die Chaconne ziehen sollen. Das britische Hilliard Ensemble hat Thoenes Mutmaßungen mit seinem Projekt „Morimur“ zum Klingen gebracht. Beim Musikfest Stuttgart stellte das Vokalquartett zusammen mit der Freiburger Violinprofessorin Muriel Cantoreggi das Resultat in der Eberhardskirche vor.

Leider plätscherte die Veranstaltung ohne weitere Erklärungen so vor sich hin. Die Zuschauer sollten sich offenbar selbst einen Reim darauf machen. Zunächst spielte Cantoreggi die komplette d-Moll-Partita, wobei die Hilliards zwischen den fünf Sätzen einzelne Choralzeilen zum Besten gaben. Dann folgten sämtliche in der Chaconne angeblich zitierten Choräle. Abschließend gab es als Synthese noch einmal die Chaconne, diesmal mit darübergesungenen Choralfragmenten.

Mal abgesehen davon, dass die Thoene’sche Analyse in der Praxis keinen Mehrwert offenbart, weil die vermeintlich geheimen Melodien im Klangmaterial mühsam zusammengesucht wirken und es zudem Eulen nach Athen tragen heißt, wenn man den Affekt von Trauer und Schmerz etwa in chromatischen Tonfolgen ausfindig macht: Es war vor allem die schlechte Qualität der Aufführung, die den Abend so fragwürdig machte. Denn Cantoreggi, die ihre Geige mit monochromem, statisch phrasiertem Ton traktierte, war von dem technisch und gestalterisch extrem anspruchsvollen Werk deutlich überfordert. Man vermisste einen hörbaren Spannungsbogen, schnelle Läufe und Arpeggien wirkten gehudelt, der Überdruck ihres Bogens produzierte Schlacken.

Unausgewogen im Zusammenklang, kaum miteinander kommunizierend, dazu ohne besonderen Gestaltungswillen präsentierte sich das Hilliard Ensemble: Monika Mauch als Gast sang mit viel zu schneidendem Sopran und überdeckte dadurch Countertenor David James, während Tenor Steven Harrold durch katastrophale Intonation auffiel und Gordon Jones’ zu wenig geerdeter Bariton zittrig wirkte. Das alles zerrte arg an den Hörnerven. „Morimur“ heißt „wir sterben“. An diesem Abend starb man vor Langeweile.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 9.9.2013. Das Konzert fand statt am 6.9.

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