Dienstag, 26. November 2013

Armut gebiert Ungeheuer

Armin Petras’ Inszenierung von Friedrich Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ am Stuttgarter Staatsschauspiel

Astrid Meyerfeldt als hier gar nicht alte Dame (links) wird von den verarmten Kleinstädtern in Beschlag genommen. Der Bürgermeister (kopfüber: Wolfgang Michalek) redet auf die stinkreiche Retterin und Rächerin ein. (Foto: Bettina Stöß, Staatstheater Stuttgart)

Stuttgart - Nur instabile Positionen sind auf dieser Bühne möglich: Die breite, hohe aufsteigende Treppe, die dem Publikum in Armin Petras’ Bearbeitung und Inszenierung von Friedrich Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ vor die Nase gesetzt wird, ist ungemütlich. Nur im Pulk lässt sich darauf sicher stehen. Sonst zwingt die Treppe den Einzelnen oft zu Schieflagen und bizarren, auch akrobatischen Verdrehungen. Oben angekommen ist es auch nicht besser: zu niedrig, um aufrecht zu stehen. In der umjubelten Premiere im Stuttgarter Schauspielhaus, wo Dürrenmatts Nachkriegs-Rachedrama jetzt als Übernahme einer Koproduktion des Dresdner Staatsschauspiels und des Berliner Maxim Gorki Theaters aus der Spielzeit 2009/10 gegeben wird, wurde es aber auch dem Publikum zuweilen recht ungemütlich: Es wurde zur Rede gestellt, heftig abgeknutscht (von Rahel Ohm) oder musste mal kurz als betrogene Gattin herhalten.

Allgemeine Verunsicherung

Die allgemeine Verunsicherung, die die Bühne von Olaf Altmann den Darstellern körperlich aufzwingt, ist für die Bewohner jener Kleinstadt, die Dürrenmatt in seiner Tragikomödie gesammelt zu Mördern macht, eine ganz reale. Petras’ bemerkenswerte Bearbeitung, die durch recht massive Eingriffe den Text aktualisiert und der jüngeren Alltagssprache anpasst, verlegt die Handlung von der fiktiven Kleinstadt „irgendwo in Mitteleuropa“ ins Ostdeutschland kurz nach der Wende. In der abgewrackten Zonenstadt, deren Wagnerwerke und Zigarettenfabrik längst bankrott sind und an der die Schnellzüge einfach vorbeirasen, leben die Menschen von der Arbeitslosenhilfe. Und auch die, die noch einen Job haben, sind in Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren - wie der Polizist (Paul Grill), der bangen muss, dass seine Stasi-Akte auftaucht und ihm die Karriere versaut. So fixiert sich die Hoffnung der Mittellosen auf die reiche West-Milliardärin Clara, die in ihre Heimatstadt zurückzukommen gedenkt. Ihr Rettungsangebot an die Stadt ist allerdings höchst unmoralisch: 500 Millionen für die verschuldete Stadt und 500 Millionen gleichmäßig verteilt für alle Bürger, wenn sie Gerechtigkeit in ihrem Sinne dafür kriegt. Und das heißt: Die Stadt soll ihren ehemaligen Geliebten Alfred Ill töten, der sie einst als 17-Jährige schwängerte und sitzen ließ.

Starke Szenen gleich zu Beginn: Ein Bürger-Empfangskomitee in schmutzigbraunen Mänteln, mit altmodischen Nasenfahrrädern und Russenmützen (Kostüme: Katja Strohschneider) erwartet am Bahnhof freudig, dann vor Kälte bibbernd Claras Ankunft, bricht aber müde zusammen, verschläft den Moment. Petras’ alte Dame ist weder alt noch aus Prothesen zusammengesetzt, noch hat sie ihr Gefolge aus blinden Eunuchen, Ex-Ehemännern, Raubmördern und einem Panther bei sich - vom umfangreichen Personenverzeichnis ließ Petras ohnehin nur ein Viertel, neun Figuren, übrig.

Die Dame erscheint also allein: Astrid Meyerfeldt in weißem, elegantem Pelz und schwarzen Stöckelschuhen stakst die Bühne herunter und wirkt wie ein Wesen aus einer anderen Welt - Traumgestalt, Racheengel und Gespenst der Vergangenheit gleichermaßen. Zwischen innerer Zerstörung und äußerer Verstörung, zwischen naiv-zerstreutem Charme und geschäftiger Geschwätzigkeit reibt sich die unerbittliche Rachelust ein wenig wund und bringt eine Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit an den Tag, die für diese Rolle eher ungewöhnlich ist. Eine raffinierte Mischung jedenfalls, die dank Meyerfeldts tiefgründigem komischem Talent - der Kunst der vielen schnellen kleinen Brüche - immer wieder für überraschte Lacher sorgt.

Klar, dass Claras Geld-gegen-Leben-Angebot schnell seine Wirkung zeigt. Zunächst empört beginnen die Bürger alsbald, sich zu verändern, auf Pump zu kaufen. Ostlook ade, immer schicker oder hipper kleiden sie sich, kaufen Digicams, Kenwoods und Autos. Selbst Ills eigene Kleinfamilie macht mit. Und der Bürgermeister, zunächst noch mit integren humanen und demokratischen Ansichten („Wir sind ein Volk“), verfällt immer mehr in hohle, kapitalistisch befeuerte Politikerphrasen. Wolfgang Michalek, auch äußerlich ein unglaublich wandlungsfähiger Mann, leistet akrobatische Maßarbeit. Wie er nackt, nur bekleidet mit einer hässlichen braunen Unterhose, Ill auf die Schulter springt, ihn dann in die Liegeposition zwingt und dabei die Beine nach oben kantet, ihm seine Körpermitte vors Gesicht schiebt und auch noch mit dem Hinterteil ins Gesicht hüpft, ist schon ein Kunststück. Ebenso beeindruckend geraten seine Verrenkungen, wenn er kopfüber in Schieflage, getragen von einem Menschenknäuel, auf Clara einredet, während sie eislutschend oder lesend auf einer Stufe liegt. Was für genial-groteske Bilder!

Größte Wirkung, kleinste Mittel

Andreas Leupold spielt den Ill mit grandioser Gleichmut als Verurteilten, der sich schuldig bekennt, um an entscheidenden Stellen durch minimale Brüche sein Inneres, seine Todesangst, freizulegen: größte Wirkung mit kleinsten Mitteln. Die Stadt blüht auf, bis es zur endgültigen Entscheidung kommt. Im Stadttheater buhlt man in Galaatmosphäre um Verständnis für das „Projekt“ (den nunmehr entschiedenen Mord) und singt im Chor à la Volker Lösch: „Nichts ist ungeheurer als die Armut, nur öde Tage, Tag für Tag, trostlos umfängt sie den Menschen, wie ein Leichentuch, wie eine Krankheit zum Tode“. Die dünne Decke der Humanität reißt. Und Ills Tochter (Sandra Gerling) sieht man per Video mit einem Koffer am Bahnhof warten. Auch sie wurde von ihrem Freund schwanger sitzengelassen. Die Geschichte wird sich wiederholen. So oder so.

Ill stirbt nicht von Bürgerhand, sondern durch den „Leoparden“ - eine katzenhaft durch den Abend schleichende und tanzende Allegorie (Berit Jentzsch), die Petras hinzuerfunden hat. Ein zwar ziemlich plattes Sinnbild, das verschüttete Schuldgefühle, dann das Tier im Menschen zu meinen scheint, aber es ist die einzige Schwäche in einer ansonsten brillanten Inszenierung, die von einem spielwütigen, mitreißenden Ensemble getragen wird.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 25.11.2013. Premiere war am 22.11.

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