Sonntag, 27. Juni 2010

Pathos und Witz

Radio-Sinfonieorchester Stuttgart mit Schostakowitschs 15. Sinfonie

Stuttgart - Das passiert selten in Abonnementskonzerten: Das Publikum im Beethovensaal vergisst die Benimm-Regeln der bürgerlichen Musentempel und tut seine Begeisterung nicht erst am Schluss einer Sinfonie, sondern spontan applaudierend zwischen den Sätzen kund. So geschehen im jüngsten Konzert des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR (RSO) nach dem Kopfsatz von Dmitri Schostakowitschs 15. Sinfonie.

Der war aber auch wirklich mitreißend gespielt. Unter Leitung ihres Ersten Gastdirigenten Andrey Boreyko gelang es dem Klangkörper dank rhythmisch-metrischer Geschmeidigkeit und plastischer Artikulation zwischen Scherz, Ironie und Satire fein zu unterscheiden und das quecksilbrige Hauptthema einer ständigen charakterlichen Metamorphose zu unterziehen: mal keck-naiv, mal eulenspiegelnd, mal aufdringlich rasend, mal unheilschwanger marschierend. Und immer wieder ließ man Rossinis ratterndes Wilhelm-Tell-Thema aufscheinen, als sei dies innerhalb dieses Tohuwabohus aus Witz und Bedrohung das Selbstverständlichste der Welt. Überhaupt schien dem Orchester die Faktur dieses Werks besonders zu liegen. In seinem 1971 entstandenen sinfonischen Schlusswort verabschiedete sich der Komponist nämlich in weiten Teilen vom Monumentalismus vieler früherer Werke. Es weist trotz großer Besetzung die für Schostakowitschs Spätwerk typische kammermusikalische Tendenz auf, was sich in den zahlreichen, vom Orchester brillant umgesetzten Instrumentensoli, darunter auch Celesta, Xylophon und Vibraphon, offenbart.

Zwar übernahm Schostakowitsch hier das klassische viersätzige Sinfonie-Modell, er wandte jedoch eine Collagetechnik an, die einerseits gestisch und harmonisch auf die musikalische Klassik und Romantik verweist, andererseits aber auch expressive moderne Ausdrucksmittel wie Poly- und Atonalität, Zwölfton- und Clustertechnik zulässt. Das blitzschnelle Umschalten von einem in den anderen Tonfall war eine dankbare Aufgabe für das RSO - im Trauerchoral und -gesang des Adagios ebenso wie im Totentanz-Scherzo, das immer wieder in lärmende Exaltiertheit ausbricht, und erst recht im Finale mit seinen meditativen Rahmenteilen, seiner schmerzhaft sich verdichtenden Passacaglia und seinem schwebend gehaltenen, wenig optimistischen Ende.

Der Tatsache, dass Schostakowitsch dem Rossini-Zitat des Kopfsatzes im Finale das Nornenmotiv aus Wagners Ring-Zyklus gegenüberstellt, hatte man dramaturgisch Rechnung gezollt. So verströmte das Orchester zu Beginn des Abends in der Ouvertüre zu Rossinis Oper „Wilhelm Tell“ Witz, Dramatik und italienisches Licht, während die anschließenden Wagner-Instrumentalstücke - Trauermarsch für Siegfried aus der „Götterdämmerung“ sowie Tristan-Vorspiel samt Isoldes Liebestod - dank weihevollem Pathos respektive verklärendem, unstillbarem Sehnen fast schon erschlagend wirkten.

Vielleicht ist darin auch die Ursache zu suchen für das verfrühte, befreiende Klatschen nach dem ersten Satz der 15. Sinfonie. Nach soviel heiligem Pathos schien Schostakowitschs Musik doch viel näher beim Menschen zu sein.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 28. Juni. Das Konzert fand statt am 24. Juni 2010.

Donnerstag, 17. Juni 2010

Wie eiskalt ist dein Handtäschchen

Die Opernschule bringt Puccinis „La Bohème“ ins Stuttgarter Wilhelma-Theater

Stuttgart - Giacomo Puccinis „La Bohème“ wird von Opernregisseuren nur selten gegen den Strich gebürstet. Offenbar fällt es ihnen schwer, sich dem Charme der munteren Künstler-Clique zu entziehen, die ihre bittere Armut fröhlich feiert, statt sie kritisch zu hinterfragen. Als Existenzbedrohung treten Einsamkeit und Hunger bei Puccini erst ganz am Ende mit Mimis Tod zu Tage.

Auch Bernd Schmitt hat in der neuesten Produktion der Opernschule der Stuttgarter Musikhochschule im Wilhelma-Theater der fröhlichen Seite der „Bohème“ die meiste Beachtung geschenkt, ja ein großenteils komödiantisches Spektakel aus Puccinis Milieustudie frei nach Henri Murgers Episodenroman gemacht. Immerhin verzichtet das Bühnenbild von Claudia Philipp auf die beliebte Mansardenromantik, baut auf graue Wände, Metalltüren, klare Linien und minimalistisch eingesetzte Requisiten. Das Grau in Grau steht wohl für den harten Winter, die omnipräsente Kälte, die den hungernden Freunden zumindest im Libretto sehr zusetzt, die aber in der Inszenierung sonst kaum eine Rolle spielt: Rodolfo geht im T-Shirt vor die Tür, als herrsche Hochsommer.

Bernhard Schmitt hat die „Bohème“ in die Jetztzeit geholt, die Protagonisten mit Laptop, Collegejacke und Baseballkappe ausgestattet, doch erscheinen die ständig herumalbernden Freunde Rodolfo, Marcello, Schaunard und Colline weniger als Künstler denn als ein Haufen nerviger Studenten. Die lungenkranke Mimi, in der Oper eigentlich als schüchtern und zerbrechlich charakterisiert, ergreift selbstbewusst die Initiative, wenn es darum geht, sich Rodolfo zu angeln. Unfreiwillig komisch wirkt sie dann im dritten Akt, wenn sie, schon dem Tode nahe, Rodolfo mehrmals wutentbrannt ihre Handtasche um die Ohren haut. Das Wuchtbrummen-Image steht ihr nicht. Nach all dem Klamauk findet die Inszenierung aber im Sterbefinale zu berührender Intimität und Ernst.

Das spielfreudige Ensemble wurde am Ende zu Recht bejubelt: Sopran Larissa Ciulei sang die Mimi souverän, höhensicher, mit Kraft. Tenor Hyun Ouk Cho als Rodolfo überzeugte mit warmem Timbre und brillanter Höhe, die nur selten etwas an Kraft verlor. Grandios Daniel Raschinsky als Marcello mit äußerst geschmeidigem, wohltönendem Bariton. Und auch Sae Joung Choi als Musetta, Hyorim Choi als Schaunard und Patrick Zielke als Colline ließen keine Wünsche offen. Unter Leitung von Bernhard Epstein sorgte die württembergische Philharmonie Reutlingen für orchestrale Farbigkeit, schönen Schmelz, aber auch harte Akzente. Und der Opernschulenchor sowie der Kinder- und Jugendchor Cantiamo Stuttgart brachten intonationssicher Lebendigkeit auf die Bühne.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 17. Juni und die Stuttgarter Nachrichten vom 16. Juni (gekürzte Version). Die Premiere fand statt am 13. Juni 2010.

Montag, 14. Juni 2010

Sieg der Tasten

Das Ensemble Il Gusto Barocco mit Cembalo-Konzerten von Johann Sebastian Bach

Stuttgart - An diesem Abend stand 5:4 nicht für den Endstand eines Fußballspiels nach Elfmeterschießen. Die Rede ist von 5 Streichern gegen 4 Cembali, wie sie im letzten Konzert der Bach-Reihe des Ensembles Il Gusto Barocco in der Gaisburger Kirche Stuttgart zu hören waren. Ein Zahlenverhältnis, das klanglich eindeutig zugunsten der Tasteninstrumente ausfiel.

Gespielt wurden die vier Konzerte von Johann Sebastian Bach für zwei bis vier Cembali und Streichorchester BWV 1062 bis 1065. Die Entscheidung von "Mannschaftskapitän" Jörg Halubek, die Streichergruppe solistisch zu besetzen und nicht wie üblich zwei- oder dreifach, darf als äußerst fragwürdige Spieltaktik angesehen werden und lieferte dementsprechend ein ebensolches Klangergebnis. Denn durch das übermächtige, gleichförmige Dauergedribbel und -getackere der Cembali gerieten die beiden Geigen, Bratsche, Violoncello und Kontrabass schon bald ins Abseits, konnten sich gegen den Druck der Kielflügel nicht durchsetzen, zumal ihre Saiten auch noch mit zierlichen Barockbögen traktiert wurden.

Nicht verständlich war auch, warum sich Halubek nicht an Bachs Anweisung gehalten hatte, das eine oder andere Konzert mit weniger als vier Cembali spielen zu lassen. Auch in den Konzerten für zwei und drei Tasteninstrumente brachte er nämlich die volle Sturmspitze zum Einsatz – vermutlich war eines von ihnen stets als Generalbass im Einsatz. Aber hätte man dafür nicht ein anderes Harmonieinstrument einwechseln können?

So beeindruckte an diesem Konzert in der Gaisburger Kirche vor allem der sportive Charakter: In den schnellen Außensätzen konnten die Kielflügel wieder einmal beweisen, dass das Cembalo der Gepard unter den Tasteninstrumenten ist: Man gefiel sich im Kontern rasender Läufe und Triller und demonstrierte in den gleichgeschalteten glitzernd-klirrenden Klangkaskaden gediegenen Mannschaftsgeist. Dabei galt das Motto: Auf die Plätze, fertig, los. Am Satzende traf man sich stets auf den Punkt, dazwischen ging gelegentlich die eine oder andere Flanke daneben. In den langsamen Sätzen schob man sich dagegen die Akkorde oft etwas zu zäh zu. Von den kunstreichen Finessen der Kompositionen wurde ohnehin selten etwas offenbar.

Die fünf Streicher mussten sich damit begnügen, gelegentlich in die wetteifernden Angriffe der Cembali hineinzugrätschen. Das aber gelang durchaus mit Eleganz und sprechender Phrasierung. Doch am Endstand änderte das nichts: 4:0 für die Tasten. Deren Fans waren immerhin begeistert.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 15. Juni. Das Konzert fand statt am 12. Juni 2010.

Samstag, 12. Juni 2010

Verloren zwischen den Welten

Ludger Vollmers „Gegen die Wand“ in der Jungen Oper Stuttgart

Gegen die Wand: Tereza Chyňavová (Sibel) und Ipca Ramanovic (Cahit). Foto: Martin Sigmund

Stuttgart - Kein Zweifel: Fatih Akins Kinofilm „Gegen die Wand“ ist ein exzellenter Opernstoff: Es geht darin um Liebe, Eifersucht, Einsamkeit und Tod. Und um ein hochaktuelles Thema mitten aus der deutschen Gesellschaft: die verzweifelte Identitätssuche der Kinder türkischer Einwanderer. Der Komponist Ludger Vollmer hat aus dem Drehbuch ein Libretto und dann eine Oper gemacht, die 2008 am Bremer Theater zur Uraufführung kam. Jetzt hat sich die Junge Oper Stuttgart diese „erste deutsch-türkische Oper“ vorgenommen und auf die Bühne des Kammertheaters gebracht.

Erzählt wird die Geschichte zweier junger Deutschtürken: Die suizidgefährdete Sibel bittet den alkoholkranken Cahit, mit ihr eine Scheinehe einzugehen. Sie will dadurch den einengenden Moralvorstellungen ihrer Familie entfliehen. Lebenshungrig stürzt sie sich nach der Hochzeit in unzählige Affären. Cahit verliebt sich in sie und tötet im Affekt einen ihrer Exgeliebten. Sibel erkennt ihre Liebe zu Cahit, verspricht, auf ihn zu warten, bis er aus der Haft entlassen wird. Doch in Istanbul beginnt sie ein neues Leben. Cahit bleibt allein.

Vollmers Musik greift den kulturellen Zwiespalt in den Herzen des Paares auf, mischt orientalische Klangmuster mit jenen der westlichen Moderne. Das formidabel aufspielende 20-köpfige Projekt-Orchester unter Leitung von Bernhard Epstein vereint Instrumente aus beiden Kulturen. Omnipräsent ist aber die orientalische Klangwelt, wie sie sich im dunkel-rauhen Flöten-Sound von Kaval und Duduk, im beschwörenden Quäken der Zurna offenbart oder im meditativen Herzschlagwummern türkischer Trommeln, über dem sich Melodien freischweben, die durchzogen sind von östlich inspirierten übermäßigen Sekunden.

Kontrastiert wird das mit feinen, zerbrechlichen Kammermusikklängen, mit großem Operngestus, mit impressionistischen Tönen. Ihre stärksten Momente hat die Musik, wenn sie mit einem Schlag von der einen in die andere Klangwelt switcht, dann oft in harte Klangkulminationen mündet, die an den mitreißenden Drive der West-Side-Story erinnern. Aber Bindemittel der Szenen ist der Rhythmus, und der Operngestus bleibt Zitat. Das geht auf Kosten der Charakterisierung der Protagonisten, die musikalisch unterbelichtet erscheinen.

Regisseur Neco Çelik hat die formalen Probleme der Oper – die sich aus den langen rein instrumentalen Phasen ergeben, in denen sich weder musikalisch noch inhaltlich viel tut – intelligent gelöst. Die Bühne von Rifail Ajdarpasic zeigt einen Alptraum in Weiß: einen hermetischen, sterilen und leeren Raum zwischen Gitterwand, Neonlicht und Kacheln, in den die Klänge des Orchesters hineindringen wie aus einer fremden Welt. Ein Ort, der Irrenanstalt, Krankenhaus und Gefängnis zugleich sein könnte. Die freie Spielfläche bietet viel Platz: Um die Vereinzelung der Individuen darzustellen und um den Projektchor aus 30 schwarz gekleideten Jugendlichen zu bewegen, der seine Sache als tänzerischer und singender Kommentator auch intonatorisch hervorragend macht. Gleiches gilt für Tereza Chyňavová als lebenshungrige Sibel und Ipca Ramanovic als autistischer, verzweifelter Cahit. Für emotionale Momente sorgen auch solistischer Ausdruckstanz (Sonia Santiago) und Breakdance (Onur Yildirim).

Es ist eine tieftraurige Welt, in der sich Sibel und Cahit verloren haben. Eine Zwischenwelt, in der Todesengel lauern, in der sich unerfüllte Sehnsucht in Autoaggression verwandelt, in der individuelle Freiheit Utopie bleibt. Man zerreibt sich zwischen pseudomoralischen, patriarchalen Familienstrukturen und einer erotomanisierten westlichen Gesellschaft. Erst kurz vor Schluss lässt Çelik die Liebenden sich umarmen. Doch da ist es längst zu spät.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 12. Juni (gekürzte Version) und nmz-online. Die Premiere fand statt am 10. Juni 2010.

Dienstag, 8. Juni 2010

Robert Schumann hat Geburtstag!

Heute wird Robert Schumann 200! Hier gibt's mein Geburtstagsessay zu lesen.

Montag, 7. Juni 2010

Verräterische Worthülse des Jahres

Guido Westerwelle auf der heutigen Pressekonferenz der Bundesregierung zum sogenannten Sparpaket: "Wir wollen doch nicht an dem Ast sägen, auf dem unser Wohlstand sitzt."

Da fragt man sich doch, wie es um einen Wohlstand bestellt ist, an dessen Ast man noch sägen muss, damit er abbricht! Nicht besonders üppig, oder?

Sonntag, 6. Juni 2010

Erzählte Abwesenheit

Uraufführung von Michael Jarrells "Le père" bei den Schwetzinger SWR Festspielen


Der-Vater

Schwetzingen
- Leichte Zigarrenwürze liegt in der Luft, schon bevor der Vorhang aufgeht im schmucken Schwetzinger Rokokotheater. Kein Wunder: Im Zentrum des Abends steht ein Werk von Heiner Müller, dem ostdeutschen Dramatiker und Intellektuellen, der sich – wie sein Vorbild Brecht – gerne mit einer Zigarre ablichten ließ. Heiner Müller mit Zigarre in der linken Hand ist fotografisch ungefähr so präsent wie Albert Einstein mit gezückter Zunge. Es ist Müllers Prosatext "Der Vater" von 1958, den sich der Schweizer Komponist Michael Jarrell vorgenommen hat, um ihn in ein "Théatre Musical" zu überführen, das bei den Schwetzinger SWR Festspielen seine am Ende umjubelte Uraufführung erlebte.

Der Qualm der Zigarre, die im Aschenbecher auf dem Arbeitstisch des Protagonisten langsam verglüht, verflüchtigt sich schnell auf den Schwetzinger Brettern, die die Welt bedeuten. Und damit auch ein wenig Müller und sein kühler Intellektualismus. Denn sein Text wird auf französisch rezitiert, was dem distanziert berichtenden, lakonischen Erzählstil eine ungewöhnliche Weichheit und Musikalität verleiht. Jarrell hat sich bei der Vertonung nicht am opernhaften Musiktheater orientiert, das die Worte singen lässt und mit Orchester arbeitet, sondern am Melodram, in dem Texte gesprochen und mit Musik unterlegt werden – ein Genre, das sich besonders im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute.

Anders als seine düsteren, geschichtsdialektischen Dramen erzählt Müllers "Der Vater" eine fassliche, anrührende Geschichte, die zum Teil wohl autobiographisch inspiriert ist: Es ist die Geschichte eines traumatisierten Kindes. Berichtet wird in Episoden, aus der Sicht des erwachsenen Mannes, der die beständige Abwesenheit seines mittlerweile verstorbenen Vaters betrauert und zu verarbeiten sucht. Der Erzähler erinnert sich, wie er als kleiner Junge erleben musste, wie sein Vater 1933 von der SA verhaftet und in ein Konzentrationslager verschleppt wurde. Oder wie er mit der Mutter den Vater im Gefangenenlager besuchte. Aber auch nach seiner Entlassung bleibt der Vater dem Leben seines Sohnes fern. Der zentrale Satz des Abend ist, ohne dass er Larmoyanz verströmte: "Ein toter Vater wäre vielleicht ein besserer Vater gewesen. Am besten ist ein totgeborener Vater".

Gilles Privat als spielender Rezitator spricht den Text wohlstrukturiert, rhythmisiert und zum Glück ohne Pathos. Jarrells Musik baut auf die attraktiven, äußerst vielfältigen klanglichen Möglichkeiten von Perkussionsinstrumenten: sechs Schlagzeuger des Ensembles "Les Percussions de Strasbourg" sind daran beteiligt, eine rhythmisch raffiniert konzipierte Klangkulisse aufzubauen, der es dank ihrer Abstraktheit, ihrer beat- und groovefreien Unbestimmtheit formidabel gelingt, Stimmungen des Textes zu transportieren und Emotionen hervorzurufen: durch unheilvolle Verdichtungen, brutale Verhärtungen oder klangsinnliche Entspannung bis zum Sphärischen, ohne sich oder den Text jemals dem Pathos auszuliefern. Der Klangkosmos der zahlreichen Schlaginstrumente wird nur durch gelegentliche elektronische Zuspielungen und drei instrumental inspirierte, meist in bedächtigem Tempo geführte Frauenstimmen ergänzt (Susanne Leitz-Lorey, Raminta Babickaite, Truike van der Poel von den Neuen Vocalsolisten Stuttgart).

Die Inszenierung von André Wilms ist schlicht und sachgerecht (Bühnenbild und Kostüme: Adriane Westerbarkey), arbeitet mit Leuchtschriften, Projektionen, Videoeinspielungen. Tendenziell illustrativ wirkt auch das stumme Bühnen-Personal, das gelegentlich durch die dezent ausgestattete Kulisse schleicht und auch mal tanzt: Ein kleiner Junge, eine Dame in weißem Brautkleid und knallroten Boxhandschuhen, ein Mann mit Hut und einem Gartenzwerg unter dem Arm. Und auch der große, braune Bär scheint einer fernen Traumwelt entstiegen zu sein.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 5. Juni und die nmz online. Die UA fand am 3. Juni statt.

Freitag, 21. Mai 2010

Die Sanduhr blutet still

Mitglieder des Staatsorchesters Stuttgart spielen Kammermusik der israelischen Komponistin Chaya Czernowin


Chaya Czernowin, Quelle: www.schott-musik.de
Chaya Czernowin

Stuttgart - Die israelische Komponistin Chaya Czernowin, 1957 geboren, wurde vor allem durch ihre Kammeroper "Pnima ... Ins Innere", die im Jahr 2000 bei der Münchner Biennale uraufgeführt worden ist, international bekannt. Dabei handelt es sich um ein hochgelobtes Werk, das sich mit dem Grauen des Holocaust aus der Sicht der Nachfahren der Überlebenden auseinandersetzt. "Pnima" hat nun am 9. Juli an der Stuttgarter Staatsoper in einer Neuproduktion Premiere. Anlass für das Staatsorchester, sich in seinem jüngsten Kammerkonzert im überraschend gut besuchten Mozartsaal der Stuttgarter Liederhalle der instrumentalen Ensemblemusik der Israelin zu widmen.

Czernowins Kammermusik charakterisiert eine wohlausgewogene Balance zwischen emotionalem Ausdruck und sachlich-distanzierter Arbeit mit dem Klangmaterial. Die Komponistin bedient sich dabei sämtlicher Klang-Vokabeln der Neuen Musik bis hin zum Geräusch, die aber niemals Selbstzweck sind, sondern stets dem detailreichen Aufbau eines zerklüfteten Zeitgefüges dienen. Im feinen, expressiven Streichsextett "Dam Sheon Hachol" (Die Sanduhr blutet still) aus dem Jahr 1992 wurde der Zeitfaktor gar zum Programm. Das Rieseln des Sandes und sein Verebben finden in zeitlupenartigen, aber gleichzeitig intensivierten Bewegungen ihre Entsprechung.

Czernowin arbeitet in großen, komplexen Zusammenhängen. Und so war "Zyklus" der zentrale Begriff im Bühnengespräch, das der musikalische Leiter des Abends, Stefan Schreiber, mit der sympathischen Komponistin führte. Drei der fünf aufgeführten, eigentlich selbständigen Stücke offenbarten dementsprechend innere Verbundenheit: "Sahaf" (Gestöber) für Saxophon, E-Gitarre, Klavier und Perkussion und "Sheva" (Sieben) für Ensemble sind genauso Part des fünfteiligen "Shifting Gravity" (Wechselnde Anziehung) von 2008 wie "Anea Crystal", das faszinierendste Werk des Abends: Es erklangen zunächst nacheinander zwei autarke, klanglich völlig gegensätzlich konzipierte Streichquartette, die dann in einem dritten Schritt noch einmal synchron als Oktett gespielt wurden. So vereinten sich extrem konträre Klangwelten: Die eine gestisch introvertiert und mit Pizzicati und Schraffuren arbeitend, die andere extrovertiert und vor allem in Glissandi sprechend.

Um übereinandergelagerte Schichten ging es auch in "Roots" (Wurzeln) aus dem Zyklus "Winter Songs" von 2003. Auch "Roots" bringt Gegensätzliches zur finalen Synthese: gesampelte Geräusche, ein Septett aus sieben sehr tiefen Instrumenten und drei elektronisch verstärkte Perkussionisten. Unter der Leitung Stefan Schreibers offenbarten die hochkonzentriert und akkurat agierenden Musiker und Musikerinnen des Staatsorchesters einmal mehr ihr Potenzial in Sachen Neuer Musik.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 21. Mai 2010. Das Konzert fand statt am 19. Mai.

Dienstag, 18. Mai 2010

Klangliche Pracht

Manfred Honeck dirigiert das Pittsburgh Symphony Orchestra

Stuttgart - Worin unterscheidet sich ein US-amerikanisches Orchester von einem deutschen? Es sitzt schon 20 Minuten vor Konzertbeginn gut gelaunt auf der Bühne und macht ordentlich Radau - natürlich zum Warmspielen. Zumindest ist das so beim Pittsburgh Symphony Orchestra, das derzeit mit seinem Musikdirektor Manfred Honeck im Rahmen einer Tournee durch Europa zieht. Im Gepäck hat man auch Johannes Brahms' Violinkonzert, in dem die Pennsylvanier der Stargeigerin Anne-Sophie Mutter als einfühlsame Partner zur Seite stehen.

Beim Meisterkonzert-Publikum im ausverkauften Beethoven-Saal der Stuttgarter Liederhalle kam die vibrierende Intensität, mit der Anne-Sophie Mutter ihre Geige bearbeitete, gut an. Ihre klare Intonation, ihre sichere Formung des quecksilbrigen Materials waren durchaus beeindruckend. Ihr fordernder Zugriff, die oft überbordende Energie, die sie verströmte, standen allerdings einer wirklich modernen Interpretation des populären Werks im Wege. Denn Mutter hörte zu wenig in die aufblühenden Klangfarben des äußerst transparent agierenden Orchesters hinein, reagierte kaum auf dessen reizvollen Impulse und betonte eher die virtuo­se Geste. Dabei stellt das Werk zwar hohe Ansprüche an die Spieltechnik, ist aber deutlich sinfonisch inspiriert - weswegen sich der Geiger Pablo de Sarasate Brahms' Violinkonzert einst mit dem Hinweis verweigerte, er lasse sich die einzige Melodie, die das Werk enthielte und die er zu Beginn des Adagios ausmachte, doch nicht von einer Oboe vorblasen.

In Mahlers Erster Sinfonie konnten die Pittsburgher vollends beweisen, was für ein hervorragender Klangkörper sie sind: der Bläserapparat mit seinen agilen Trompeten und geschmeidigen Hörnern, dem mal kichernden, mal weinenden Holz genauso wie die nicht nur in dynamischer Hinsicht äußerst flexiblen Streicher. Und Manfred Honeck liegt der suggestive Mahler-Ton, die Gleichzeitigkeit der Dinge, von der Mahlers Sinfonien stets sprechen. Der gebürtige Österreicher vermochte das den Amerikanern deutlich zu vermitteln: die krassen Gegensätze zwischen sehnender Süße und theatralischem Aufbäumen, zwischen dionysischer Jubelstimmung und finsterem Alptraum.

Wunderbar gelang der Aufbau der vier Sätze: Von der verzerrten Naturidylle des Beginns, wo der Kuckuck falsch intoniert und die Jagdfanfaren viel zu schnell und virtuos geblasen werden, über rustikale Stampftänze und subtile Wiener Walzer, über gespenstische Trauermärsche und die verklärte "Lindenbaum"-Episode bis hin zum finalen Kampf auf Leben und Tod, der in eine blecherne Schlussapotheose mündet. Kein Wunder, dass das Publikum am Ende euphorisiert applaudierte. Dafür wurde es von den Pittsburghern mit delikat gespielten Wiener und Ungarischen Tänzen belohnt.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 18. Mai 2010. Das Konzert fand statt am 16. Mai.

Freitag, 7. Mai 2010

Von Dauerpower zu lauer Dauertrauer

Patricia Kopatchinskaja, Sol Gabetta und Henri Sigfridsson in der Stuttgarter Liederhalle

Stuttgart - Der arme Haydn. Noch immer werden seine Werke mit Wonne zu Warmspielnummern degradiert. So auch am Mittwoch im bejubelten Konzert des Trios Kopatchinskaja-Gabetta-Sigfridsson im ausverkauften Mozartsaal der Stuttgarter Liederhalle. Im G-Dur-Klaviertrio ließ man Haydns Geist mitleidlos in massivem Klaviergedonner ertrinken. Gegen Henri Sigfridssons Prankenkraft kam in den beiden ersten Sätzen weder Patricia Kopatchinskajas auf rauhe und fahle Gegensätze bauendes Violinspiel noch Sol Gambetta am Cello an, deren kommunikativ-fröhliche Gestik in Sachen klanglicher Ausgewogenheit kein Echo fand. Im Finale bretterte man dann gemeinsam drauflos, damit bloß niemand auf die Idee kommen konnte, das Rondo all'ongarese sei eventuell nicht den feurigen ungarischen Teufelsgeigern abgelauscht.

Nach einer so anspruchsvollen Etüde war man warm für die "Episodi e Canto perpetuo" des 1946 geborenen lettischen Komponisten Peteris Vasks. Jetzt hielt sich der Pianist in angemessener klanglicher Distanz zu den beiden Streicherinnen, was angesichts der Vasksschen Dauertrauer in acht Sätzen aber auch gar nicht anders ging. Der virtuose Gestus ist in Vasks' kreisender, flächiger Musik sehr zurückgeschraubt. Der große Spannungsbogen dieses langen Lamentos aus unterschiedlichen Stimmungen und Farben gelang dem Trio vorzüglich.

Brahms' Klaviertrio op. 8 in der späten Fassung von 1889 mangelte es dann aber zumindest in den Außensätzen wieder an klanglicher Balance – und damit wohl auch an Vorbereitung. Sigfridsson fiel vor allem durch virtuose Selbstdarstellung auf. Dafür bot Sol Gabetta mit ausnehmend gefühlvoll gespielten Kantilenen eine Kostprobe ihrer unaufdringlichen Perfektion, während Kopatchinskaja im Scherzo und Adagio ihr Gespür für ungewöhnliche und überraschende Tonfälle zur Geltung brachte.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 7. Mai 2010. Das Konzert fand statt am 5. Mai.

Mittwoch, 5. Mai 2010

Tierisch vergnügt

L'Orfeo Barockorchester mit englischer Musik

Stuttgart - Des Herrgotts Tiergarten ist groß. Auch jener der Barockmusik. Da kreucht und fleucht es zwischen den Notenlinien, dass es eine Freude ist. Anders als die nachfolgenden Generationen, die tierische Töne als „niedrig komische Nachäffungen“ verpönten, hatten die Perückenträger daran noch ihr Pläsier. Besonders beliebt: der Kuckuck und anderes Gefieder. Aber auch Fledermäuse, Bienen und Affen kamen zu "Wort" beim L'Orfeo Barockorchester, das beim Festival Stuttgart Barock den gut besuchten Konzertsaal der Musikhochschule mit Werken von Purcell, Händel und anderen Engländern aufmischte.

Zwar stand die Veranstaltung unter dem Motto „Ouvertüren und Arien nach Shakespeare-Texten“, aber Feen und Hexen machten sich rarer als die animalische Fraktion. Nicht nur in Purcells „Monkeys' Dance“ zeigte das Ensemble auf historischen Instrumenten und unter Leitung seiner Gründerin Michi Gaigg, wie fetzig man im Barock wohl musiziert hat: rhythmisch vibrierend, scharf akzentuiert, sprechend phrasiert und sehr geschmeidig in den Basslinien. Zum flirrend-tänzerischen Drive, der einen beim Zuhören gleich mitriss, passte aber nicht so ganz der feierliche Ernst, mit dem man zunächst zur Sache ging, so dass niemand zu klatschen wagte zwischen den Stücken.

Nach der Pause änderte sich das. In Händels witzigem Orgelkonzert in F-Dur, das einen Wettstreit zwischen Kuckuck und Nachtigall in Töne setzt, zeigte sich die Spielleidenschaft auch äußerlich; nicht nur, weil Johannes Bogner am etwas fipsigen Orgelpositiv jetzt mimisch klarstellte, dass das Ganze nicht gar so bierernst gemeint ist. Schließlich kriegt der Kuckuck von der Nachtigall ordentlich eins auf die Mütze, wird doch sein schlichtes Geterze vom Singschwall der Primadonna schlichtweg an die Wand ge­donnert.

Besonders reizvoll gestalteten sich die Arieneinlagen der charismatischen holländischen Sopranistin Johannette Zomer, die über eine angenehm dunkel timbrierte, sonore Stimme verfügt. In Händels „Sweet bird“-Arie und in Thomas Augustine Arnes „Cukoo-Song“ zwitscherte sie koloraturen- und höhensicher um die Wette mit der nicht weniger virtuosen Flötistin Carin van Heerden. Der anregende Konzertnachmittag wurde denn auch freudig bejubelt.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 4. Mai 2010 und die Esslinger Zeitung vom 5. Mai. Das Konzert fand statt am 2. Mai.

Montag, 3. Mai 2010

Vom Flüstern bis zum Donnern ein Klangstrom

In Höchstform: Stuttgarter Philharmoniker mit Gustav Mahlers dritter Sinfonie

Stuttgart - Ohne die Entgiftung des Lebens durch Humor könne er der Tragik der menschlichen Existenz nicht standhalten, sagte Gustav Mahler einmal. Humor hatte der Mann zweifellos: Als ihn der junge Bruno Walter in seinem Komponierhäusl im österreichischen Steinbach am Attersee besuchte und seinen Blick über das dortige imposante Höllengebirgspanorama schweifen ließ, kommentierte Mahler: "Da brauchen Sie gar nicht mehr hinzusehen - das habe ich schon alles wegkomponiert." Das war im Sommer 1896, da saß er gerade an seiner dritten Sinfonie.

Die Vielfalt der Natureindrücke, die Mahler in sich aufgesogen, gebändigt und in transzendierter Gestalt zwischen die Notenzeilen seiner Dritten gebannt hat, brachten die Stuttgarter Philharmoniker unter ihrem Chef Gabriel Feltz im Stuttgarter Beethovensaal formidabel zur Entfaltung. Die eineinhalb Stunden, die das sechssätzige Monument dauert, waren im Nu vorbei: eine hochspannende Aufführung, in der es Feltz vom ersten bis zum letzten Takt gelang, das ständig sich wandelnde, zuweilen gebirgsartig zerklüftete und oft hart geschnittene Material in einen pulsierenden Klangstrom zu überführen.

Die Philharmoniker waren in Höchstform: wunderbar die dynamische Spannweite vom Flüstern im vierfachen Piano bis zum tosenden Donnern. Herrlich die Umsetzung der schroff kontrastierenden Charaktere. Himmlisch der transparente Streicherschmelz im tiefgründig und bedächtig dahinfließenden Finale. Und wieder einmal furios auftrumpfen konnten die Holz- und Blechbläser, die besonders im ersten Satz mit seiner Collage aus wilden Militärmärschen, herziger Blasmusi und Volksmelodien, die in düstere Blech-Fanfaren umgedeutet werden, ihr ganzes Potenzial an Klangfarben, Präzision und Charakterisierungskunst offenbaren konnten.

Gabriel Feltz' besondere Qualitäten zeigten sich vor allem in den quecksilbrig-wuselnden scherzohaften Passagen, in den sensibel gestalteten Übergängen und in den beeindruckenden Steigerungen, die er stets pointiert zum Höhepunkt brachte. Dagegen waren verinnerlichte, äußerlich eher ereignislose Momente wie die Posthorn-Episode seine Sache nicht. Hier bremste er das Orchester gelegentlich zu sehr, was auf Kosten der freien Farbentfaltung ging. Und auch das Mahlersche Misterioso geriet ihm ein bisschen zu erdverbunden.

In Alexandra Petersamer hatte man eine Idealbesetzung für die Alt-Partie gefunden. Ihr warmes, dunkles, anrührendes Timbre verlieh den Nietzsche-Worten "O Mensch, gib acht" im vierten Satz bedeutungsvolle Tiefe und harmonierte im fünften ganz prächtig mit den Frauenstimmen des Tschechischen Philharmonischen Chors Brünn sowie mit den Aurelius Sängerknaben aus Calw, die das Wunderhorn-Bim-Bam eindrücklich und plastisch zum Schwingen brachten. Das Publikum im voll besetzten Beethovensaal war am Ende hingerissen.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 3. Mai 2010. Das Konzert fand statt am 30. April.

Mittwoch, 28. April 2010

Leuchtende Schönheit

Der Pianist Krystian Zimerman spielt Chopin

Stuttgart – Als Chopin-Experte dürfte der Pianist Krystian Zimerman das Jahr 2010 wohl auf ganz besondere Weise genießen. Das Jubeljahr zum 200. Geburtstag des polnischen Komponisten feierte er bei seinem jüngsten Soloauftritt im voll besetzten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle dann auch mit einem reinen Chopin-Programm.

Dass ihm der Romantiker nicht nur als Landsmann, sondern auch in seinem emotionalen Impetus nahesteht, offenbarte sich im letzten Jahr: Da geriet Zimerman in die Schlagzeilen, weil er sein Konzert in Los Angeles unterbrochen hatte, um der US-Regierung – als Widerstand gegen deren geplante Stationierung eines NATO-Raketenschildes in Polen – ein "Hände weg von meinem Land!" zuzuschmettern, verbunden mit der Ankündigung, niemals mehr in den USA aufzutreten. Leise hallte in dieser Aktion das Bonmot Robert Schumanns wider, dem Chopins Werke "in Blumen eingesenkte Kanonen" waren.

In seinem Recital in Stuttgart bot der 53-Jährige einen feinen Querschnitt durch das Oeuvre Chopins, das heute zum Kernrepertoire aller Tastenlöwen gehört, begann verträumt mit dem Fis-Dur-Nocturne, das wie ein Motto über dem Abend stand – ist doch die nächtlich-dunkle, unbewusste Zustände widerspiegelnde und oft lyrische Ausdruckswelt der Nocturnes besonders charakteristisch für Chopin.

Der zweiten Sonate in b-Moll entlockte Zimerman dann eine ungewohnt harte Seite Chopins, ohne aber diese dramatische Erzählung in vier Akten zur formalen Rundung zu bringen: Kopfsatz und Scherzo nahm er mit sehr kompaktem, monochromen Zugriff, oft verwaschen in den Konturen und zu brachial in den donnernden Akkordketten. Der knochentrocken gespielte, berühmte Trauermarsch und sein konträr lyrischer Mittelteil wirkten dagegen wie ein Fremdkörper im Ganzen, wenn auch das finale Presto einen furiosen Schlusspunkt setzte. Doch blieb man von dieser Sphäre des Albtraumes, der in die Katastrophe führt, seltsam unberührt.

Dagegen wirkte das zweite Scherzo in b-Moll viel zu freundlich, zumindest war sein eigentlich dämonischer, bizarr-geheimnisvoller Charakter abgedämpft. Überhaupt ist die Tonart b-Moll, die die erste Hälfte des Abends bestimmte, ja eine der finstersten. Der kluge Christian Friedrich Daniel Schubart sagte ihr gar "eine Vorbereitung zum Selbstmord" nach.

Nach der Pause erschien Zimerman dann aber wie verwandelt. Chopins dritte Sonate in h-Moll riss vom ersten Ton in Bann. Phänomenal, wie plastisch der Interpret die feinen farblichen Nuancen, die entfesselten Emotionen und abrupten Stimmungswechsel des balladesken Kopfsatzes, des geisterhaft-flirrenden Scherzos, des nachttrunkenen Largos und des lebensstürmischen Finales zur Entfaltung brachte. Und wie entspannt, ungeheuer präzise und rein er das virtuos-figurative Spielwerk in schaumig-leichte Wogen und sanft gezeichnete Linien verwandelte. Nun fieberte das Ohr nach jedem neuen Klang und erfreute sich an Momenten von ungewöhnlich leuchtender Schönheit. Einen besseren Chopin wird man live derzeit wohl kaum hören können. Nicht erst die abschließend gespielte Fis-Dur-Barcarolle und die Walzer-Zugabe honorierte das Publikum deshalb mit tosendem Beifall.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 26. April 2010. Das Konzert fand statt am 23. April.

Montag, 26. April 2010

Feurig bis zart-silbrig verwehend

Stuttgarter Philharmoniker und Reinhard Goebel mit "Mozart in Paris"

Stuttgart - Wohl ein ziemlich heißblütiger Mann war Johann Christian, der jüngste Spross des alten Bach. Zumindest vermittelte sich dieser Eindruck am Samstag im Konzert der Stuttgarter Philharmoniker, die unter der aufgeregten Gestik ihres Gastes am Dirigentenpult, des Experten für historische Aufführungspraxis Reinhard Goebel, die Ouvertüre und Suite aus Bachs Oper "Amadis de Gaule" zum Besten gaben: Rhythmisch inspiriert, farbreich abschattiert, kurz: mitreißend gestaltete man die rasanten Sätze, in denen der Töneschmied, genannt der "Londoner Bach", auch sein ausgeprägtes Gespür für raffinierte Instrumentation offenbarte.

Mehr im ausschwingenden Melos der Andantes und Largos verriet sich Johann Christians Vorbildcharakter für den jungen Mozart. Dessen divertimentohafte Sinfonie concertante für vier Bläser und Orchester wirkte gegen das Bachsche Feuer allerdings fast schon behäbig – was keineswegs an den Musizierenden lag. Doch gab sie der Bläserfraktion der Philharmoniker in Gestalt der Herren Stolz, Fellhauer, Helbig und Lehmann die Möglichkeit, nicht nur ihre ausgezeichneten solistischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, sondern auch ihre schmucken Instrumente – allen voran das goldene Horn und das rotfuchsfarbene Fagott – einmal ganz unverstellt in erster Reihe zu präsentieren.

Mit Mozarts C-Dur-Konzert für Harfe und Flöte wurde es dann noch entspannter, zumal die Harfe (Emilie Jaulmes) dem Orchester einige Spielpausen verschaffte, in dem sie allein und zart-silbrig verwehend die zierlichen Flötentöne von Thomas von Lüdinghausen begleitete. Erst Mozarts "Pariser Sinfonie" konnte dem ungeheuren Drive Johann Christian Bachs das Wasser reichen. Die Besucher im voll besetzten Beethoven-Saal waren aber nicht erst jetzt hellauf begeistert.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 26. April 2010. Das Konzert fand statt am 24. April.

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