Musikfest Stuttgart: In der "Großen Stuttgarter Nachtmusik" präsentierten sich Vielfalt und Qualität
Vor dem "Fruchtkasten", der Musikinstrumentensammlung des Landesmuseums, wurde ganz schön gedrängelt. Die letzten Einlasskarten, die Bachakademie-Intendant Christian Lorenz am Samstagabend ein bisschen gestresst in die Luft hielt, waren heiß begehrt und die 100 Plätze im Inneren des ehemaligen Kornspeichers schnell besetzt. Dort sangen die vier Absolventen des Meisterkurses der Brüder Stenzl Schumanns "Spanische Liebeslieder". Vor allem der junge Tenor Sebastian Kohlhepp konnte hier sein lyrisches Gespür zur Geltung bringen. Das Klavierduo selbst begleitete am exotischen Pleyel-Doppelflügel von 1898.
Das war nur eines von 15 Programmen der "Großen Stuttgarter Nachtmusik", in der regionale Künstler, Chöre und Ensembles, Profis und Laien, an vier Orten rund um den Schillerplatz dem vielfältigen musikkulturellen Spektrum der Landeshauptstadt eindrücklich Gehör verschafften. Und ein weiteres ungewöhnliches Konzertformat, mit dem die Bachakademie derzeit ihr Musikfest aufwertet. Das Interesse war groß, die Veranstaltungen auch in der Schlosskirche, der Dürnitz-Halle des Landesmuseums und der Stiftskirche voll. Von Konzert zu Konzert zu wandeln kommt an.
Vielseitiger und damit attraktiver sei das Musikfest geworden - ein Grund, nach Jahren der Abstinenz mal wieder vorbeizuschauen, bekundet ein Ehepaar vor der Schlosskirche. Hier gibt es gleich Gereon Müller und sein Rondo Vocale zu hören: einen Laienchor, der in A-cappella-Werken von Schütz, Brahms und Lauridsen zwar mit intonatorischen Problemen zu kämpfen hatte, aber auf gestalterischer Ebene alles gab. Danach zum Flügelschlag-Quartett, das mit Georg Crumbs "Music for a Summer Evening" für zwei Klaviere und Perkussion klangmagisch die Geister der Nacht beschwor. Die schlauchartige Stühlereihe im Dürnitz-Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt - selten genug bei Neuer Musik.
Der glänzend organisierte Abend, zu dem gut 3000 Besucher fanden, bereitete nur ein Problem: die Qual der Wahl! Die Konzerteinheiten waren mit 40 Minuten etwas zu lang, so kam man in den fünf Stunden Programm nur durch fünf Konzerte. Wer am Ende allerdings zum exzellenten Philharmonia-Chor unter Johannes Knecht gefunden hatte, bereute seine Entscheidung nicht: Die Abendlieder von Bach, Reger und Rheinberger boten das schönste musikalische Betthupferl.
Besprechung für die Stuttgarter Nachrichten vom 13.9.2010. Die "Große Nachtmusik" fand statt am 11.9.
eduarda - 13. Sep, 17:46
Musikfest Stuttgart mit Werken von Dieterich Buxtehude und Uri Caine
Für Experten der historischen Aufführungspraxis mag der Abend ein übersüßes Häppchen gewesen sein. Um der Popularität des Barockkomponisten Dieterich Buxtehude aber auf die Sprünge zu helfen, machte es Effekt, dass man beim Stuttgarter Musikfest dessen Passionskantatenzyklus "Membra Jesu Nostri" ("Glieder unseres Jesus") mit großem Instrumentalensemble, 16-stimmigen Chor und zusätzlichen Solisten zur Aufführung brachte.
In der locker gefüllten Domkirche St. Eberhard kam die Intimität, die bei einer historischen Besetzung mit fünf Solisten, zwei Geigen und Basso continuo entstanden wäre, zwar nicht auf. Dafür stellte die satte Klanglichkeit, mit der das Rilke-Ensemble und Il Suonar Parlante unter Vittorio Ghielmi die sieben Hymnen auf die "allerheiligsten Gliedmaßen unseres leidenden Jesus" zum Schwingen brachten, die überwältigende harmonische und kontrapunktische Meisterschaft des dänisch-deutschen Komponisten eindrücklich unter Beweis.
Das auf historischen Instrumenten spielende Ensemble Il Suonar Parlante sorgte für die rhythmisch-metrische Pulsierung und lebendige Phrasierung, die schwedischen Chorsänger für blühende harmonische Landschaften, in denen sie vibrierende Dissonanzen und ihre schönen Auflösungen genussvoll zur Entfaltung brachten. Unter den Gesangssolisten fügten sich die Frauenstimmen von Graciela Gibelli, Hélène Le Corre und Gabriella Martellaci besser in das Gesamtgefüge ein als Tenor Markus Brutscher und Bass Gianluca Buratto, die beide gelegentlich durch emotionale Überambitioniertheit ein wenig aus dem Rahmen fielen.
Zu Beginn des Abends hatte die Uraufführung eines Werks des musikalischen Grenzgängers Uri Caine geschmackssicher auf das Folgende eingestimmt: Caines Chorstück "Mortalis Sonans" arbeitet mit Zitaten aus Buxtehudes Passionszyklus, verfremdet sie, konterkariert sie mit harten, schrägen E-Gitarrenklängen (Nguyên Lê) und irritierendem arhythmischen Stampfen und Brustklopfen des Chores.
Mit Knut Nystedts "Immortal Bach", in dem Bachs Choral "Komm, süßer Tod" in verschiedenen Zeitabläufen gesungen wird, wodurch sich die Stimmen langsam im Cluster verlieren, fand der Abend ein wirkungsvolle Abrundung.
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 11.9.2010. Das Konzert fand statt am 9.9.
eduarda - 11. Sep, 11:19
Musikfest Stuttgart: Mendelssohns "Sommernachtstraum" mit dem Klavier-Duo Grau/Schumacher und Klaus Maria Brandauer
Stuttgart - Bei einem Sommer-Musikfestival zum Thema "Nacht" darf Felix Mendelssohn Bartholdys Konzertouvertüre und Schauspielmusik zu William Shakespeares "Ein Sommernachtstraum" natürlich nicht fehlen. Leider nur hatte sich die Internationale Bachakademie für die Aufführung am Sonntag im Stuttgarter Theaterhaus (aus Kostengründen?) für eine Fassung für Klavier zu vier Händen entschieden. So stand dem schauspielernden Rezitator Klaus Maria Brandauer nun kein Orchester, sondern das Klavierduo Andreas Grau und Götz Schumacher musikalisch zur Seite.
Der „Sommernachtstraum" auf Klavier? Das ist für die Ohren das, was für die Geschmacksnerven Knäckebrot bedeutet, wenn sie eigentlich ein Festmenü erwarten. Die flirrend-durchsichtige Elfenmusik, der breit aufgefächerte Farbenbogen der Instrumente, die vibrierende, dynamische Spannweite, die die Orchesterpartitur einfordert: All das lässt sich auf dem Klavier nur andeutungsweise nachempfinden. Grau und Schumacher hatten dazu noch gegen ein anderes Manko zu kämpfen: Die Akustik des großen Theaterhaus-Saales saugt, wenn dieser wie an diesem Abend bis auf den letzten Platz gefüllt ist, jegliche Aura aus den Tönen.
Dabei gaben sich die beiden Pianisten redlich Mühe, den schnellen Läufen, den geheimnisvollen Harmonien, die in das Feenreich entführen, Magie zu verleihen. Aber die blieb aus. Stattdessen: staubtrockene Klanglichkeit und etüdenhaftes Passagenwerk. Überzeugend gestalten ließen sich nur die Rüpeltänze der Handwerker, der Hochzeitsmarsch, aber immerhin auch das getragene, gefühlvolle Nocturne.
Weil sich unter diesen Umständen nur die „Eckdaten" der Partitur vermittelten, wirkte die aufgedrehte, schier purzelbaumschlagende Rezitation des österreichischen Bühnenstars Klaus Maria Brandauer oft reichlich übertrieben - ihr fehlte die satte Fülle des Orchesters als Gegenstück. Der vollbärtige, beleibte Mime trug seine selbst eingerichtete Kurzfassung des Dramas mit Inbrunst und mit jener Selbstsicherheit berühmter Künstler vor, die vom Bewusstsein getragen wird, das Publikum von vornherein in der Tasche zu haben. In jedem Wort suhlte sich Brandauer, sprang virtuos durch alle Register seiner Stimme, verlieh den Feen und Rabauken comicfigurenhafte Schärfe: Ob der tumbe Puck hechelnd Befehle ausführte, die Handwerker im schnoddrigen, gelegentlich auch mal schwäbelnden Jargon ihre "tragische Komödie" probten oder der bärbeißige Oberon sich mit der hochnäsigen Titania herumstritt. Da konnte Brandauer aus dem Vollen schöpfen: wenn er vom grummelnden Bass über unterwürfiges Kläffen virtuos ins kichernde Falsett switchte. Allein, die Wucht seiner Darstellung erschlug die Musik. Das Publikum störte dies wenig, tobte am Ende und feierte seinen Liebling mit Standing ovations.
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 7.9.2010. Das Konzert fand statt am 5.9.
eduarda - 7. Sep, 11:05
Musikfest Stuttgart: Requiem und "Der Rose Pilgerfahrt" von Robert Schumann mit dem Chorus Musicus Köln und Christoph Spering
Stuttgart - Dank des Musikfestes, so hört man derzeit aus dem Munde so mancher seiner Besucher, lerne man Stuttgart endlich mal richtig kennen. Zu den vielen Örtlichkeiten, die in diesem Sommer bespielt werden, gehört auch das Römerkastell. In der dortigen Phönixhalle, einer ehemaligen Reithalle, fand am Samstag das zweite Konzert der Robert-Schumann-Hommage statt.
Christoph Spering und seine Ensembles Chorus Musicus Köln und Das Neue Orchester interpretierten zwei selten zu hörende Spätwerke Schumanns: sein Requiem und das Oratorium "Der Rose Pilgerfahrt". Beide Werke komponierte Schumann innerhalb seiner dreieinhalb Düsseldorfer Jahre, in denen er wie im Rausch ein Drittel seines Gesamtwerks schuf, denen aber auch sein Suizidversuch und die anschließende Unterbringung in der Endenicher Nervenklinik folgten.
Schumanns Requiem dürfte in seiner subjektiven Verinnerlichung ein Unikum in der Geschichte der Gattung darstellen. Anders als viele seiner Zeitgenossen, etwa Berlioz und Verdi, baute er nicht auf monumentale Klanglichkeit, krasse musikalische Bildhaftigkeit und dramatische Ausgestaltung, sondern entschied sich für zweifelnde, narrative, fragende Gesten. Der "Tag des Zorns" kündigt sich dementsprechend sanft und wiegend an, nicht mit Pauken und Trompeten. Nur wenn von der Hölle die Rede ist, braust die Musik gelinde auf.
Christoph Spering, bekannt für seine Ausweitung der historischen Aufführungspraxis auf das 19. Jahrhundert, gelang eine konzentrierte Ausdeutung dieser in ihrer Zurückgenommenheit erschütternden Komposition. Seine Ensembles gingen mit einer solch inneren Ruhe zur Sache, dass das Requiem beinahe zum meditativen Erlebnis wurde. Und das bei einer Dauer von nur 35 Minuten! Zum Vergleich: Verdi brauchte 90, Berlioz gar 110, um sich zu den Themen Tod und Jenseits, Sünde und Vergebung musikalisch zu äußern. Sorgfältig, bis auf wenige Wackler intonationssicher, plastisch und in der Dynamik leiseste Bereiche nicht scheuend glückte allen Beteiligten der große Bogen: vom todtraurigen Requiem aeternam über das lichte Dies irae bis hin zum finalen, ätherischen Agnus Dei, das man kaum hörbar veratmen ließ. Ins durchsichtige Klangbild fügten sich auch die vier stimmlich schlanken, fein gestaltenden, sich wunderbar ergänzenden Gesangsolisten Antonia Bourvé (Sopran), Olivia Vermeulen (Alt), Daniel Behle (Tenor) und Tobias Berndt (Bass) ein.
Gemeinsam mit Britta Stallmeister (Sopran) sorgten sie auch in "Der Rose Pilgerfahrt" für die sensible, lyrische Darstellung innerseelischer Vorgänge. Das Werk ist ein hochromantisches, textlich etwas rührseliges Märchenstück um Leiden, Lieben und Sterben einer Mensch gewordenen Rose, die am Ende zum Engel wird und ihren Tod als glückliche Erlösung empfindet: "Das ist kein bleicher, schwarzer Tod. Das ist ein Tod voll Morgenrot!" An musikalischen Ideen aber ist das Werk reich, wie sich etwa im blechbläserbegleiteten Männerchor der Jäger zeigte oder im Frauenchor der Elfen. Besonders die Sopran- und Alt-Stimmen des Chorus Musicus überzeugten durch glasklare Intonation und perfekte Balance.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 7.9.2010. Das Konzert fand statt am 4.9.
eduarda - 6. Sep, 11:26
Kurt Weills Kinderpantomime "Zaubernacht" wird beim Musikfest Stuttgart wiederbelebt
Stuttgart - Ein Safe ist ein guter Aufbewahrungsort für Notenmaterial. Trocken ist es in seinem Innern und dunkel. Gut fürs Papier und die Notenschrift. Wenn man den Inhalt des Safes aber vergisst und den Safe dann in einen Keller schafft, ohne ihn vorher noch mal zu öffnen, wird er schnell zum Grab für die Musik. Auf diesem Weg ist in den 1960er Jahren das originale Orchestermaterial zu Kurt Weills erstem Bühnenstück, der Kinderpantomime "Zaubernacht", der Welt abhanden gekommen. Das Werk in seiner ursprünglichen Gestalt galt seitdem als verschollen.
Weill komponierte die "Zaubernacht" im Sommer 1922 als Kompositionsstudent von Ferruccio Busoni auf ein Szenarium des russischen Theaterimpresarios Wladimir Boritsch. Es wurde noch im selben Jahr am Berliner Theater am Kurfürstendamm uraufgeführt. Das Werk erschien nicht im Druck, und die originale Partitur ging verloren: Weill musste sie bei seiner Flucht vor dem nationalsozialistischen Terror 1933 wie vieles andere in Deutschland zurücklassen. Das Orchestermaterial hatte Boritsch zuvor mit in die USA genommen, wo er "Zaubernacht" in einer gekürzten, stark bearbeiteten Version 1925 in New York noch einmal zur Aufführung brachte. Nach Boritschs Tod 1954 übergab seine Witwe das Notenmaterial an die Yale Universität, wo es im Safe verschwand, vergessen und erst 2005 bei einer Entrümpelungsaktion wiederentdeckt wurde. Die aufgefundenen Orchesterstimmen verwendete die Kurt Weill Edition im Jahr 2008 als Grundlage für die kritische Ausgabe der Partitur.
Dass sich die Internationale Bachakademie Stuttgart jetzt innerhalb ihres Musikfestes dieses Stücks angenommen und es erstmals seit 1925 und erstmals in der originalen Gestalt der Uraufführung von 1922 inszeniert an das Licht der Öffentlichkeit gebracht hat, war also ein spannendes, lobenswertes Unterfangen. Und es hat sich gelohnt: 55 mitreißende Minuten gut tanzbarer Musik hat die "Zaubernacht" zu bieten, und die Stuttgarter Choreografin Nina Kurzeja hat mit ihrer Compagnie daraus eine feine Ballettpantomime gemacht.
Der Plot orientiert sich an einem beliebten Musiktheater-Genre: Eine Zauberfee erweckt mit ihrem Gesang (Nastasja Docalu) das Spielzeug zweier schlafender Geschwister zum Leben und verursacht damit zwischen Geisterstunde und erwachendem Morgen einigen Wirbel im Kinderzimmer. Bär, Soldat, Stehaufmännchen und Puppe geraten den Kindern schon bald aus dem Ruder.
Kurzejas Choreografie changiert zwischen Pantomime, klassischem Ballett und Tanztheater und kontrastiert auf der minimalistisch ausgestatteten quadratischen Tanzfläche des Theaterhauses Stuttgart Tobeszenen (wie das Herumtollen der Kinder mit einem boxenden Pferd oder ihren Kampf mit dem nervenden Stehaufmännchen auf Rollschuhen) mit bewusst eckigen, formal strengen Gruppentänzen. Wie auch die durchkomponierte Partitur zwischen freieren und festen Formen wechselt: Eingerahmt durch eine impressionistische Traummusik für die Realität, teilt sich die traumartige Haupthandlung in einer Folge von recht realistischen Tanzsätzen mit, die immer wieder durch freiere Passagen aufgelockert werden. Tempi und Rhythmen ändern sich häufig. Der 22-jährige Weill zeigt sich schon hier als Meister der Stilmixtur: Taumelige Walzerseligkeit und aufmüpfige Märsche, alte und zeitgenössische Tänze, Jazz, Salonmusik, aber vor allem auch die musikalische Moderne und ihr Neoklassizismus werden auf geheimnisvolle Weise in ein musikalisches Fluidum überführt, dem man stundenlang zuhören könnte. Dabei ist die Musik keineswegs so freundlich, wie sie auf den ersten Blick vielleicht erscheint. Der Traum gebiert Ungeheuer. Das steckt auch in der Partitur. Doppelbödig, ironisch, grotesk wird's, wenn die Dur-Moll-Tonalität von "falschen" Verläufen überlagert wird, wenn die Haupt- und Nebennoten munter in alle Richtungen springen und der Rhythmus gewalttätig die Oberhand gewinnt.
Das 10-köpfige Arte Ensemble Hannover aus Flöte, Fagott, Schlagwerk, Klavier und Streichquintett macht seine Sache hervorragend: klar, transparent, farbig, rhythmisch akzentuiert, hochexpressiv, mit dem nötigen Biss.
Vielleicht ist das das Manko der Choreografie: Dass sie das Skurrile der Partitur zu wenig übertreibt und dadurch nivelliert. Das siebenköpfige Tanzensemble ist zwar virtuos, engagiert und quirlig bei der Sache, und das Bühnengeschehen ist schön anzuschauen, aber es packt einen nicht wirklich. Das Angsteinflößende der Nacht bleibt abwesend, weil die Tanzcharaktere zu brav in Erscheinung treten: Der Pilot (Erik Reisinger) breitet die Arme aus und fliegt seine Bahnen, das Stehaufmännchen (Tom Baert) fährt seine zappeligen Pirouetten auf Rollschuhen, die mechanisch stampfende Barbiepuppe in pinkfarbenen Latex-Outfit (Alexandra Brenk) verströmt zwar Eros, bleibt aber zu wenig übergriffig. Und der Hampelmann als Zwitter aus Pierrot und Gevatter Tod (Katharina Erlenmeier) wirkt zwar schwer melancholisch, stellt aber nicht mal andeutungsweise eine Gefahr dar. Wirklich skurril ist nur die wunderbar tapsige Oma Bär (Diane Marstboom). Und auch die Kinder (Cedric Huss und Kira Senkpiel), die zwischen Angstgefühlen, Überwältigung, Naivität und frechem Überschwang hin- und hergerissen sind, überzeugen in ihrer Rollenauslegung.
In theatraler Hinsicht ließe sich aus der "Zaubernacht" sicherlich noch mehr herausholen. Dem Stück wünscht man jedenfalls einen Stammplatz im Bühnentanzrepertoire. Das hat sich in Stuttgart zumindest auf musikalischer Ebene eindrücklich bewiesen.
Rezension für nmz-online. Die Premiere fand statt am 2. September 2010.
eduarda - 5. Sep, 23:50
Musikfest Stuttgart: Helmuth Rilling dirigiert Claudio Monteverdis „Marienvesper“
Stuttgart - Nach der weltlichen Festival-Ouvertüre am Samstag gab es beim Stuttgarter Musikfest am Sonntag ein zweites Eröffnungskonzert: die geistliche Variante für das Stammpublikum der Bachakademie, das sich am Tag zuvor rar gemacht hatte. In der ausverkauften Stiftskirche läuteten Helmuth Rilling und seine Ensembles mit Claudio Monteverdis „Marienvesper“ gleichzeitig das „Vesper-Projekt“ ein - jenen der vielen Festival-Stränge, der sich dem Musikfest-Motto „Nacht“ von der kirchlichen Seite her nähert: dem musikalischen Abendgebet.
Ob Monteverdis „Marienvesper“, die Vertonungen von Psalmen, Hohelied-Paraphrasen, einem Hymnus und dem Magnificat vereint, allerdings zum liturgischen Gebrauch gedacht war, ist bis heute umstritten. Sicher ist aber, dass es wahrlich revolutionär war, was der spätere Kapellmeister des Markusdoms in Venedig 1610 in diesem Werk zum Ausdruck brachte. Entstanden in einer Zeit des musikalischen Umbruchs, wie es die Einführung im Programmheft anschaulich darstellt, manifestiert sich hier der Wandel vom alten niederländischen Motetten-Stil und seiner noch stark an den Cantus Firmus gebundenen Kontrapunktik hin zum freieren italienischen Stil und seiner Orientierung an opernhafter Theatralik und virtuos-konzertantem Duktus.
Die Bachakademie hatte gut daran getan, das Werk nicht in der Liederhalle, sondern in der Stiftskirche aufzuführen, wo man die räumlichen Möglichkeiten für die Doppelchörigkeit und die effektvollen, oft mit Sprachspielen verbundenen Echowirkungen trefflich nutzen konnte. Die Gesamtaufführung allerdings bleibt äußerst zwiespältig in Erinnerung. Eine so vorsichtig agierende, dadurch unrein intonierende, im rhythmischen Gefüge unpräzise Gächinger Kantorei, wie sie sich zu Beginn zeigte, hat man selten gehört. Ohnehin wäre in dieser eher intimen, sehr sinnlich inspirierten Musik eine kleinere Besetzung effektvoller gewesen - die beiden Chöre bestanden jeweils aus 20 Stimmen. Aber im Laufe des Abends wurde das Ensemble freier und fand dann doch partiell zu homogenem Schönklang zusammen. Freilich vermisste man den Mut zu jenen vibrierenden, feinen Reibungen, die den Reiz dieser Musik ausmachen. Spannung baute sich vor allem auf, wenn die vorzüglichen Solisten am Geschehen beteiligt waren. Alle fünf bemühten sich um schlanken Ton und zeitgemäße Verzierungstechnik, scheuten das Risiko kaum hörbarer Dynamik nicht und fanden auch im Duett zu fein empfundener Klanglichkeit: die Soprane Kirsten Blaise und Miriam Burkhardt genauso wie die Tenöre Maximilian Schmitt und Bernhard Berchtold und der Bariton Tobias Berndt.
Eine andere Vision als die detaillierte Herausarbeitung besonders schöner Stellen hatte Helmuth Rilling an diesem Abend nicht vorzuweisen. Historisch besonders informiert wirkte seine Sicht auf Monteverdi nicht. Das äußerte sich nicht nur im vorwiegend modernen Instrumentarium des Bach-Collegiums, in dem Barockbögen auf der einen Seite und romantisch-melancholische Englischhörner auf der anderen für stilistische Uneinheitlichkeit sorgten. Auch die für Monteverdi so wichtige flexible rhythmische und metrische Gestaltung fand keine angemessene Beachtung.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 31.8.2010. Das Konzert fand statt am 29.8.
eduarda - 31. Aug, 10:57
Das Eröffnungskonzert des Stuttgarter Musikfestes mit einem romantischen Mammutprogramm in der Stuttgarter Liederhalle
Stuttgart - Während die Stuttgarter Bevölkerung sich derzeit in der heißen Phase ihres Widerstandes gegen eine Verlegung des Fernbahn-Schienenverkehrs in tageslichtarme Gefilde befindet, sich also im übertragenen Sinne für das Licht und gegen die unterirdische Finsternis stark macht, geht die Stuttgarter Internationale Bachakademie mit ihrem diesjährigen Musikfest-Motto den umgekehrten Weg: "Licht" war letztes Jahr. In diesem Sommer herrscht die "Nacht". Dem könnte man symbolische Kraft beimessen – zumindest was die Zukunft Stuttgarts in Sachen Hauptbahnhof angeht. Aber das Thema des Festivals stand schon vor Beginn der Demonstrationen im vergangenen November fest, und so verbietet sich jeder Vergleich in dieser Richtung.
Drei Wochen lang also wird das Stuttgarter Musikfest das Thema "Nacht" auf vielfältige Weise ausleuchten: mit unterschiedlichen Konzertreihen, mit Uraufführungen, einem Symposium, Musikcafé-Plauderrunden, Museumsführungen und nicht zuletzt Gottesdiensten.
Am Samstag war große Eröffnung: Im Beethovensaal der Liederhalle, der zu gut zwei Dritteln gefüllt war, gab es von früh abends bis spät in die Nacht Werke zu hören, die sich dem Festivalthema in Gestalt der ambivalenten Ausdruckswelt der Romantik näherten.
Die Nacht ist im Sinne des Romantikers Ort des Irrationalen, Mystischen und Magischen, gleichzeitig Schlüssel zu den Geheimnissen der Seele und des Todes, in dem sich des Romantikers Sehnsucht nach dem Ganzen ideal erfüllt. Musik war also zu hören, die sich den Themen Liebe, Wahnsinn und Tod widmet.
Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR (RSO) spielte unter der Leitung des erst 29-jährigen finnischen Dirigenten Pietari Inkinen ein Mammutprogramm, das inklusive seiner eineinhalb Stunden Pause gut fünf Stunden dauerte.
Den Anfang machte eine der schönsten Programmmusiken überhaupt: Nikolai Rimsky-Korsakows sinfonische Suite "Scheherazade", die sich auf die Märchen aus Tausend und einer Nacht bezieht. Ein Fall von Psychopathentum und seiner Therapie: Einem Sultan werden Hörner aufgesetzt, und aus Rache heiratet er jeden Abend eine neue Frau, um sie am nächsten Morgen zu töten. Bis er auf Scheherazade trifft. Die erfand Märchen, um den Sultan von seinem Plan abzubringen, sie zu ermorden.
Das RSO spielte wie gewohnt präzise und hatte ganz offenbar Freude am Schwelgen in exotischer Melodik. Aber der junge Dirigent konnte aus dem Orchester auch nicht mehr als das herauslocken. Die nicht ganz ausgewogene Balance im Orchesterapparat ging auf Kosten der grandios-farbigen Instrumentation. Und eigene Ideen, die den Gesamtaufbau betreffen, also die plastische Darstellung der dramatischen Konfrontation zwischen der schlauen Scheherazade und dem gewalttätigen Sultan, dessen Mordgelüste langsam dahin schmelzen, konnte Inkinen dem RSO nicht vermitteln. Besonders im langsamen Tempo wirkte der Klangkörper oft träge, im schnellen zu brachial.
Vielleicht hatte man mit dem Finnen zu wenig geprobt? Denn auch Gustav Mahlers beiden Nachtmusiken aus seiner 7. Sinfonie fehlte es an Inspiration, an der scharfen Konturierung der dargestellten Charaktere. Nichts war zu hören vom suggestiven, rätselhaften Mahler-Ton, der auch dort Abgründigkeit aufscheinen lässt, wo es idyllisch wird. Aber an diesem Abend blieben die Kuhglocken Kuhglocken und wollten einfach nicht zu Symbolen der Ewigkeit werden.
Mit dem Auftritt der charismatischen Christiane Iven in Ernest Chaussons schwer melancholischem "La mort de l'amour" (Der Tod der Liebe) änderte sich das Niveau schlagartig. Ihr im Timbre flexibler, höhensicherer Sopran harmonierte gut mit dem RSO, das nun erstmals an diesem Abend etwas von seinem außergewöhnlichen Gespür für Klangfarben demonstrieren konnte. Iven gelang eine geradezu perfekt getimte Gestaltung des langsamen Stimmungswechsels von freudig-hellem Überschwang bis zu dunkelster Todessehnsucht, und genauso nachtschwarz glückte ihr auch die Darstellung des "Liebestods" aus Richard Wagners "Tristan".
Während Pietari Inkinen in Richard Strauss' Tondichtung "Don Juan" dann endlich zeigen konnte, welcher Komponist ihm besonders liegt – denn jetzt spielte das RSO tatsächlich einmal scharf konturiert, weswegen sich das erotomanische Gehabe Don Juans und sein finales Erschlaffen plastisch vermittelten –, kamen in Sergei Prokofjews "Romeo und Julia"-Suite Nr. 2 vor allem süffiges Melos und tänzerische Verve zu ihrem Recht. Sehr schön spielte das RSO jetzt, so schön, dass man den tödlichen Ausgang des Dramas zuweilen aus den Augen verlor. Sei's drum: Das Publikum bedankte sich am Ende dieses langen Abends etwas ermüdet zwar, aber mit kräftigem Applaus.
Als Gewinn für das Konzertprojekt offenbarte sich die Moderation des Intendanten der Bachakademie, Christian Lorenz, dem es auf charmante und unterhaltsame Weise gelang, das Publikum durch Fachwissen und Anekdoten ideal auf die Atmosphäre der jeweils folgenden Stücke einzustellen. Dass der Abend sich am Ende ein wenig in die Länge zog, ging so keineswegs auf seine Rechnung.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 30.8.2010. Das Konzert fand statt am 28.8.
eduarda - 30. Aug, 10:51
Das "Theater im Depot" macht dicht und das Stuttgarter Schauspielhaus zieht für ein Jahr um - vorher wird gespielt und gefeiert
Stuttgart - Ende dieser Woche schließt das Stuttgarter Schauspielhaus seine Pforten. Ein Jahr lang wird das Mutterhaus des Staatsschauspiels saniert. Solange muss der komplette Theaterapparat in die Interimsunterkunft in der ehemaligen, jetzt umgebauten Mercedes-Benz-Niederlassung in der Stuttgarter Türlenstraße umziehen, wo drei Bühnen samt Club zur Verfügung stehen. Zur Spielzeit 2011/12 geht's dann wieder zurück ins sanierte Schauspielhaus.
Die kleine Staatstheater-Dependence „Theater im Depot“ in der Landhausstraße im Stuttgarter Osten wird bereits heute ihr Domizil verlassen - allerdings für immer. Das "Depot" wird in das neu entstandene Staatstheater-Probenzentrum am Löwentor verlegt, und dort bleibt es dann auch. "Nord" wird es dann heißen und am 17. Dezember mit Shakespeares "Romeo und Julia" eröffnet. Dem Stuttgarter Osten aber geht so einer seiner kulturellen Anziehungspunkte verloren.
Die Geschichte des "Theaters im Depot" begann im Frühjahr 1987. Da wurde das ehemalige Fahrzeug-Depot der Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) vom damaligen Schauspieldirektor Ivan Nagel zunächst als Spielort für das erstmals in Stuttgart stattfindende internationale Festival "Theater der Welt" entdeckt. Das "Depot" hieß zunächst "Tanzhalle", denn hier wurden die zum Festival eingeladenen Tanztheater-Produktionen gezeigt. Das Flair der Wagenhallen gefiel. Ab Frühjahr 1988 ließ Ivan Nagel in der mittlerweile zum "Theater im Depot" umgetauften Spielstätte gleich auf drei Bühnen inszenieren: in der großen Halle, der unteren Wagenhalle und auf der Studiobühne. Auch unter Schauspieldirektor Jürgen Bosse ab 1988 wurde das "Depot" für Repertoirevorstellungen des Staatsschauspiels genutzt.
Friedrich Schirmer, Schauspielchef von 1993 bis 2005, baute die Studiobühne des "Depots" dann konsequent zur Spielstätte für zeitgenössische Dramatik aus. Stücke etwa von Rainald Goetz, Andreas Marber, Heiner Müller oder Thomas Bernhard waren hier zu sehen. Unter den gut 100 Produktionen dieser Ära gab es diverse Uraufführungen. Schirmer galt bald als begnadeter Talentförderer und sein Haus als erste Talentschmiede des deutschen Theaters. Mit dem Autorenprojekt "Dichter ans Theater" etwa wurden ab dem Jahr 2000 junge Dramatiker mit Stückaufträgen gefördert und uraufgeführt - viele davon im "Depot", darunter "Die arabische Nacht" von Roland Schimmelpfennig, "Merzedes stirbt" von Franzobel oder Robert Woelfls "Wahrheit". Eine deutschsprachige Erstaufführung reihte sich an die andere. Höchst erfolgreiche "Depot"-Produktionen waren auch "Blunt oder der Gast" nach einem Fragment von Karl Philipp Moritz, das zum Berliner Theatertreffen 1995 eingeladen wurde, und Yasmina Rezas "Kunst", das gut 150 Aufführungen erlebte.
Auch unter dem aktuellen Schauspiel-Intendanten Hasko Weber zog das "Depot" mit seinem luftigen Wagenhallen-Charme und seinem hipp gestalteten Foyer besonders ein junges Publikum an. Und auch in seiner letzten Saison machte es seinem Ruf als Ort der Experimente alle Ehre. Die baulichen Besonderheiten des 120 Sitzplätze umfassenden Theaters, das zwar über eine traditionelle Guckkastenbühne verfügt, allerdings auch an den Seiten bespielbar ist, kam vor allem in Jan Neumanns uraufgeführtem "Fundament" zur Geltung: Auf der Drehbühne des "Depots" saß an diesem Abend das Publikum, die Schauspieler agierten an den vier Seiten, zwischen den Episoden drehte sich die Bühne und mit ihr das Publikum. Ein starker Effekt - vor allem im furiosen Finale und seinem Höllenkarussell.
Heute Abend nun ist Schluss. Man nimmt Abschied mit der aktuellen Erfolgsproduktion von Nis-Momme Stockmanns "Kein Schiff wird kommen" (19 Uhr), mit einer Party im Foyer und auf der Terrasse (ab 20.30 Uhr) und dem Stück "Sebastian S. macht sich ein Bild" von Seraina Maria Sievi und Sebastian Schwab in einer besonderen Version für das Depot-Finale (23 Uhr).
Artikel für die Eßlinger Zeitung vom 22. Juli 2010.
eduarda - 22. Jul, 11:42
Zeitoper „[the art of deleting]“ im Stuttgarter AER-Club uraufgeführt
Stuttgart – Aller guten Dinge seien drei, heißt es. Aber in "[the art of deleting]" (Die Kunst des Löschens), das jetzt in der Reihe "zeitoper" der Stuttgarter Staatsoper zur Uraufführung kam, bedeutet die Zahl Unheil: Dreimal findet der junge Ripper den Tod: Erst erschießt ihn eine mysteriöse Marienfigur, dann erdolcht er sein Alter Ego, und am Ende küsst ihn Gevatter Tod höchstpersönlich. Drei verschleierte Bräute sind es, in die sich Ripper verguckt und die sich mit einem Schlag in fiese, hässliche Furien verwandeln, die ihm die Kleider vom Leib reißen und ihn einfach so stehen lassen: in Strapsen. Peinlich. Denn die Öffentlichkeit schaut zu.
Es sind starke Bilder, die die amerikanische Regisseurin Lydia Steier für die Befindlichkeiten des tablettenabhängigen Antihelden Ripper gefunden hat. Der hat sich im Drogenrausch in eine virtuelle Parallelwelt verirrt, den Bezug zur Realität völlig verloren. Es sind trügerische Verlockungen, die ihn dorthin flüchten lassen. Denn hier ist niemand das, was er vorgibt zu sein. Ständig wechselt man die Identitäten, maskiert sich. Überall lauern Perversionen und nicht zuletzt der Tod.
Auf die Idee zu diesem zeitkritischen Musiktheater, das Rippers Geschichte in 20 kurzen Episoden erzählt, kam Lydia Steier durch eine reale Begebenheit. Im Jahr 2003 inszenierte ein 21-jähriger Amerikaner vor laufender Webcam und vor den Augen der Online-Community seinen langsamen Freitod durch Tabletten und kommunizierte währenddessen mit 47 Personen in einem Chatroom. Das Libretto (von Lydia Steier und dem Dramaturgen Xavier Zuber) besteht aus Fragmenten des Chatroom-Text-Konvoluts: aus internettypischen Floskeln und Sentenzen.
Aber es geht in "[the art of deleting]" nicht nur um das WorldWideWeb. Man spielt das Stück im Stuttgarter AER-Club, implantiert den virtuellen Wahn so in die Clubszene, in der es nicht weniger um Rollenspiele, Rauschzustände und Wirklichkeitsferne geht. Das AER und sein schwarzes Innenleben aus Tanzfläche, Bar und den vielen Separées sind der perfekte Ort für dieses Stationendrama, das den gesamten Raum bespielt. Der Zuschauer als Voyeur steht mittendrin im Geschehen. Jedes Bild bietet eine neue Überraschung – und neue Kostüme von Siegfried Zoller, der sich mit viel Ironie an der amerikanischen Kitschästhetik orientiert hat.
Ein wenig erinnert Rippers Trip an Odysseus' Irrfahrt, nur das Ripper passiv bleibt und nicht auf Zyklopen oder Sirenen trifft, sondern auf Menschenungeheuer: auf Mäusefrauen, gesichtslose Schattengeister oder Krankenschwestern, die mit Riesenspritzen Fontänen aus den Brüsten schießen lassen (wunderbar: das Trio Kim Kreipe, Pia Stahl und Carmen Voigt). Und er begegnet seiner eigenen Vergangenheit: Sitzt mit Vater und Mutter am Frühstückstisch, da bricht das Abgründige hervor aus der Spießeridylle: Die Mutter fällt über den Sohn her, der Vater treibt's derweil mit der Kaffeekanne. Oder beide erscheinen als freundlich grinsendes Metzgerpaar mit blutigen Schürzen, das die Hackebeilchen schwingt und auf große Fleischklumpen donnern lässt.
Der amerikanische Komponist Dennis DeSantis, auch der DJ- und House-Kultur verbunden, hat zu dieser tiefgründigen Bilderfolge Musik geschrieben, die auf einen USB-Stick passt und zwischen beatbetonter Tanzmusik und verfremdeten Albtraum-Klangwelten hin- und herswitcht: Ein hybrides Sampling aus unterschiedlichen Sequenzen, die gemischt und überblendet werden und alles integrieren: Soul, Funk, Pop, experimentelle elektronische Musik und Sprachfetzen. Musikalischer Höhepunkt des Abends: Das Showdown der teuflischen Madonna, die einen Meter über dem Boden schwebend die Knarre zieht und alle Bühnenfiguren niederballert. Dazu Lichtblitzbeleuchtung aus dem Stroboskop und ein Elektrosound aus nadelstichigen Salven und tiefem Höllenjaulen.
Die drei live gesungenen Partien orientieren sich am amerikanischen Musical. Neben den beiden grandios mehrdeutig und gelegentlich lustvoll obszön agierenden Sängerdarstellern Eva Leticia Padilla und Motti Kastón, die in verschiedene Rollen schlüpfen, stemmt vor allem der charismatische Lockenkopf Christoph Sökler den Abend. Er spielt den Ripper mitreißend intensiv: immer hin- und hergerissen zwischen Staunen, Ekstase und ängstlichem Fluchtverhalten. Alles schweigt, als er einmal verstört in den Raum hineinfragt: "Hello, anyone awake?" Da wird die ganze innere Leere, die völlige Einsamkeit offenbar, die folgt, wenn die Realität einen wiederhat. Auch diese Szene wird noch lange nachwirken.
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 19. Juli. Die Premiere fand statt am 16. Juli 2010.
eduarda - 19. Jul, 08:18
"Napoleon Raskolnikow im Schnee" frei nach Fjodor Dostojewskis Roman im Stuttgarter Theater Rampe
Stuttgart – Beim Verlassen des Stuttgarter Theaters Rampe pfiff man ausgerechnet Bachs gefühliges "Erbarme dich, mein Gott" aus der Matthäus-Passion vor sich hin. Aber nicht in schwermütiger Stimmung, die die Thematik des Theaterabends eigentlich in einem hätte hinterlassen müssen, sondern eher in fröhlicher. Grund dafür war wohl die Leichtigkeit, mit der sich das freie Ensemble TART-Produktion auf der Bühne seines Kooperationspartners, des Stuttgarter Theaters Rampe, an den schwergewichtigen Roman "Verbrechen und Strafe" (früher bekannt als "Schuld und Sühne") von Fjodor Dostojewski herangewagt hatte.
Den voluminösen Roman, mit dem man sich monatelang beschäftigen kann, hat man auf gut 75 Theaterminuten zusammenschnurren lassen. Die Bühnenfassung "Napoleon Raskolnikow im Schnee" von Bernhard M. Eusterschulte und Rebecca Mühlich bietet eine Art Bewusstseinsstrom aus Textfragmenten und Motiven des Romans und aktualisierten Umformulierungen. Zentrum ist das Ich Raskolnikows, des Protagonisten des Romans: Ein größenwahnsinniger, hochintelligenter, armer Jurastudent, der aus Habgier im Dienste des gesellschaftlichen Aufstiegs zum Doppelmörder wird: Er haut der Pfandleiherin Aljona Iwanowa ein Beil in den Kopf, und auch deren zufällig auftauchende Schwester muss dran glauben. Raskolnikows Rechtfertigung: Der Zweck heiligt die Mittel, wie im Falle Napoleons und anderer großer Männer. "Was bedeutet auf der großen Waage das Leben dieser bösen Alten? Doch kaum mehr als das Leben einer Laus, einer Küchenschabe und noch weniger", denkt er.
Die Morde oder andere Handlungselemente des Romans werden auf der Bühne nicht gezeigt, nur angedeutet im Wörterfluss. Nicht immer ist es einfach, dem zu folgen. Aufgeteilt ist der Text auf vier Personen, die alle Raskolnikow sind. Ebenfalls auf der Bühne anwesend: der Cellist Scott Roller, der das Geschehen mit sachten Melodien, "La Cucaracha" oder "All you need ist love" der Beatles kommentiert.
Regisseurin Johanna Niedermüller hat ganz unterschiedliche Typen inszeniert: Den Anzug tragenden Rationalisten und PR-Menschen (Bernhard Linke), den bodenständigen "Normalo" in geflickten Schuhen und Jogginghose (Klaus Gramüller), den versoffenen, rauchenden, in sich gefangenen Melancholiker in Rüschenhemd (Georgi Novakov), der mit breitem bulgarischen Akzent manchmal zu übertrieben die Sätze in die Länge dehnt, und den barfüßigen, emotionalen, tanzenden Ästheten (Tom Baert). Die vier diskutieren beständig miteinander, beschimpfen sich, spucken sich Popcorn ins Gesicht, das die Papiertüten mit "Fotze schlachten"-Aufdruck füllt. Man tanzt gelegentlich Blues und fasst sich an den Hintern oder schupst sich von der Rampe. Immer wieder kommt man zu demselben Schluss: Die Morde waren im Grunde nicht das Problem. Das eigentliche Verbrechen war ihre dilettantische Ausführung: Der Mord an der Schwester war nicht geplant, die Hals-über-Kopf-Flucht genauso wenig, und das Geld, um das es eigentlich ging, blieb auch liegen. Raskolnikow scheiterte an seinem eigenen Anspruch.
Die Bühne ist minimalistisch ausgestattet. Ein Tisch, Stühle, eine Tapetenwand voller Zettel: "Verbrechen schafft Arbeit", "In mir tobt die Theorie", "Gewissen ist Mangel an Selbstdisziplin". Im Fluss hin- und herspringender Gedanken und Assoziationen geht es immer wieder um die Frage, was das ist: Gewissen, Selbstverantwortung, Schuld. All das ist dem Protagonisten fremd. Es ekelt ihn vor den Menschen. Die Roman-Figur der liebenden Sonja bleibt weitgehend ausgespart. Dafür unterbricht einmal Raskolnikows Bewährungshelferin (Nina Heller) das Geschehen. Sie gibt ihm keine "positive Sozialprognose", weil er sich so verhält wie die meisten Verbrecher: Er kann seine Tat nicht angemessen reflektieren, sucht die Schuld bei anderen.
Was schließlich Bachs "Erbarme dich"-Arie angeht: Die war Teil der stärksten Phase der Inszenierung. Tanztheaterspezialist Tom Baert tanzt Raskolnikow, wie er mit dem Freitod kokettiert: zeigt seine innere Leere, seinen Selbsthass, seine Verzweiflung (Choreographie: Nina Kurzeja). Dazu spielt Scott Roller die Arie: ganz ruhig, mit dem Cello nur die Basslinie andeutend, die Melodie pfeifend und summend. Fein!
Und die Botschaft des Abends? In Zeiten unserer Wirtschaftsdiktatur, in der Moral, Mitgefühl, Solidarität durch Abwesenheit glänzen, ist Raskolnikow nur einer von vielen. Der Abend schließt mit der Rezitation seines "Traums von den Trichinen", von einer unheimlichen Seuche, die die Menschheit befällt und sie in die Selbstvernichtung treibt. Nichts Gutes, was uns in Aussicht gestellt wird. Und doch nichts, was einem die Laune verdürbe. Dank dieses kurzweiligen, assoziativen, dennoch abgründigen Theaterabends, der die Lektüre des Romanes freilich nicht ersetzen kann.
Rezension für nachtkritik.de und die Eßlinger Zeitung vom 15. Juli. Die Premiere fand statt am 13. Juli 2010.
eduarda - 15. Jul, 10:33
Chaya Czernowins Kammeroper „Pnima ... Ins Innere“ an der Staatsoper Stuttgart
Stuttgart - Was ist Musik? Eine der vielen Antworten, die man auf diese Frage finden kann, ist: Musik fängt da an, wo die Sprache aufhört. Dass die Musik dort weitermachen kann, wo die Sprache versagt, ist in der Kammeroper „Pnima ... Ins Innere“ der israelischen Komponistin Chaya Czernowin, welche jetzt an der Stuttgarter Staatsoper Premiere feierte, inhaltliches Programm.
Czernowin ließ sich für ihr Musiktheaterstück, das im Jahr 2000 bei der Münchner Biennale uraufgeführt wurde, vom ersten Teil des experimentellen Romans „Stichwort: Liebe“ von David Grossman inspirieren. Darin geht es um einen israelischen Jungen namens Momik, der in den 1950er-Jahren in einer Familie Überlebender des Holocausts aufwächst, die an ihren furchtbaren Erinnerungen körperlich und seelisch zu zerbrechen droht. Man ist nicht in der Lage, über das Erlebte zu reden. Das Kind ist dieser Sprachlosigkeit hilflos ausgeliefert, erstickt beinahe daran. Fast alle seine verzweifelten Kommunikationsversuche scheitern. Momik verkörpert die Erfahrungen der „zweiten Generation“ der Kinder überlebender Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes. Das Grauen des Holocausts wird aus seiner Sicht thematisiert. Die Eltern wollen ihren Nachwuchs durch das Schweigen über die Vergangenheit schützen. Doch ihre nicht verbalisierten Traumata ergreifen langsam Besitz vom Kind. In den vagen Andeutungen der Erwachsenen sucht es den Sinn, tastet sich langsam an die grausame Wahrheit heran.
Es geht in „Pnima“ aber eigentlich gar nicht um konkrete Begebenheiten oder eine bestimmte historische Situation: Ihr Werk sei kein Musiktheater über den Holocaust, betont die Komponistin immer wieder: „Viel grundsätzlicher handelt das Werk davon, wie wir mit traumatischen Erfahrungen umgehen.“ Konsequenterweise hat „Pnima“ deshalb keine Handlung, keine Dialoge, kein Libretto. Die Oper funktioniert ohne Sprache. Als eine Art vorwärts tastendes musikalisches Psychogramm, das nur aus Klängen, Geräuschen und Lauten besteht. In der Partitur gibt es keine szenischen Anweisungen, keine konkreten Personenangaben. Die vier singenden Protagonisten sind ein schwer traumatisierter alter Mann und ein irritiertes, fragendes Kind, beide multiple dargestellt durch je zwei Singstimmen. Eine hohe und eine tiefe männliche für den Alten, eine hohe und tiefe Frauenstimme für das Kind.
Es ist eine packende Musik, die einen gleich hineinzieht in ihren Sog: in eine Art musikalischen Bewusstseinsstrom. Die Komponistin bedient sich sämtlicher Klang-Vokabeln der Neuen Musik bis hin zum Geräusch und elektronischen Zuspielungen. Das Stuttgarter Staatsorchester versteht sich vorzüglich mit dem musikalischen Leiter Johannes Kalitzke: Die Streicher, Schlagzeuger und einige Soloinstrumente spinnen ein vibrierendes, detailreiches Netz aus flüsternden, jaulenden, surrenden Klängen, hochemotionaler, auffahrender Gesten, harten Schlägen, oft menschlich anmutenden Lauten, mal scharf konturiert, mal verebbend. Und immer wieder verstummt die Musik, fallen die Klänge auseinander, offenbart sich Zeit in geräuschlosem Ver-Streichen, herrscht plötzlich Stille, tödliches Schweigen.
Ein solch hochabstraktes Werk in Szene zu setzen, ist ein schwieriges Unterfangen. Aber in der Regisseurin Yona Kim hat Czernowin in Stuttgart eine kongeniale Partnerin gefunden, die die Schritte der Musik mitgeht. Kim hat gut hineingehört in die Partitur und eine feine, sensible Bilderwelt geschaffen, ohne allzu konkret zu werden. Die Bühne von Herbert Murauer ist ein Haus der Erinnerung voller Symbole, traumhaft verrätselt. Aus dem Klavier, unter dem Teppich, aus dem alten Schrank und einer Truhe brechen sie zu Beginn hervor: die Gestalten, die im weiteren Verlauf die Bühne bevölkern werden. Den vier Vokalsolisten hat Kim sechs Statisten zur Seite gestellt, die die Familie vervollständigen: Am Essenstisch stürzt man sich gierig auf das Essen und stopft es in sich hinein. Bild für den ungeheuren Überlebensdrang. Manisch wirkt das gemeinsame Kartenkloppen zu harten, statischen Klängen: Zwanghaft gesuchte Ablenkung. Man stopft sich gegenseitig das Maul mit faulem Brot. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Musikinstrumente als Symbole geistiger Nahrung werden bearbeitet, auseinandergenommen, verbunden, übereinandergestapelt und mit Klebestreifen in einen Kokon versponnen. Alles bedeutet etwas: aber es bleibt assoziativ wie im Traum. Etwa jene Szene, in der eine Gruppe Kinder, als Erwachsene verkleidet, eines davon in schwarzem Ledermantel, stumm die Szene beherrschen.
Das ist ohne Zweifel die Qualität der Inszenierung: Dass sie der Musik nicht in die Quere kommt und dennoch eine eigene Geschichte erzählt: Wie ein Trauma Besitz ergreift von einem Menschen, und wie dieser Mensch daran arbeitet, das Unverständliche, Unfassbare zu enträtseln.
Phänomenal Yuko Kakuta als Kind, das stets das Zentrum des Geschehens bleibt. Kakuta zieht auf allen Ebenen in Bann, wie sie versucht, den Großvater zum Sprechen zu bringen, in ihrer Verwirrung, ihrer Verzweifelung. Sie zeigt alle Facetten, die man einer Stimme abgewinnen kann, wenn man sich nicht in Worten artikulieren kann. Wenn sie etwa an den eigenen Lauten zu ersticken droht und dann ihr erwachsenes Pendant (Noa Frenkel) die gemeinte Gesangsphrase übernimmt. Grandios auch Countertenor Daniel Gloger als alter Mann, der beständig in bibbernd abgehackten Lauten ebenso wie in lautlosen Schreien seine schwer verletzte Seele entblößt, auf der Bühne herumirrt wie ein Geist und nur in seinem zweiten Ich (Andreas Fischer) „Normalität“ an den Tag legen kann.
Einmal wird das Bewusstsein in Richtung Konzentrationslager gelenkt, das atemloseste und doch stillste Bild der Inszenierung: Hundert Kinder, akurat in Reih und Glied stehend, stumm, unbeweglich, werden aus dem Bühnenboden hochgefahren. Vorne Kleiderberge. Dazu ein starrer, sich bis ins Unerträgliche steigernder, sandiger Elektrosound. Die Kinder werden wieder versenkt. Das Bild auf der Bühne sagt: Auschwitz, Rampe, Kleiderberge, Massenmord. Aber nur ganz sachte angedeutet.
Eine Lösung gibt es am Ende nicht. Düster bleibt es, alles in sich gefangen. Der Prolog war vielleicht der Lichtblick. Da spielten vor der Staatsoper die Kinder Fangen und Springseil und stürmten lachend die Sitzreihen der Staatsoper. Eine beruhigende und doch auch bedrückende Einsicht: Das Leben geht weiter. Geschehe, was wolle. Immer wieder.
Rezension für die nmz-online. Die Premiere fand statt am 9. Juli 2010.
Weitere Termine: 11.07. | 15.07. | 20.07. | 22.07.| 05.10. | 09.10. | 12.10. | 16.10.2010
eduarda - 12. Jul, 15:44
Offenbach-Gala mit Vesselina Kasarova bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen
Ludwigsburg - Herrliche Fratzen kann Vesselina Kasarova schneiden. Schließlich ist die gebürtige Bulgarin ja nicht nur für ihre extravagante Stimme berühmt, sondern auch für ihr komödiantisches Talent. Die uneitle Mezzosopranistin, die als Rossini- und Mozart-Expertin bekannt ist und auch ein ausgesprochenes Faible für das französische Repertoire besitzt, stand jetzt im Mittelpunkt eines Gala-Abends mit witzigen Gesangsnummern aus berühmten Pariser Operetten Jacques Offenbachs, den ihr die Ludwigsburger Schlossfestspiele auf den Leib geschneidert hatten.
Dramaturgisch aufgepeppt wurde das Konzert im vollbesetzten Ludwigsburger Forum durch Lesungen von Jan Josef Liefers, der ausgewählte Leckerbissen aus den Tagebüchern der französischen Offenbach-Zeitgenossen und Brüder Edmund und Jules Goncourt zum Besten gab. Der als skurriler Fernseh-Forensiker bekannte „Tatort“-Star Liefers trug die amüsanten Lästereien mit seinem bewährt süffisanten Charme vor: Verspottungen einer hohlen Bourgeoisie und frivolen Bohème, zu denen sich die Gebrüder Goncourt im Pariser Theater, beim Techtelmechtel in der Kutsche oder beim dekadenten Souper mit Champagner hatten inspirieren lassen. Text und Musik waren geschickt montiert und ergänzten sich atmosphärisch vorzüglich.
Von den Duisburger Philharmonikern unter Leitung von Michael Güttler delikat und elegant begleitet, formte Kasarova den satirischen Gestus der Arietten und Couplets nicht nur mit der Stimme, sondern mit dem ganzen Körper: grimassierend, sich burlesk windend, ihre Stimmbänder durchknetend von rauher Tiefe bis zum exaltierten hohen Aufschrei. Geschmeidig verwandelte sie sich von der „schönen Helene“ in die „Großherzogin von Gerolstein“ oder in die kleine Straßensängerin „Périchole“. Dass man bei den Festspielen auch diesmal wieder darauf verzichtet hat, dem Publikum in irgendeiner Form die vertonten Texte vor Augen zu führen, die zudem an diesem Abend auf Französisch gesungen wurden, schmälerte die Wirkung der komischen Effekte, die sich Karasova auf der Bühne so engagiert erarbeitete, aber erheblich. Das Ohr übte sich zumindest in dieser Hinsicht im Trockenschwimmen.
In ihren instrumentalen Zwischenspielen unterhielten die Duisburger Philharmoniker mit Ouvertüren zu Offenbach-Operetten. Doch das Orchester machte es sich dabei ein wenig zu gemütlich auf den Stühlen, und Güttler schien nicht wirklich etwas anfangen zu können mit der agilen, geistreichen Instrumentalmusik des Deutsch-Franzosen. Überzeugend gelang den Musizierenden zwar die oft schmeichelnde Melodik der Stücke, was sich auch in den vielen klangschönen Soli offenbarte, aber insgesamt fehlte es an vibrierender Spannung und am Esprit, die für Jacques Offenbach so typisch sind.
Der insgesamt gleichwohl kurzweilige Abend, der am Ende kräftig bejubelt wurde, hatte auch einiges an unfreiwilliger Komik zu bieten: So blieb Kasarova bei fast jedem Auf- und Abtritt mit ihren Stiletto-Absätzen in den nicht abgeklebten Bodenfugen des Bühnenvorbaus stecken. Sie nahm's gelassen. Und Liefers und Güttler halfen gelegentlich bei der Befreiung.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 3. Juli. Die Gala fand statt am 30. Juni 2010.
eduarda - 3. Jul, 14:05
Christine Schäfer und Graham Johnson bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen
Ludwigsburg - Der Appetit auf Zitrusfrüchte war ungemein, nachdem Christine Schäfer Hugo Wolfs Mignon-Lied „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn“ beendet hatte. Allein schon wie sie das Wort Orange artikuliert hatte, ließ einem das Wasser im Mund zusammenlaufen, so prall, so saftig, so süß baute sich die Südfrucht vor dem inneren Auge auf. Plastischer in Sachen Vokalformung und Singgestus geht's nicht mehr. Schäfer hat alles, was eine gute Liedsängerin braucht für die feinsinnige Textausdeutung in der intimen Atmosphäre eines Liederabends: die Fähigkeit zum schnellen Verändern der Stimmfarbe, das bruchlose Gleiten durch die Register, die Kontrolle über die Stimme in allen dynamischen Bereichen. Schrill wird sie nie - anders als viele Opernsängerinnen, die sich dem Liedgesang widmen.
Im voll besetzten Ludwigsburger Forum, wo Schäfer zusammen mit dem Pianisten Graham Johnson einen Liederabend mit Werken von Johannes Brahms, Robert Schumann und Hugo Wolf gab, zeigte sie vor allem in den verinnerlichten Nummern hohe Gestaltungskunst: verschleierte Farben in Brahms' „Es träumte mir“, tief empfundenen Schmerz in Wolfs „Nur wer die Sehnsucht kennt“, feine Schattierungen in Brahms' „Unbewegte laue Luft“. Jeder Ton schien durchlebt und gefühlt. Und der leichtere, lyrischere Tonfall der Wilhelm-Meister-Lieder op. 98a von Robert Schumann kam ihren Stimmqualitäten ohnehin entgegen.
Als glückliche Fügung offenbarte sich Schäfers Zusammenarbeit mit dem Mann am Klavier, Graham Johnson. Man hörte sich gegenseitig genau zu. Und Johnson gestaltete genial sensibel: ein Schattenmaler, Konturenzeichner, Pointillist in einer Person, der es versteht, das Gesungene psychologisch sorgsam auszudeuten und das Klavier in so stille, weltentrückte Klangregionen zu führen, von denen man vorher nicht einmal etwas geahnt hat. Das Publikum im Forum war begeistert und ließ die beiden erst nach drei Zugaben gehen.
Als ein ziemliches Ärgernis stellte sich an diesem Abend der diesjährige Verzicht der Ludwigsburger Schlossfestspiele auf sachgerechte Programmhefte heraus. Das neue Konzept des Sammelheftes für jeweils eine Woche, von dem man nicht genau weiß, was es will, weil es weder aktuelle Werkeinführungen noch über den bloßen Programmablauf hinausgehende grundlegende Informationen vorweisen kann, sieht keinen Platz vor für Liedtexte. Vielleicht sollten die Schlossfestspiele, wenn sie ihr Papiersparkonzept so weiterführen wollen, die in der Oper beliebten Übertitel einführen. Denn gerade im hochdifferenzierenden Liedgesang ist das Textverständnis eine unabdingbare Voraussetzung für ein befriedigendes Hörerlebnis - und damit ein Programmheft keine bloße Serviceleistung.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 30. Juni. Das Konzert fand statt am 28. Juni 2010.
eduarda - 30. Jun, 12:07
Christian Weise inszeniert „Die Nibelungen“ nach Friedrich Hebbel und Moritz Rinke am Staatsschauspiel Stuttgart
Stuttgart - Am Ende sind sie alle tot: König Gunther, seine Brüder Gernot und Giselher, der Intrigant Hagen. Wie alle Nibelungen. Opfer von Kriemhilds Rache und der eigenen starren Verhaltensregeln, die zu Gefolgschaftstreue und hirnfreiem Blutvergießen zwingen. Nein, frei isser nicht, der Germane.
Christian Weise hat den Tod der Nibelungen jetzt am Stuttgarter Staatsschauspiel still inszeniert. Ohne Theaterblut und großes Geschrei. Die roten Striche fügen sich die Männer selbst zu: einmal mit dem Lippenstift über die nackte Brust, dann sinkt man geschmeidig zu Boden. Hagen, den Mörder ihres geliebten Siegfrieds, nimmt sich Kriemhild persönlich vor. Da reicht ein leichter Tritt, und er kippt um, er will sowieso nicht mehr.
Im Finale seines vierstündigen Nibelungen-Abends mit zwei unterschiedlichen Bearbeitungen des Stoffes hat sich Regisseur Christian Weise „Kriemhilds Rache“ aus Friedrich Hebbels dreiteiligem Trauerspiel „Die Nibelungen“ vorgeknöpft: stark gekürzt, auf das Wesentliche reduziert. Das zuvor quirlig-klamaukige Geschehen mündet so in ein statisches, leises Ende.
Die Bühne ist jetzt leer, im Hintergrund leuchtet „Rache“ an der Wand. Die Protagonisten stehen frontal zum Publikum, in Grüppchen arrangiert, Kriemhild vorn am Mikrophon. Man bewegt sich nur noch wenig: körperlicher Ausdruck für die eigene Unfreiheit, die tödliche Sippentreue, die in den blutigen Untergang führt. Alles konzentriert sich auf die artifizielle Sprache Hebbels, die schnell pathetisch wirken könnte, wenn das Ensemble sie nicht so gekonnt dem natürlichen Sprachfluss anpassen würde. Kriemhilds Rachemonolog gelingt ohne geifernde Ausbrüche: Lisa Bitter artikuliert ihn beißend gefährlich. Die Äußerungen der Nibelungen-Männer münden immer wieder in stille Chor-Lieder - etwa in „Fremd bin ich eingezogen“ aus Schuberts „Winterreise“ oder „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“.
Im Sog des Germanen-Mythos darf auch die Romantik und ihr Topos vom Wandern nicht fehlen. Hier wie dort bewegt man sich im Kreis, der sich aber nicht wirklich schließen will, sondern in eine Straße mündet, auf der niemand zurückkehrt. Weise überrascht mit diesem Ende.
Denn davor gab's Klamauk bis zum Abwinken. Das Vorspiel: Siegfried, ein halbnackter Vollidiot mit Riesenschwert, zerfetzt die Tapetenwand, auf die zuvor ein Maler einen großen Drachen gepinselt hat. Es folgt die Siegfriedgeschichte in der Fassung von Moritz Rinke aus dem Jahr 2002. Siegfried hält am Wormser Hof um Kriemhilds Hand an, muss jedoch zuerst für Gunther die unbesiegbare Brünhild gewinnen. Interessen-Verquickungen führen zur Ermordung Siegfrieds.
Rinkes Deutung ist eine Komödie, auch ein bisschen Rittermusical, und Weise hat ihren Slapstickcharakter noch verschärft. Die Bühne von Jo Schramm verströmt Jagdschloss-Romantik mit Kuckucksuhr, Hirschgeweih und Butzenfenstern. Darin leben und wüten ein Haufen tumber Ritter-Germanen. Kriemhild ist eine pubertäre Göre, die Gunther-Geschwister schauen sich den Mythos in der Glotze an. Siegfried (herrlich: Sebastian Arranz) ist ein spanischer Macho, ein Angeber, der in seiner Komik ein bisschen an Jerry Lewis erinnert. Die Siege der Nibelungen werden mit schwarz-rot-goldener Vuvuzela gefeiert. Als Brünhild auftaucht, gibt's Zickenkrieg mit Kriemhild. Während Siegfried und Kriemhild beim Blues knutschen, gerät Brünhilds und Gunthers Tänzchen zum brutalen Ringkampf. Gunther (sehr komisch und akrobatisch: Johannes Benecke) wird von Brünhild (sehr stark: Nadja Stübiger) gar aus dem Fenster geschleudert und landet auf der Hängelampe, von der ihn Hagen (grandios finster und grübelnd: Christoph Gawenda) in einem Zehnminutenslapstick mit allerlei Gerät herunterzubekommen sucht. Das alles ist oft lustig, läuft sich aber in seiner Albernheit gelegentlich auch tot.
Sinn ergibt das erst im Zusammenhang mit der finalen Tragödie, in der des Menschen Unfreiheit zelebriert wird. Dann offenbart sich die Komödie als ein anderer Aspekt des Mythos, entlarvt die Lächerlichkeit seiner Figuren, die wie im Comic typenhaft bleiben und sich nicht entwickeln: So wie auch Dagobert Duck immer geizig und gleich alt bleibt, bleibt Hagen intrigant und Gunther schwach. Und wenn sich mal eine Figur verändert, dann allzu abrupt - wie Kriemhild vom lieben Mädchen zum fiesen Racheengel.
Zwischen Komödie und Tragödie tritt der Berliner Kultmoderator Jürgen Kuttner auf, hält einen Vortrag zum Thema Unsinn und Sinn des Mythos. Den assoziativen Quasselkanonaden, die alles miteinander verquirlen - den Euro, Stuttgart 21, Afghanistan, die Wende -, kann man nur gefühlsmäßig folgen. Es scheint, als wolle Kuttner mit seiner Rede demonstrieren, wie Mythos in seinen Augen funktioniert: als eine Montage von Floskeln, die vordergründig Sinn ergibt, die aber zu Unsinn zerfällt, wenn man sie analysiert. Garniert wird das mit alten Videofilmen, etwa einem Bundeswehrstreifen, der seine Werbung für den Starfighter absurderweise mit der salbungsvollen Rezitation des Ikarus-Mythos unterlegt.
Es ist am Ende die Mischung, die den Abend lohnend macht, weil er stets fernab von jenem Pathos bleibt, das am Stoff klebt wie ein öliger Film - nicht nur durch Wagners Vertonung. Das „Nibelungenlied“ des anonymen mittelalterlichen Dichters ist bedeutende deutschsprachige Literatur, aber „Nationalepos der Deutschen“ ist es heute zum Glück nicht mehr. Missverstanden wird es immer noch gerne - in Stuttgart aber fürs Erste wohl nicht mehr.
Rezension für nachtkritik.de und die Eßlinger Zeitung. Die Premiere war am 26. Juni 2010.
eduarda - 28. Jun, 01:08