Am Wilhelma-Theater spielen Schauspielstudenten eine skurrile Farce von Arthur Kopit
Stuttgart – In Woody Allans Kurzfilm "Ödipus ratlos" geschieht dem Anwalt Sheldon Mills ungeheuer Peinliches: Beim Einkaufen gerät er auf der Straße in einen Menschenauflauf, der angeregt mit seiner Mutter plaudert: Die thront überdimensional am Himmel über New York und erzählt den Leuten unten intime Details aus dem Leben ihres Sohnes: Er sei Bettnässer gewesen.
Nicht weniger peinlich ist die Lebenssituation Jonathan Rosepettles, der Hauptperson in Arthur Kopits Farce "O Vater, armer Vater, Mutter hängt dich in den Schrank, und ich bin ganz krank", die jetzt am Wilhelma-Theater mit Schauspielstudenten der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Premiere hatte – als Ausgrabung eines amerikanischen Erfolgsstück aus den 1960er-Jahren, das heute nahezu vergessen ist. Letzteres vermutlich nicht ganz ohne Grund: Die Verballhornung des seinerzeit populären Absurden Theaters ist heute nicht mehr per se witzig, und die Erkenntnisse der Psychoanalyse werden durch drastische Übertreibung allzu platt auf die Schippe genommen.
Der Plot: Jonathan wird von seiner exzentrischen Über-Mutter brutal von der Außenwelt abgeschirmt, darf auf den diversen gemeinsamen Reisen das Hotelzimmer nicht verlassen. Es könnte ihm ja irgendetwas passieren. Er schlägt die Zeit tot, in dem er die fleischfressenden Pflanzen und den Lieblingspiranha der Mutter füttert. Mamas Liebling befreit sich erst am Ende aus den auch in sexuellen Fragen übergriffigen Fängen seiner Mutter, nachdem er entdeckt hat, dass im sorgsam verriegelten Schrankkoffer stets auch der Vater mitreist: abgemurkst und dann ausgestopft von der Mutter.
Außerdem ist da noch die fesche Rosalie (Henrike Hahn), die Jonathan nachstellt, von der Mutter äußerst misstrauisch beäugt wird und sich unter ihrem Befehl einem lächerlichen Kochwettbewerb unterziehen muss. Am Ende ballert Jonathan um sich und singt abschließend playback "Mutter, sei nicht traurig" von Freddy Quinn.
Nach einem starken, im besten Sinne absurd-surrealen Beginn – Jonathan in leuchtfarbener Rettungsweste bringt drei Männer mit froschgrünem Bart und in Holzgaloschen nur durch Handzeichen zu Gleichschritt und Gleichklang (zuständig für die fantastischen Kostüme: Jennifer Thiel) – verheddert sich die Inszenierung von Marc Lunghuß bald in eindimensional schriller und lauter Übertreibung, bisweilen in unerträglicher Phonstärke. Madame Rosepettle ist dreifach besetzt – wahrscheinlich und unnötigerweise, um die mütterliche Dominanz noch deutlicher zu machen. Eine eher undankbare Aufgabe für die Schauspielstudentinnen Stephanie Biesolt, Shari Crosson und Nora Quest, die vor allem eines tun müssen: Kreischen, was das Zeug hält.
Und totzukriegen ist keine der Mütter: Sie werden zwar gelegentlich erschossen, stehen aber immer wieder auf. Nachdem Madame Rosepettle drohte, das Trinkgeld herunterzusetzen, versuchen das auch die drei Hotelpagen alias Benjamin Janssen, Maik Rogge und Yasin Elharrouk, die zudem den dreifachen Kurzzeitliebhaber der Mutter oder bedrohliche Kuckucksuhren mimen dürfen. Sie spielen mit anarchischer Lust am Slapstick, donnern den Schrank gegen die Sperrholzwand (Bühne: Tobias Schunck), hüpfen akrobatisch als Piranha durch die Gegend oder winden sich im Innern der auf vegetarische Ernährung weitgehend verzichtenden Riesentopfgewächse. Für subtile Komik ist aber kaum Platz an diesem Abend. Es wird hysterisch gebrüllt, zerdeppert, gehauen.
Nur Jonathan Hutter, der als Jonathan Rosepettle einerseits Harry-Potter-Charme versprüht, andererseits aber auch die verklemmten, linkisch-kindischen Facetten seiner Rolle trefflich zur Geltung bringt, sind feinere, nicht plaktiv-comichafte Nuancen vergönnt. Ob stotternd, trottelig in Liebesdingen, unbeholfen im Kampf gegen die mütterliche Gummi-Luft-Riesen-Krake: Er macht diese Produktion sehenswert macht.
Weitere Vorstellungen: 20., 21., 22., 27., 28. Oktober und 3., 4., 5., 11., 12. November, jeweils 20 Uhr, 13. November um 19 Uhr.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 18.10. Die Premiere fand statt am 14.10.
eduarda - 16. Okt, 10:08
Konzertsaisonauftakt des Staatsorchesters Stuttgart mit dem Dirigenten Teodor Currentzis
Stuttgart – Genau 200 Jahre ist sie alt, Beethovens siebte Sinfonie. Man hat sie unzählige Male gehört. Man denkt, man kenne sie in- und auswendig. Das schafft Distanz. Aber am Sonntagmorgen im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle war es damit vorbei. Die Macht des Rhythmus, die Beethovens Siebte vorantreibt, packte einen sofort und zog hinein in den Sog emotionaler Wechselbäder. Eine höchst aufwühlende, frische Interpretation bot das Staatsorchester in seinem Saisonauftaktkonzert.
Am Pult stand der griechische Dirigent Teodor Currentzis, derzeit künstlerischer Leiter der Oper im russischen Perm. Ein Mann mit einer ausdrucksstarken Dirigiertechnik: tänzerisch, athletisch, schwungvoll. Sein ungemein differenzierter, oft freier Umgang mit den Tempi, seine ernorme Gestaltungskraft in punkto Klangfarben und Stimmungen unterstrichen die hochexperimentelle Seite der Sinfonie, vor allem ihres Kopfsatzes, in dem Beethoven die gerade formulierten Gedanken immer wieder in Frage stellt. Knisternd spannend gerieten die Augenblicke des Stillstands, wenn der Komponist zum Schein unsicher wird, wie es weiterzugehen habe: wenn sich das Metrum bereit macht für den plötzlichen Durchbruch zu etwas ganz Neuem.
Überhaupt ist Currentzis ein Meister des Übergangs. Seine Vorstellungen schien das Staatsorchester leidenschaftlich zu teilen, es spielte präzise, changierte fein in der Lautstärke und in den Farben, stürzte sich kühn hinein in die vor Energie, Übermut, Lebenskraft nur so strotzende Gefühlswelt, die sich nicht nur im ratternd-federnden Scherzo bis in die Raserei steigert. Klug auch Currentzis' Entscheidung, zwischen den dritten und letzten Satz nur eine denkbar kurze Pause zu setzen, um so die gesammelte Energie des einen im Finale aufgehen zu lassen. In Currentzis' Konzept fügte sich auch der merkwürdige Trauermarsch nahtlos ein, der unvermutet für erdenschwere, melancholische Stimmung sorgt und an dessen Deutung sich bis heute die Exegeten die Zähne ausbeißen. Hier stand er für eine der vielen emotionalen Facetten, die Beethoven zeitlos machen.
Die hohe Kunst der Differenzierung, die Currentzis und mit ihm das Staatsorchester beherrschen, kam natürlich auch der fünften Sinfonie Dmitri Schostakowitschs zugute. Gerade sie hat die Verdeutlichung nötig. Entstanden in Zeiten des stalinistischen Staatsterrors, als dem Komponisten das Wasser bis zum Halse stand, stellte sie eine lebensgefährliche Gratwanderung dar zwischen äußerem Schein und eigentlich Gemeintem. Das machte Currentzis gestenreich klar: Lärmende Zirkusmusik entlarvt Fröhlichkeit als verordnet, und fahle Trauertöne beklagen die Opfer des Unrechts. Und die Gewalt und Aufdringlichkeit, mit der das Staatsorchester das Finale anging, und die Penetranz und Härte, mit der sich Wiederholungen ins Gehör hämmerten, zeigten unmissverständlich, dass der Komponist hier keine klassische Apotheose gemeint hat, sondern ihre Karikatur.
Beethovens Siebte und Schostakowitschs Fünfte: Das ging in diesem am Ende heftig bejubelten Konzert gut zusammen. Der eingangs gespielten Passacaglia von Anton Webern hätte es deshalb zumindest in dramaturgischer Hinsicht gar nicht bedurft.
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 11. Oktober. Das Konzert fand statt am 9. Oktober.
eduarda - 12. Okt, 10:25
Stuttgarter Philharmoniker mit dem Pianisten Bernd Glemser
Stuttgart - "Macht des Schicksals" nennen die Stuttgarter Philharmoniker ihre Hauptkonzertreihe in dieser Saison mit einem ironischen Augenzwinkern. Denn mit der Ergebenheit ins Fatum hatte zumindest das Programm des Auftaktkonzertes im voll besetzten Beethovensaal gerade nichts zu tun. Hier ging es um menschengemachte Probleme.
Mit seinem zweiten Klavierkonzert überwand Sergei Rachmaninow seinerzeit erfolgreich seine mehrjährige Schreibblockade – hervorgerufen durch den katastrophalen Misserfolg seiner ersten Sinfonie. Mit Leichtigkeit und innerer Ruhe meisterte der Pianist Bernd Glemser die hohen virtuosen und kommunikativen Ansprüche des Werks. Im entspannten Miteinander mit den Philharmonikern unter Leitung ihres Chefdirigenten Gabriel Feltz durchwanderte Glemser die impressionistischen Klanglandschaften, wobei Feltz weniger auf die strukturell fortschrittliche Seite des Werks setzte als auf fließende Klangschönheit.
Dem Konzertsaal-Dauerbrenner folgte Dimitri Schostakowitschs selten gespielte elfte Sinfonie "Das Jahr 1905" von 1957. Ein noch immer weit unterschätztes Opus, in dem es zwar vordergründig um den Petersburger Blutsonntag geht – jenem Tag, an dem der Protest von über hunderttausend Arbeitern von der zaristischen Regierung blutig niedergeschlagen wurde –, das sich aber als rein instrumentales und deshalb mehrdeutiges Werk genauso gut auf die stalinistische Ära oder die Ungarn-Revolution von 1956 beziehen könnte.
Den Philharmonikern gelang eine spannende, eindringliche Interpretation, die die hochdramatischen Entwicklungen und die Kontraste zwischen eisiger, starrer Atmosphäre, gewalttätig ratternder Rhythmen und Trommeldonner, Trauergesängen und schrill dissonanter Explosionen, denen plötzlich tödliche Stille folgt, wirkungsvoll und plastisch zur Entfaltung brachte.
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 8. Oktober. Das Konzert fand statt am 6. Oktober.
eduarda - 8. Okt, 10:12
Nichts Schöneres – Oliver Bukowskis Theater-Monolog am Staatstheater Stuttgart
Stuttgart - Die Endfünfzigerin Mechthild Huschke steht noch ganz unter dem atemberaubenden Eindruck einer wilden Liebesnacht mit einem jungen Studenten, den sie über eine "Annongse" kennengelernt hat. Dabei törnte sie die gestelzte Ausdrucksweise des Akademikers in spe eigentlich zunächst ziemlich ab: "Ich war so trocken, dass er mir aufn Hintern hätt klatschen könn, und ich hätt gestaubt!", frotzelt sie. Der Student hat ihr ein Liebesgedicht dagelassen. "Wo du bist, öffnen sich Muscheln", heißt es darin. Mechthild lacht sich kaputt. Das Publikum auch.
Ein Horrorleben in Lausitzer Mundart
Das geht erst einmal so weiter in Oliver Bukowskis Theater-Monolog "Nichts Schöneres" aus dem Jahr 1998, der jetzt am Stuttgarter Staatsschauspiel, im "Klub", dem kleinsten Aufführungsort der Interimsspielstätte in der Türlenstraße, in einer Inszenierung des Intendanten Hasko Weber Premiere hatte. Von der hassgeliebten Nachbarin Gretschke etwa ist die Rede, die "mitm Wasserglas am Ohr in die Privatsphäre von andere Leut hineinoperiert".
In bester Comedy-Manier und mit rasantem Sprachwitz reiht sich eine Pointe an die andere, bis es plötzlich knallt im Gebälk der Bretter, die die Welt bedeuten, und einem das sprichwörtliche Lachen im Halse stecken bleibt: Da ist in Mechthilds Schwall der Worte auf einmal die Rede vom Mord am Gatten Dieter, weil der sie krankenhausreif geschlagen und sie vor seinen Freunden gedemütigt hat. Sie hat den Besoffenen einfach in die Häckselmaschine im Hof fallen lassen und ist dann dafür in den Knast und später in die Psychiatrie gegangen. Kinder hat sie keine, weil ihr einst die Gebärmutter herausoperiert wurde. Krebs.
Ja, Mechthilds Leben ist ein Horror. Und dass der Student, auf den sie im Stück sehnsüchtig wartet, niemals wiederkommen wird, ist auch jedem klar im Saal. Mechthild schminkt sich umsonst. Aber Bukowski lässt seine Protagonisten nicht verstummen in all ihrem Elend, ihrem Scheitern und ihrer Ausweglosigkeit und Einsamkeit, wie einst Franz Xaver Kroetz in seinen Volksstücken.
"Bolero" in der Plattenbauwohnung
Nein, Bukowskis kleine Leute quellen über vor Sprech- und Mitteilungslust. Das tun sie in einem Kunstdialekt, angelehnt an die Lausitzer Mundart. "Warn witziger Kerl, der Doktor", sagt Mechthild über den Arzt, der ihr Gesicht behandelte, das Dieter zerschlagen hatte. "Und blieben keene Narben. Hatter auch noch nich erlebt, sagter, das nächste Mal, sagter, können se sich mit ne Kettensäge die Zähne putzen, und hinterher sehn se immer noch aus wien Babyhintern".
Mechthild Huschke besitzt eine derbe, die Realität knallhart sezierende Sprache, bei aller Gewitztheit. So scheint sie über den Dingen zu schweben, während sie gleichzeitig an ihnen zugrunde geht. Das ist die hohe Kunst Bukowskis, der seine Stücke "Boulevardkomödien" nennt. Aber sie sind es natürlich nur in dem Maße, wie Kroetzens Volksstück Komödienstadl ist.
In der Regie von Hasko Weber gelingt Rahel Ohm eine authentische, glaubwürdige Darstellung der Mechthild. Man kann sie sich eins zu eins in der Realität vorstellen, wie sie in ihrer Plattenbauwohnung werkelt und vor Sehnsucht fast zerplatzt. Janina Thiels Bühne ist so eng wie eine Gefängniszelle. Eine winzige Einraumwohnung mit Schrankwändchen, Bettsofachen, Tischchen, Stuhl, Kaffeemaschine und Radio, aus dem immer wieder Hits wie "Sailing" oder "Bolero" dröhnen.
Die "blanke ungefickte Einsamkeit"
Man könnte die Mechthild auch mehrschichtiger anlegen, mit stärkeren Augenblicken der Schwäche, gläserneren Einblicken in die Ängste und Verletztheiten. Ohms Mechthild ist eine prollige Wuchtbrumme, aus der es laut und pausenlos herauspoltert, die lustvoll lästert über die anderen und ihre eigene Blödheit, die sich über Sex und Gewalt in hemmungslos deftigen Worten auslässt. Das Ehemann-Meucheln wirkt so weniger als die verzweifelte Tat eines Opfers denn die zwangsläufige Erweckung eines gediegenen Gewaltpotentials.
Und ob sie für den Studenten wirklich Gefühle hegt, oder ob er nur da war, um den Geruch nach "Pisse und Schimmel" aus der Wohnung zu vertreiben, den die "blanke ungefickte Einsamkeit" nun mal eben mit sich bringe, geht auch unter im gewaltigen, Zwischentöne überdeckenden Wortrausch. Aber das ist am Ende gar nicht so wichtig. Da hat sich die derbe Diktion längst ins Gedächtnis gehämmert und sich geoutet als der einzige verzweifelte Weg der Selbstvergewisserung von einer, die sterben wird, wenn sie nicht mehr spricht. Nein, diese Mechthild wird man so schnell nicht vergessen.
Rezension für nachtkritik.de.
Die Premiere fand statt am 28. September.
eduarda - 1. Okt, 11:46
In der Komödie im Marquardt hat "Das andalusische Mirakel" Premiere
Stuttgart – Ja, ja, die Spanier. "Sie sitzen den ganzen Tag in der Sonne, und kämmen ihr Brusthaar." Das zumindest sagt Hubertus Heppelmann, wohlhabender WC-Deckel-Fabrikant aus dem Schwäbischen, den es wegen einer Autopanne in das andalusische Dörfchen San Miguel verschlagen hat. Er ist auf dem Weg zu seinem Anwalt, um sich von seiner Frau scheiden zu lassen, die ihm am Morgen ein Ei auf den Kopf gehauen hat, weil er die Silberne Hochzeit vergessen hat. Das konnte der Ignorant nicht auf sich sitzen lassen. In einer heruntergekommenen Herberge wartet Heppelmann, die Inkarnation des deutschen Spießers mit Handgelenksschleuder und weißen Socken in Sandalen, auf die Reparatur seines Wagens, bis das aufgedrehte Girlie Nelli – per Anhalter auf dem Weg an die Algarve zu ihrem "krass süßen" Benny, einem Surflehrer – in sein Leben platzt. Denn nur neben Heppelmann im Doppelbett ist noch Platz im ausgebuchten Hotel.
Stoff genug fürs Boulevardstück "Das andalusische Mirakel", das jetzt in der Stuttgarter Komödie im Marquardt Premiere hatte. Die Fallhöhe des ewigen Spießers ist hoch, die junge Quasselstrippe und Möchtegern-Animateurin hartnäckig, der deutsche Vorurteilskatalog in puncto Spanien umfangreich und der geschäftstüchtige Hotelwirt Juan hat einmal beim Daimler geschafft. Damit lässt sich eine Menge Situationskomik hochkochen, was den fernsehcomedygeschulten Autoren Lars Albaum und Dietmar Jacobs mit einem komödienbewährten Trick auch gelungen ist.
Denn Spanien wäre nicht katholisch, hätte nicht jedes Dorf sein Wunder. In San Miguel war es in grauer Vorzeit das Muhen einer Sau, ihr Outing als Kuh, das die Dörfler dazu veranlasst hat, neben den Bildnissen des Erzengels Michael nun anbetungswürdige Schweineskulpturen zu platzieren. Und es schlägt wieder zu, das Wunder. Mitten im schönsten Gezicke zwischen "dem miesepetrigen alten Mann" und dem "naiven Poesiealbum auf zwei Beinen" knallt man mit den Köpfen aneinander und – zack: sind die Körper getauscht.
Michael Hiller als grantelnder Mister Biedermann und Kim Zarah Langner als lispelnde Miss Sorglos spielen die Verwandlung lustvoll, mit Spielwitz, aber letztlich boulevardesk-klischeehaft, was beim Publikum allerdings gut ankommt. Er nun tuntig überdreht mit schrillem Organ, sie breitbeinig mit tiefgebügelter Stimme. Er mit rosa Schleifchen im hochgegelten Haar und im "Prinzessin"-Glitzer-Shirt, sie in Sandalen und Socken und weiterhin halbnackt (Ausstattung: Barbara Krott). Er knuddelt nun Nellis kulleräugiges Kuscheltier Boopsie, sie schlürft Klosterfrau. Er tanzt Hulahoop, sie hat's mit den Bandscheiben.
Das wäre schnell langweilig, wenn nicht überraschend die gestrenge Frau Heppelmann (Stephanie Theiß) und das "surfende Meerschweinchen" Benny (Raphael Grosch) auftauchen würden. Wie soll man denen nun klar machen, wer wer ist? Die doppelte Travestie treibt das Verwirrspiel auf die Spitze. Mal verstellt man sich, mal will man das Kuddelmuddel klären. Nelli spielt Heppelmann, der Nelli vortäuscht und umgekehrt. Heppelmann, jetzt Nelli, fällt verliebt über Benny her. Frau Heppelmann gesteht Nelli und damit ihrem Mann ihre unverbrüchliche Liebe. Irgendwann glauben's alle oder auch nicht, am Ende steht aber das unvermeidliche Happy-End inklusive Rückverwandlung und geläutertem Ehemann.
Intendant Manfred Langner hat die Komödie sehr quirlig und schnell inszeniert, was ihre Qualität, die Dichte an gut sitzenden Pointen und Wortwitzen, herausstellt und den Abend durchweg unterhaltsam hält. Die hanebüchenden Plattheiten und Klischees, mit denen Spanien als eine zwischen Fiesta und Siesta verharrende Ödnis dargestellt wird, werden durch das Tempo ein wenig überspielt. Wobei die Zuschauer in den Mitmach-Passagen zu "Mittätern" gemacht werden. Sie sorgen auf Kommando für eine "typisch spanische" Stimmung: mit "Zip-zip-zip"-Balzgeräuschen der Grillen, mit einem donnernden "Olé" und mit klappernden Kastagnetten. Und einer aus dem Publikum darf auf Fingerzeig immer wieder den Satz des faulen Womanizers und Auto-Mechanikers Antonio einwerfen: "No, no, Amigo, kein Riemenkeil da!" Einzig Luigi Scaranos sympathische und gewitzte Darstellung des Hoteliers sorgt für einen Punkt für Spanien. Auch wenn er am Ende dem Papst, den er nach etlichen Versuchen endlich an die Strippe bekommen hat, das neue Doppelwunder von San Miguel nicht wirklich verkaufen kann.
Rezension für die Eßlinger Zeitung von heute. Premiere war am 23. September.
eduarda - 26. Sep, 19:38
Stuttgarts Radio-Sinfoniker mit neuem Chefdirigenten Stéphane Denève
Stuttgart – Mit Spannung erwartet und beobachtet von so mancher Kulturprominenz fand diesmal die Saisoneröffnung des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart (RSO) statt. Denn am Dirigierpult im vollbesetzten Beethovensaal stand Stéphane Denève, Sir Roger Norringtons Nachfolger als Chefdirigent des RSO.
Wie Norrington, aber auf ganz andere Weise sucht auch der Franzose den Kontakt zum Publikum und plauderte nach der Pause in fließendem Deutsch über die ausgewählten Werke. Dass er ausgerechnet mit Richard Strauss' "Heldenleben", das zuvor erklungen war, seine "Liebe" und seinen "Respekt für das deutsche Repertoire" beweisen will, befremdet zunächst. In dieser merkwürdigen Tondichtung, deren oft schwer erträgliches Pathos den Größenwahn der wilhelminischen Epoche widerspiegelt und in welcher der Schriftsteller Romain Rolland einst "Deutschlands Krankheitskeime" sprießen hörte ("einen Wahnsinn des Hochmuts, einen Ichglauben und eine Verachtung der anderen") – darin sieht Denève das typisch deutsche Repertoire? Ist der Mann ein Spaßvogel oder einfach nur naiv?
Indes, im Verein mit dem differenziert und sicher sich artikulierenden RSO gelang es dem Lockenkopf mit kräftiger und angespannter Gestik, dem Pathos seine Hohlheit zu nehmen und beides in den Hintergrund zu drängen. Denève hat gute Ohren und ein ausgeprägtes Gespür für die Klangbalance im Orchester. Und so machte das RSO in Denèves Leitung die kompositorischen Raffinessen der Partitur hörbar bis in jene feinsten Strukturen, die sonst oft genug im Bombast untergehen.
Dadurch entwickelte das Stück durchaus eine sinfonische Logik, der man unabhängig vom implizierten Inhalt folgen konnte. Nicht nur die wunderschön gespielten Violinsoli der Konzertmeisterin Mila Georgieva sorgten vor allem in den episch-ruhigen Abschnitten immer wieder für ohrenfesselnde Momente.
War das "Heldenleben" überstanden, ging es ohnehin entspannter weiter. Im 2006 komponierten Violinkonzert des finnischen Komponisten Magnus Lindberg konnte die junge Geigensolistin Alina Pogostkina mit expressivem Gesang, filigraner Verzierungskunst und viel Klangfantasie auf sich aufmerksam machen. Lindberg ist es in seiner Komposition überzeugend gelungen, die alte Form durch neue Klänge zum Leben zu erwecken. Auf neoromantische Expressivität verzichtet er freilich nicht ganz. Das Orchester ist hier weniger Dialogpartner als Klangmantel des Soloparts. Es greift dessen Impulse auf, vergrößert und reflektiert sie, bricht es zuweilen auf in schillernde Flächen.
Das passte gut zur folgenden zweiten der beiden Orchestersuiten, die Maurice Ravel aus seinem Ballett "Daphnis und Chloé" zusammengestellt hat. Mit diesem Werk seines Landmannes bot Denève dann den wohl beeindruckendsten Einblick in das, was man zukünftig von ihm erwarten darf. Eine wahre Farbexplosion entfachten hier Stuttgarts Radio-Sinfoniker, einen Orchesterklang von berauschender und ekstatischer Schönheit, der doch bis in die unscheinbarsten Äderchen der Partitur durchhörbar blieb – was für die Umsetzung des farblich extrem fein aufgefächerten Instrumentenspektrums unabdingbar ist. Perfekter jedenfalls kann man die Meisterschaft Ravels, des vielleicht größten Instrumentationskünstlers der Musikgeschichte, nicht zu ihrem Recht kommen lassen. Ein gelungener, zurecht bejubelter Einstand des neuen Chefdirigenten.
Rezension für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 22. September.
eduarda - 24. Sep, 19:33
Musikfest Stuttgart: Schlusskonzert im Beethovensaal mit Tan Duns "Water Passion" - Die Leidensgeschichte Jesu geht in Naturmystik über
Stuttgart – Probleme, wie sie der gute alte Händel hatte, als er im "Messias" aus Angst vor den kirchlichen Würdenträgern den Namen des Gottessohnes so gut wie vermied, weil das Oratorium doch im Theater aufgeführt wurde, wo es seinerzeit noch nicht hingehörte, sind heute zumindest hierzulande unbekannt. Jesu Leidensgeschichte wird gelegentlich sogar vertanzt. Was die Weltoffenheit der Religionen und die Toleranz Andersdenkenden gegenüber angeht, ist aber auch hier noch einiges zu tun.
Vor allem deshalb war das Auftragswerk, das die Internationale Bachakademie im Jahr 2000 im Rahmen ihres Passionen-Projektes an den Komponisten Tan Dun aus China vergab, interessant. Wie würde ein Musiker aus dem buddhistisch geprägten Fernen Osten, beeinflusst freilich auch durch sein Leben in den USA, mit der durch Bach musikalisch dominierten Passionsgeschichte nach Matthäus verfahren?
Tan Duns Antwort war seine "Water Passion". Und die setzte nun bei ihrer Wiederaufführung im gut gefüllten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle den krönenden und umjubelten Schlusspunkt des Musikfests. Schließlich ist in kaum einem anderen Werk das diesjährige Musikfest-Thema - das Element Wasser und seine Klangeigenschaften - so wortwörtlich im Mittelpunkt. Wie schon bei der Uraufführung dirigierte Tan Dun selbst die Gächinger Kantorei und die sechs Instrumental- und zwei Gesangssolisten.
Der Umgang mit dem Element Wasser macht die Hauptattraktion dieses Werkes aus, das in seiner Vertonung der Leidensgeschichte Jesu eher an die Leichtigkeit chinesischen Schattentheaters erinnert als an die europäische schwergewichtige Oratorientradition. Die Klangwelt ist fein, oft still, entspannt, sie setzt vor allem nicht auf Überwältigung, nicht einmal dann, wenn Paukendonner und Blechgetöse das Erdbeben markieren, das die Menschen nach dem Tode Jesu heimsucht. Distanziert blickt der Komponist auf das Geschehen – ob Taufritus, das letzte Abendmahl oder die Ereignisse im Garten Gethsemane. Ein Orchester gibt es nicht. Solo-Geige und -Cello scheinen vom Klang der zarten Erhu - eines chinesischen Streichinstruments - inspiriert. Die Aufgabe des Chores ist vor allem – ganz im Stile der griechischen Tragödie – zu kommentieren, oft in ritushaften Wiederholungsgesängen und einstimmig. Die Gächinger – gut vorbereitet von Stefan Weiler – machten ihre Sache ganz hervorragend, auch das Glöckchenläuten und das Steineklopfen. Mit gut geerdeter und warmer Bassstimme sang Stephen Bryant den Jesus, Sopran Claudia Barainsky überzeugte vor allem in der Rolle des verführerischen Satan.
Was an diesem Werk berührt, ist weniger das Leiden Jesu, als vielmehr die zerbrechliche und geheimnisvolle Klangwelt des Wassers, die Stimme der Natur, die einen mystischen Gegenpol darstellt zu den dramatischen Ereignissen. Das macht die eigenartige Faszination der "Water Passion" aus und lässt all die Showelemente hinter sich, die Tan Dun, hier sehr US-amerikanisch geprägt, zum Einsatz bringt: illuminierte Wasserschalen, die sich auf der Bühne zu einem großen Kreuz formieren, die blau-roten-Lichtspiele, die symbolisch Wasser und Blut zusammenbringen, die drei schönen Perkussionistinnen, die perfekt aufeinander eingespielt, aber eben auch sehr effektvoll-demonstrativ das Nass in den erleuchteten Glasschüsseln mit den Händen zum Tröpfeln und Plätschern bringen, mit Bechern die Wasseroberfläche bearbeiten oder Perkussionsinstrumente eintauchen. Alles natürlich elektronisch verstärkt. Es sind immer wieder die einsamen Klänge des Wassers, die aufhorchen lassen und die am Ende das Werk auch zum Verklingen bringen. Panta rhei, alles fließt: Auch das Leiden Jesu ist eben nur Teil eines Ganzen.
Rezension für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 18. September.
eduarda - 20. Sep, 12:57
Musikfest Stuttgart: "Melusine"-Abend mit DJ Gagarino in Bad Cannstatt
Stuttgart - Wieder ein atmosphärisch trefflicher Ort fürs Musikfestthema: Das Spätkonzert zum Thema "Wassernymphen" spielte sich im feucht-schwülen Klima des Mineralbads Cannstatt ab. Das Publikum hörte auf Liegestühlen rund ums Badebecken zu. Wirkungsvoll schwamm die Rezitatorin und Sängerin Maria Rosendorfsky zu Beginn durchs Wasser, bevor sie dann triefnass die Bühne "an Land" erklomm. Der Rest des Abends wirkte dagegen in seiner Dramaturgie relativ beliebig.
Jürgen Grözinger alias DJ Gagarino, bekannt für seine Vermischung der Musikstile und Konzertformen, sorgte für elektronische Sound- und Melodien-Mixe aus dem Computer, ergänzte dies mit Live-Percussion und ließ dazu den fabelhaften Ekkehard Roessle klangfarbenreich auf Bassklarinette und Sopransaxophon improvisieren. Patrick Bebelaar am E-Piano dagegen wirkte unterbeschäftigt, musste sich mit dem Arpeggieren von Akkördchen begnügen. Grözingers eigene Kompositionen gingen immer wieder über in klangschöne Bearbeitungen von Klavierstückchen von Erik Satie.
Was gar nicht funktionierte war die Verbindung von Musik und Sprache. Rosendorfsky las Ingeborg Bachmanns und Jean Giraudoux' Bearbeitungen der Melusine- und Undine-Stoffe nicht professionell und lebendig genug, um das Ohr zu fesseln. So gingen die anspruchsvollen Texte in der Dauermusikberieselung schnell unter. Ohnehin wirken Worte stärker, wenn die Musik mal schweigt. Aufhorchen ließ dann aber Grözingers hitverdächtiger, von Rosendorfsky schön gesungener "Venus-Song".
Kurzkritik für die Stuttgarter Nachrichten von heute (in nochmals stark gekürzter Form erschienen). Das Konzert fand statt am 13. September.
eduarda - 15. Sep, 12:10
Musikfest Stuttgart: Die Neuen Vocalsolisten singen Sciarrino-Madrigale im Wasserbehälter Stuttgart-Rohr
Stuttgart - Das ist ein wirklich spektakulärer Ort für Konzerte, und das diesjährige Musikfest-Thema "Wasser" wurde hier tatsächlich auch körperlich fühlbar: im Wasserspeicher Stuttgart-Rohr, dem größten der 29 Hochbehälter, die die Landeshauptstadt mit Bodensee-Wasser versorgen. 100 000 Kubikmeter Fassungsvermögen hat er. Von hier fließt das gesammelte kühle Nass im freien Gefälle in die umliegenden Gebiete, um dort Badewannen und Trinkgläser zu füllen. Fürs Konzert war in einem der großen Bassins für einige Zeit der Nachfluss gestoppt worden, so dass man jetzt hinuntersteigen konnte in die finstere Tiefe, um trockenen Fußes dem grandiosen A-cappella-Gesang der sieben Neuen Vocalsolisten Stuttgart zu lauschen.
Feuchte Kälte kroch langsam in die Glieder. Man fühlte sich ein wenig wie in der hallenartigen Kulisse eines Science-Ficton-Films, der von den geheimen Riten der Bewohner eines fremden Planeten erzählt: In der Mitte kreisförmig positioniert das Ensemble in blauen Schutzanzügen, drumherum standen zwischen schlank aufragenden Säulen die Zuschauer in weißen Vlieskitteln und mit Überschuhen – aus Hygienegründen. Licht erhielt der Raum nur über die wirkungsvollen, blau-rot-orangenen Beleuchtungsspiele, für die sich der Kooperationspartner, die Bodensee-Wasserversorgung, verantwortlich zeigte.
Aufgeführt wurden die zwölf Madrigale des 1947 geborenen italienischen Komponisten Salvatore Sciarrino, geschrieben 2008 auf Haikus des japanischen Dichters Matsuo Bash, die um die Themen Nacht, Wasser und Natur kreisen. Hervorragend kamen die Vocalsolisten mit der geheimnisvollen und sehr schwierigen Akustik des einsamen Ortes zurecht. Der Klang erfährt in diesem hochwandigen Becken, in dem sonst zehntausende von Kubikmetern Wasser stehen, einen fast endlos erscheinenden Nachhall. Der unterstrich nun die Sinnlichkeit der fragilen, vibrierenden und fein gezeichneten Klangwelt Sciarrinos, die sonst auch gewisse Kargheiten aufweist, weil von Stille und Schweigen durchsetzt. Hier aber gab es den wirklich lautlosen Augenblick nie. Stille äußerte sich ausschließlich im sehr langsamen Sichverflüchtigen der Töne. Das waren die faszinierendsten Momente an diesem musikalisch erstklassigen Abend: wenn die Vocalsolisten ihr Stück beendet hatten und schwiegen und alle dem eigenartigen Nachhall hinterherhörten, als wär's der Gesang melancholischer Wassergeister.
Aber auch sonst passte die Musik wegen ihrer oft weich-plätschernden Klanglichkeit, an- und abschwellenden Dynamik und schwebenden Polyphonie, ihres Klangfarbenreichtums und ihrer rhythmischen Finessen, aber auch wegen ihrer murmelnden, heulenden und lachenden Artikulationen so trefflich an diesen Ort, dass man dachte, sie sei für ihn geschrieben.
Dass das Konzert am Ende eher ein Event war denn ein musikalisches Ereignis, dem man kontemplativ folgen konnte, lag an der Aufforderung der Veranstalter an das Auditorium, sich während der Aufführung im Raum zu bewegen. Das taten die Zuhörenden dann auch im angeordneten Storchengang, um bloß keinen Mucks von sich zu geben. Nur klappte das nicht bei allen. Und so erwiesen sich die Schlurfgeräusche – neben Fotoapparatklicken und -blitzen – schon bald als unüberhörbarer Störfaktor.
Rezension für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 12. September.
eduarda - 14. Sep, 22:02
Musikfest Stuttgart: "Orchester der Kulturen" mit Eichendorff-Vertonungen
Stuttgart - Manche Konzerte scheitern schon daran, dass sie am falschen Ort zur falschen Zeit stattfinden und dann auch noch eine Art Mogelpackung darstellen. Beim Montags-Spätkonzert "Hydrokulturen" des Musikfests war aber genau das der Fall. So manch einer hatte das wohl geahnt. Nur 60 bis 70 Nachteulen fanden sich im Weißen Saal des Neuen Schlosses ein, um dem Orchester der Kulturen unter Leitung seines Gründers Adrian Werum zuzuhören. Und davon verließen einige schon nach nur wenigen Minuten den Saal. Grund: Angekündigt waren "Sinfonische Dichtungen" und "Orchesterlieder" nach Texten Joseph von Eichendorffs, komponiert von Werum. Was dann erklang, waren aber vor allem unterdurchschnittliche, langweilende Musicalgesangsnummern, denen es mangels Geschmack, Stil und Inspiration in Sachen Textvertonung an unfreiwilliger Komik nicht fehlte. Schier endlos reihte sich etwa eine nach der anderen Strophe eines der "Schiffer"-Gedichte Eichendorffs musikalisch öde aneinander.
Ins Mikrofon sang eine junge Dame namens Michaela Kovarikova im musicaltypischen, technisch wenig geschliffenen Belting-Stil, der dafür jedes Wort ungemein theatralisiert. Einfach krass unpassend ist es, Verse wie "Dann in des blauen Mittags schwülen Schatten" in rosarotem Musicalkitsch aufzuschäumen. Angekündigt war zudem: ein "Orchester aus Musikern aller Länder, die auf ihren landestypischen Instrumenten spielen", während in Wirklichkeit der größte Teil klassische Orchesterinstrumente traktierte – lediglich ergänzt durch Sitar, Didgeridoo und afrikanische Kora, die aber alle drei wegen des offenbar noch nicht fertig gestellten Arrangements nicht wirklich integriert wurden und so den Gesamtklang eher störten, als das sie ihn bereichert hätten.
Rezension für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 12. September.
eduarda - 14. Sep, 21:50
Musikfest Stuttgart: Sciarrinos "Studi per l'intonazione del mare" in der Phoenixhalle
Stuttgart - Bei seiner "Studie über den Klang des Meeres" dachte der italienische, 1947 geborene Komponist Salvatore Sciarrino sicher nicht an den Atlantik. Es ist das träge Mittelmeer seiner Heimat, das Glitzern und Funkeln unter greller Sonne, das sich aus seinem siebenteiligen Werk für Flöten, Saxophone, Perkussion und einen Countertenor heraushören lässt. Fragil, flirrend und fein gezeichnet ist Sciarrinos Klangwelt, zwar sehr sinnlich, aber in gewisser Weise auch karg, weil von Stille und Schweigen durchsetzt.
Fürs Musikfest und sein Thema war diese Klangstudie – die als Kooperationsprojekt mit dem Schleswig-Holstein- und dem Rheingau-Musikfestival am Sonntagnachmittag zur Aufführung kam, natürlich ein gefundenes Fressen. Ein Orchester aus über 100 jungen Saxofonisten und Flötisten des Projekts "Meisterschüler-Meister", das Jugend-musiziert-Preisträger fördert, füllte die Bühne der Phoenixhalle im Römerkastell. Zusammen mit ihren Lehrern sorgten die jungen Musiker 45 Minuten lang für tröpfelnde, rauschende, säuselnde, pfeifende Klangflächen, die mal zerbrechlicher, mal kräftiger wirkten, während die acht Solo-Saxophone und -Flöten im Vordergrund scharfe Akzente und blockhafte Klänge setzten und Countertenor Daniel Gloger den Naturklängen menschlich-reflektierende Töne beimischte.
Mit ein paar Koordinationsschwierigkeiten hatte der musikalische Leiter Peter von Wienhardt dann doch zu kämpfen. Und gelegentlich verloren sich die leisen, feinen Orchesterklänge so sehr in den Weiten der Phoenixhalle, dass die Grenze des Wahrnehmbaren unterschritten wurde.
Kurzkritik für die Stuttgarter Nachrichten von heute. Das Konzert fand statt am 11. September.
eduarda - 13. Sep, 21:47
Musikfest Stuttgart: Das Barockensemble Zefiro mit Wassermusiken von Händel und Telemann
Stuttgart - Das italienische Barockensemble Zefiro, benannt nach dem griechischen Gott der Westwinde, trägt seinen Namen zu Recht: So viel Energie und Kraft versprühten die 23 Musiker am Freitagabend im ausverkauften Weißen Saal im Neuen Schloss, dass das Publikum sofort hineingerissen wurde in den Strudel quirliger, wirbelnder, zuweilen furios ratternder Tanz-Rhythmen, plastisch und emotional durchgeformter festlicher Polyphonie, sattem Melos und farbig und sensibel ausgestalteter Kontraste. Auf dem Programm standen Händels drei Wassermusiken, die bei einem Festival zum Thema Wasser natürlich nicht fehlen dürfen. Und Zefiro, das auf historischen Instrumenten spielt, interpretierte die königliche Popmusik so lebendig und frisch, dass man ganz vergaß, wie oft man sie schon gehört hat und dass sie aus dem 18. Jahrhundert stammte.
Es muss ja ein ziemliches Spektakel gewesen sein, was da auf der Themse vor sich ging, als sich der junge Händel seinerzeit in London mit seiner "Water Music" das royale Ohr Georges I. geneigt machte. Massen von Menschen beobachteten vom Ufer aus den königlichen Kahn, während er auf der Themse hin und her schipperte, im Schlepptau ein Boot voller Musiker, das mit neuer, hitverdächtiger Musik für Unterhaltung sorgte. Diese quirlige Atmosphäre ließ Zefiro unter der Leitung des Oboisten und Ensemblegründers Alfredo Bernardini im Weißen Saal aufleuchten. Und wenn auch Händel mit den drei Suiten keine Programmmusik geschrieben hat, Zefiro gestaltete die untereinander kontrastierenden Sätze besonders in ihren Stimmungen so subtil aus, dass man in einem sirrenden-flirrenden Allegro plötzlich glaubte, jenen Mückenschwarm zu hören, der die Musiker der Uraufführung garantiert nicht nur einmal attackiert hat. Nicht nur die differenzierte dynamische Formung des musikalischen Flusses macht diese Truppe einzigartig.
So versetzte auch die Suite "Hamburger Ebb' und Fluth" des großen Tonmalers Telemann das Publikum in Verzückung. Hier sorgte nun die plastische musikalische Darstellung überschäumender Wellen, wilder Seestürme, mythischer Meeresgestalten und betrunkener Matrosen für einen besonders vitalen Beitrag zum Festivalthema.
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten von heute. Das Konzert fand statt am 9. September.
eduarda - 12. Sep, 11:10
Musikfest Stuttgart: Andersens "Kleine Meerjungfrau" mit Corinna Harfouch und Hideyo Harada im Wilhelma-Theater
Stuttgart - Ein Happy End, wie es später Walt Disney für sie bereithielt, gönnte Hans Christian Andersen seiner "Kleinen Meerjungfrau" nicht. Er ließ sie ganz im Sinne der Romantik sterben, sich am Ende zu Meeresschaum auflösen. Immerhin erfüllte er ihr noch einen Wunsch: Wenn sie schon von ihrem geliebten Prinzen, für den sie jedes nur erdenkliche Opfer auf sich genommen hat, verraten wurde, soll sie wenigstens die "unsterbliche Seele" erhalten, die sie sich so sehnlich gewünscht hat. Dafür muss sie aber erst noch 300 Jahre als Luftgeist ackern und Gutes tun. Dann erst darf sie hinein in "Gottes Reich". Arme Meerjungfrau!
Beim Musikfest gab es Andersens romantische Deutung des Undine-Mythos am Samstag als späte Märchenstunde für Erwachsene im ausverkauften Wilhelma-Theater. Die Schauspielerin Corinna Harfouch erzählte das furchtbare Schicksal des geheimnisvollen Wasserwesens mit Empathie und sicherem Gefühl für knisternde Spannung, aber auch für den feinen Witz, den Andersen immer wieder aufscheinen lässt, etwa wenn es um die fantastische Beschreibung des väterlichen Meeresschlosses oder die Standesdünkel der Meerfrauen-Großmutter geht oder ihre Beschreibung der menschlichen Welt, wo "die Blumen duften und die Fische (= Vögel) so wunderbar singen". Einfühlsam brachte Harfouch die zärtliche Naivität der pubertären Nixe zum Ausdruck und ihre unstillbare Sehnsucht nach der anderen Welt, ließ ihre Trauer über die Tatsache fühlbar werden, dass der Prinz fälschlicherweise eine andere Frau für seine Retterin aus den Meeresfluten hält. Fühlen konnte man auch jene albtraumartige Stimmung, in der die Meerjungfrau, zur Stummheit verurteilt, unfähig ist, den Prinzen über die wahren Begebenheiten in Kenntnis zu setzen. Ihre Zunge hatte sie der geschäftstüchtigen Meereshexe überlassen müssen, die sie dafür von ihrem Fischschwanz befreite und ihr menschliche Gliedmaßen gab.
Harfouchs sprachliche Musikalität verband sich atmosphärisch perfekt mit den trefflich ausgewählten lyrischen Klavierminiaturen von Edvard Grieg, mit der die Pianistin Hideyo Harada klangfarbenreich das Innenleben der Meerfrau aquarellierte, ja, ihr durch ihr Spiel jene Seele gab, die sie im Märchen so sehr vermisst. In "Traumgesicht" trat die Sehnsucht zutage, in "Zug der Trolle" die Angst vor der Hexe oder in "Entschwundene Tage" die Todesangst. Wunderbar, wie Harfouch die Stimmung der Klavierstücke inhalierte und sie in den nächsten Abschnitt der Lesung überführte. Eine zauberhafte Traum-Atmosphäre entstand so im Wilhelma-Theater, aus der man am Ende nur mit Mühe wieder erwachte.
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung von heute. Die Lesung fand statt am 10. September.
eduarda - 12. Sep, 10:37
Ökologische, ökonomische und spirituelle Aspekte des Wassers: Der chinesische Komponist Tan Dun ist Composer in Residence des Musikfestes Stuttgart
Stuttgart - "That's interesting!" sind die Worte, die man am häufigsten aus seinem Munde hört, wenn Tan Dun offen, freundlich und immer mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht Auskunft gibt über seine Musik und seine Ansichten. Der chinesische Komponist ist in diesem Jahr "Artist in Residence" des Musikfestes Stuttgart. Und das nicht zufällig. Kein anderer Komponist hat sich derart ausgiebig mit den Klangeigenschaften des Wassers beschäftigt und sie so oft zum Einsatz gebracht wie er. Und seine "Water Passion" nach dem Matthäus-Evangelium – ein Auftragswerk der Bachakademie für das große Passionen-Projekt vor elf Jahren – gab letztlich auch den Anstoß für das diesjährige Musikfestthema "Wasser". Sie ist das zentrale Werk und wird das Festival am 18. September beenden. Darüber hinaus erklingen acht weitere Werke Tan Duns in unterschiedlichen Konzerten, und er wird in zwei Musikfest-Cafés Rede und Antwort stehen.
An die Uraufführung seiner "Water Passion" im Jahr 2000, in dem Tan Dun auch einen Oscar für die Filmmusik zu Ang Lees Kampfkunst-Drama "Crouching Tiger, hidden Dragon" erhielt, kann sich der 54-Jährige noch sehr genau erinnern. "Buddha Bach" habe eine Zeitung damals getitelt, was sein Werk gar nicht so schlecht treffe, erzählt er lachend. Denn Tan Dun ist ein Grenzgänger zwischen asiatischer und europäischer Musikkultur, ist von der Klang-Welt des alten Chinas, der chinesischen Oper, genauso geprägt, wie von der europäischen Kunstmusik und ihrer Avantgarde sowie ihrer Orchester- und Chorkultur. Er steht aber auch der Computermusik und der Elektronik offen gegenüber. Die "Komplexität" der europäischen Kunstmusik, ihr Hang zur Chromatik und Kontrapunktik, scheint ihn allerdings noch immer zu befremden. "Warum so komplex wie bei Mahler, wenn es auch einfacher geht?", fragt er. Seine Musik sei "very simple", für Musiker einfach zu spielen. In der asiatischen Kultur seien die Farbe des Klangs, die Melodie, der Rhythmus und die Aktion wichtig, vor allem der spirituelle Aspekt.
"Interessant" findet Tan Dun alles, über das er spricht: New York, wo er seit den 1980er Jahren lebt, die Möglichkeiten des Internets – Aufsehen erregte etwa 2008 seine von Google in Auftrag gegebene erste Internetsinfonie –, interessant sei auch die Arbeit mit den Stuttgarter Philharmonikern, mit denen er heute sein "Water Concerto" und sein "Paper Concerto" aufführen wird. Gerade kommt er von einer Probe, ist begeistert, wie viel Spaß die Orchestermusiker bei der Arbeit hatte und wie interessant es war, mit ihnen über die Unterschiede zwischen asiatischer und europäischer Musik zu diskutieren. Etwa über das Spielen zweier nacheinander erklingender Töne, die in seinem Stück zu einem werden. Er untermalt seine Worte mit einer bogenförmigen Handbewegung, zischt dabei laut, um zu demonstrieren, wie das im Sinne der Wasserbewegung gemeint ist: aus zwei Tönen werde einer.
Tan Duns Markenzeichen ist zweifelsohne der Einsatz von "organischen" Instrumenten. Neben traditionellen asiatischen Instrumenten und der klassisch-modernen europäischen Orchesterbesetzung verwendet er mit Vorliebe Klangkörper aus Naturmaterialien wie Ton, Papier, Bambus, vor allem aber Wasser. Das wird meist in Gestalt von Wasserschlagzeugen zum Sprechen gebracht: in blau illuminierten großen Glasschüsseln, in denen die Perkussionisten nach genauen Vorgaben mit den Händen herumplantschen oder in das sie andere Schlaginstrumente eintauchen, um sie dort zu bearbeiten.
Tan Dun schwärmt vom globalen Aspekt des Wassers, das alle Fragen zusammenbringe, ob industrielle, ökologische oder spirituelle. Wasser, das seien die "Tränen der Natur". Was besonders deutlich werde, wenn er in seinen Konzerten nicht wie in Stuttgart sauberes Trinkwasser gebrauche, sondern braunes, brackiges aus verschmutzten Flüssen – wie neulich in Shanghai.
Porträt für die Eßlinger Zeitung von heute.
eduarda - 10. Sep, 21:21
Musikfest Stuttgart: Ein bunter John-Cage-Abend zum Thema Wasser mit Dietrich Henschel und der Sinfonietta Leipzig im Theaterhaus
Stuttgart – John Cages "4'33''" von 1952 funktioniert auch heute noch. Es ist zwar längst zu einem Klassiker der Avantgarde geworden. Doch immer noch reagieren Teile des Publikums auf die Tatsache, dass in diesem Stück kein einziger Ton erklingt, mit verständnislosem Kopfschütteln. Auch im speziell für das Musikfest-Thema konzipierten Konzert "Wasserspaziergang" im Stuttgarter Theaterhaus verweigerten wieder einige Zuhörer den Künstlern den Applaus oder taten ihre Verwirrung während der Aufführung durch lautes Räuspern und Kichern kund. Der größte Teil der Zuhörer schien aber gelassen. Und dass Dirigent Dietrich Henschel, sonst eher als Sänger bekannt, während der Aufführung von absoluter Stille mal seine Starre löste und eine neue Position einnahm, um dem Kammermusikensemble Sinfonietta Leipzig, das dem Nichtstun frönte, keine Anweisung zu geben, wurde auch von einigen verstanden. "Ah, das ist der zweite Satz", raunte eine kundige junge Frau.
Der hoch unterhaltsame Abend war John Cage gewidmet, der in diesem Jahr 99 Jahre alt geworden wäre. Neben "4'33''" erklangen deshalb noch weitere kompositorische Leckerbissen des Avantgardisten, die zum Nachdenken über die substantielle Frage, was denn Musik überhaupt sei, wo sie anfangt und wo sie aufhört, anregen. Eine befriedigende Antwort ist auch heute noch ein Spezialfall für Philosophen – wie Cage einer war.
Aber wenn es sich nicht gerade um die absolute Stille handelte, zeigte sich das Publikum durchweg tolerant. Etwa in Cages "Inlets", das an drei Tischen zur Aufführung kam, die wirkungsvoll auf dem Bühnen-Balkon positioniert waren. Drei Spieler betätigten sich im Schwenken von Muschelhörnern, die mit Wasser gefüllt sind. Den über Mikrophone verstärkten gurgelnden und blubbernden Geräuschen, die später noch durch einen brennenden Tannenzapfen und ein geblasenes Tierhorn ergänzt wurden, folgte das Auditorium andächtig, als wär's eine Beethoven-Sinfonie.
Konzerthighlight wurde Cages nur mit aufwendiger Requisite aufführbarer witziger "Waterwalk". Dieter Henschel, der den Abend auch moderierte, stellte klar, dass die historische Aufführungspraxis nicht nur für Alte Musik wichtig ist, sondern dank solcher Stücke bereits im 20. Jahrhundert gefordert ist. So sind die Gegenstände, die Cage Ende der 50er Jahre für "Waterwalk" gefordert hat, heute nur noch schwer zu beschaffen: Etwa ein musikalisch wirklich brauchbares Quietscheentchen. Das brachte der improvisationsbegabte Henschel dann genauso gekonnt zum Einsatz wie den Dampfkessel, die Campari-Flasche, die Vase mit Rosen, den Eiscrasher oder die vielen Radios, die allesamt in der mit Wasser gefüllten Badewanne landeten.
Dramaturgische und thematische Schärfung erhielt der Abend auch durch die plastische Aufführung von Hanns Eislers "14 Arten, den Regen zu beschreiben" und Johann Strauss' "An der schönen blauen Donau". Besonders aber in José María Sánchez Verdús "Memoria del agua", das an diesem Abend uraufgeführt wurde, zeigte die elfköpfige Sinfonietta Leipzig ihre besonderen Qualitäten in Sachen Neuer Musik. Ein Stück, das die gedämpfte Atmosphäre unter Wasser eindrücklich widerspiegelt: ein komplexes Geflecht aus Horntönen, langsamen Glissandi, Flageoletts, leisem Pochen und anderen vagen Tonerzeugungen.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 5. September.
eduarda - 8. Sep, 10:33
Der Perkussionist Terje Isungset mit Eismusik beim Musikfest Stuttgart
Stuttgart – Das war ein magischer Moment im Musikfest-Nachtkonzert, als die Türen im T3-Saal des Stuttgarter Theaterhauses aufgingen und endlich das Eis hereingetragen wurde, auf das alle gewartet hatten: ein Quader, ein ambossartiges und ein kastenförmiges Gebilde – alles blau illuminiert und aus gefrorenem Wasser eines bestimmten norwegischen Sees gemacht. Denn nur aus dessen Nass gefertigte Instrumente hält der Perkussionist Terje Isungset seiner Musik für würdig. Der fantasiebegabte Norweger arbeitet besonders gerne mit selbstkonstruierten Schlaginstrumenten aus Naturmaterialien.
So hatte er vor Beginn seiner Eis-Performance eine halbe Stunde lang Holz und Steine bearbeitet und ein ganz gewöhnliches Schlagzeug mit den Füßen und mit Schlegeln aus Holzstöckchen traktiert. Er war dabei immer wieder in die Nähe des Esoterik-Kitsches geraten, denn Steinereiben, Holzgerassel und -geklopfe, sein Atmen und Flüstern, ein endlos erscheinendes Maultrommel-Intro, folkloristischer Minimalgesang sowie das Blasen in ein großes Rinderhorn wurden durch den massiven Einsatz von Elektronik nicht nur verstärkt, sondern immer wieder bombastisch gesteigert und mit geheimnisvollen Donnerwolken untermalt. Und weil sich musikalisch wenig tat außer der Aneinanderreihung solcher Aktionen, wirkte das Ganze bald wie eine klingende Riesen-Seifenblase, die außer meditativer Pseudo-Naturmusik wenig zu bieten hatte.
Das änderte sich in der Eismusik aufgrund des spektakulären Materials. Es gab jetzt nicht nur etwas zu hören, sondern auch zu sehen: Die durch die Schmelze sich langsam verwandelnden Instrumente, die immer stärker tropften, ihre milchige Trübung verloren und glasklar wurden, veränderten auch ihren Klang, der immer weicher und wärmer wurde. Terje Isungset ließ sich nun von der jungen Norwegerin Mari Kvien Brunvoll unterstützen, die den Part des volksmusikalischen Didadudadum-Gesummes übernahm, das jetzt aber nicht weiter störte. Isungset trommelte mit Schlegeln aus gefrorenem Wasser, mit behandschuhten, aber auch bloßen Fingern auf die Eisflächen oder bohrte die Schlegel in das schmilzende Kalt, so dass es knirschte und ächzte.
Wie ein Bote aus einer anderen Welt wirkte Isungsets Assistent, der – vermummt in eine polartaugliche Montur und mit Stirnlampe ausgestattet – immer wieder frisches Material auf die Bühne brachte: unterschiedlich große Eis-Platten etwa, die auf den Kasten gelegt wurden und Isungset dann als eine Art Xylophon dienten, dem er kalimba-ähnliche Töne entlockte. Oder ein mächtiges Horn aus Eis, mit dem Isungstet ein ohrenbetäubendes Röhren erzeugte.
Künstlerisch interessant war dieser zweite Teil vor allem deshalb, weil das elektronische Schummern, Wummern und Knattern nunmehr dezent eingesetzt wurde. Und das norwegische Wiegenlied, das Mari Kvien Brunvoll sang, wirkte deshalb so eindringlich, weil hier auf künstliche Effekte fast vollständig verzichtet wurde und Isungset seine Eismarimba pur zum Sprechen brachte: von einer Vollmondnacht mitten im winterlichen Norwegen.
Bericht für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 5. September.
eduarda - 7. Sep, 23:57