Dienstag, 6. September 2011

Wo die Liebe hinfällt

Olivia Trummer Trio beim Musikfest Stuttgart

Stuttgart – Olivia Trummer ist wirklich nett. Der aufsteigende Stern am deutschen Jazz-Himmel ist an diesem Abend im Freien Musikzentrum Feuerbach "ganz arg glücklich", mit ihrem Trio beim Musikfest Stuttgart auftreten zu dürfen. Das Spätkonzert ist zwar nur schwach besucht – Jazz-Fans gehören (noch) nicht zum Stammpublikum der Bachakademie. Aber der guten Laune Trummers schadet das nicht. Die zierliche 26-Jährige versprüht augenaufschlagenden Charme à la Audrey Hepburn, und ihre Texte wirken so verträumt wie die eines Teenagers. Entsprechend heißt das Konzert so wie ihre demnächst erscheinende CD: "Poesie-Album".

Die Pianistin, Sängerin und Komponistin trägt selbstgeschriebene und -getextete Songs vor, die von der Liebe, von der Welt an sich und einem Waschbären handeln. Vielem darin kann man nicht widersprechen: Etwa "Ohne Biene keinen Honig in den Tee". Nicht jeder mag ja schließlich Kunsthonig. Oder "Ohne Herbst kein Winter, kein Frühling und kein Sommer", oder so ähnlich. Oder "Wo die Liebe hinfällt, da soll sie gedeihn". Trummer singt das mit ihrer Jungmädchen-Stimme schön, ihre Scat-Gesänge – improvisierte Vokalisen – sind rein und hoch. Aber Worten wie "Wir werden in einem Meer ohne Wasser untergehen" würden ein paar kleine Einrauungen nicht schlecht stehen. Ihre Stimme ist halt wie ein blauer Himmel ohne Wolken, wie die Texte, von denen sie singt. Ihre Popsongs werden durch die vagierende Jazzharmonik interessant. Ihr Klavierspiel, mit dem sie sich begleitet, ist fein, farbig, oft witzig verziert. In den anschließenden Improvisationsteilen, in die ihre Lieder jazzgemäß münden, wird die Welt zwar nicht neu erfunden. Aber es faszinierte das verwobene, pointierte, inspirierte Miteinander des Trios. Martin Gjakonovski am Kontrabass sorgte für eine sich in die zerbrechliche Klangwelt Trummers sensibel einfühlende groovige Grundierung. Ebenso feinfühlig formte der ausgezeichnete, auch mit Glöckchen und Regenmacher arbeitende Perkussionist Bodek Janke fein ziselierte Klänge.

Bezüge zum Festivalthema stellte Trummer immer wieder her. Vor dem Konzert hörte man Wasserplätschern aus den Lautsprechern. Im Konzert gab es für das Publikum ein musikalisches Wortspiel zum Thema Bach und Wasser zu lösen, wobei Trummer ihre ausgezeichnete Beherrschung des barock-präludierenden Stils demonstrieren konnte.

Dass Trummer dann den Urheber jenes Kinderbuches nicht nennen konnte, aus dem sie für ihren Song "Rascal, der Waschbär" geklaut hatte, und dies mit dem Verweis "Das können Sie dann ja googlen" abtat, gehört dagegen in die Rubrik peinliche Ereignisse in Konzerten.

Die Bonbons, die der Waschbär in der Geschichte verschmäht, warf Trummer dann am Ende kokett ins Publikum. Sie ist eben total nett. Und wenn einem das nicht irgendwann mal auf die Nerven geht, kann man solche Abende auch uneingeschränkt genießen.

Rezension für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 5. September.

48 Saiten für ein Hallelujah

Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker beim Musikfest Stuttgart

Stuttgart – In Claude Debussys "Versunkener Kathedrale", dem Bezugspunkt ihres Auftritts zum Musikfest-Thema "Wasser", kamen die besonderen Klangmöglichkeiten der 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker an diesem Abend im ausverkauften Mozartsaal der Liederhalle vielleicht am besten zur Geltung: In dieser Adaption von Debussys impressionistischem Klavierstück offenbarte sich die Varianz an Farben, mit der sich ein sinfonisches Universum allein durch Violoncelli überraschenderweise aufbauen lässt, am eindrücklichsten. Celli unterscheiden sich anscheinend im Klangcharakter untereinander stärker als Violinen, Kontrabässe oder Bratschen.

Zuvor hatte sich in vier ausgewählten Kontrapunkten aus Johann Sebastian Bachs "Kunst der Fuge" allerdings die Schwierigkeit für Cellisten, in den oberen Lagen homogen und rein zusammenzuspielen, zu deutlich gezeigt. Ein ziemlich schräges Ständchen für den Hausgott der Bachakademie hörte man, das noch einige Proben gut vertragen hätte. Barocke Polyphonie ist aber auch nicht das Repertoire, mit dem die 12 Cellisten gewöhnlich in Erscheinung treten. Sie frönen eher dem 20. Jahrhundert: So klappte es mit einem anderen Ständchen, "Aubade", das der Komponist Jean Français dem Ensemble einst auf den Leib geschrieben hat, schon viel besser: Etwa im finalen Presto, das von der Geräuschkulisse eines Autorennens inspiriert ist.

Leidenschaftlich bewegt widmete sich das Ensemble auch Jazzigem wie Duke Ellingtons "Caravan", Spirituals wie "Deep river" und vor allem dem französischen Chanson. Keine Frage: Melodienseligkeit und der beschwingte Rhythmus des Musette-Walzers, wie sie etwa in Hubert Girauds "Sous le ciel de Paris" zur Entfaltung kommen, oder Effekte wie das in diesem Falle absichtliche Unreinspielen zwecks Imitation einer verstimmten alten Drehorgel wie in Vincent Scottos "Sous les ponts de Paris" liegen den Berlinern. Mitreißend gelangen auch die Ausflüge in die Filmmusik, etwa Ennio Morricones besonders effektvoll arrangiertes "Spiel mir das Lied vom Tod" als Zugabe. Erstaunlich, wie perfekt sich das gedehnte, unheilvoll und geisterhaft säuselnde Mundharmonikasolo des Soundtracks in die Klangwelt des Cello-Orchesters übertragen lässt. Ein Meisterwerk des Arrangements – leider wurde der Urheber nicht genannt.

Auf dem vielseitigen Programm der eingespielten Truppe stand aber auch Neue Musik: Mit Kaija Saariahos "Neiges" (Schnee) zeichnete sie streichend, zupfend, klopfend feine Klangbilder: starre, flächige, knirschende und blau-kalte Gebilde, die einem Assoziationen an Eisblumen und Eiszapfen fast zwangsweise in den Sinn brachten.

So effektvoll und unterhaltend das Programm ohne Zweifel war, mit dem die 12 Cellisten ihr Publikum schon bald in der Tasche hatten, das am Ende frenetisch jubelnd drei Zugaben einforderte – bewundernswert erscheint vor allem eines: dass sich ein Orchester eine so derart vielseitige und virtuose Cellistengruppe in dieser Größenordnung leisten kann. Was für ein Luxus!

Rezension für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 5. September.

Montag, 5. September 2011

Schiff mit Schifferklavier

Musikfest Stuttgart: Anne-Maria Hölscher spielt Klavierwerke Bachs auf dem Akkordeon

Stuttgart - Die Leidensgeschichte des Akkordeons als einem vom Bürgertum verachteten und deshalb von der Kunstmusik ignorierten Instruments ist zwar beendet. Die heutigen Komponisten schätzen seine Klangeigenarten und erweitern mit ihm dankbar die Farbpalette ihres Instrumentariums. Dennoch ist das Akkordeon, gerne auch "Klavier des kleinen Mannes" genannt, noch immer ein Fremder in deutschen Konzertsälen.

Als "Schifferklavier" auch der Welt der Seemänner zugeordnet passt es aber ganz vorzüglich ins Musikfest-Thema. Und im frühmorgendlichen ausverkauften Konzert am Samstag stimmte erneut auch der Ort. Die in Stuttgart vor allem in Neue-Musik-Kreisen bekannte Anne-Maria Hölscher spielte die Bach-Adaptionen für Freibass-Akkordeon im atmosphärisch reizvollen Theaterschiff auf dem Neckar. Und demonstrierte dabei eindrücklich, wie vielfältig das Klangspektrum dieses einst so verkannten Instruments ist, dessen Ton so variabel ist wie die menschliche Stimme, zu grellen, abweisenden Klängen genauso befähigt wie zu melancholischen, warmen.

Dass Bachs Französische Suite Nr. 3 eigentlich für Klavier geschrieben ist, vergaß man deshalb sofort: Die Kontrapunktik, mit der Bach den alten Tänzen Kunstcharakter verlieh, trat durch die speziellen Vorteile des Akkordeons, etwa die dynamische Formbarkeit des einzelnen Tones, viel praller und lebendiger zu Tage. Die aerophone Klangerzeugung durch Metallzungen lässt Dissonanzen zudem schärfer wirken, was Hölscher durch recht freie Tempogestaltung besonders auszukosten schien. So geriet besonders die vierstimmige H-moll-Largo-Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier I zu einer emotional durchleuchteten Klangstudie, in der sich Hölschers profunde Virtuosität und Musikalität besonders entfalten konnte. So sehnsüchtig, so individuell reflektiert, wird man Bach auf der Orgel oder auf dem Klavier wohl nie hören.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten von heute. Das Konzert fand statt am 3. September.

Samstag, 3. September 2011

Tief eingetaucht

Sabine Meyer, Martin Helmchen und Marie-Elisabeth Hecker im Trio beim Musikfest Stuttgart

Stuttgart - Aller guten Dinge sind drei. Die Drei steht für Synthese und Vollkommenheit. Auch in der Musik. Was sich etwa im Trio zeigen kann, wenn so engagierte und kommunikative Musiker aufeinandertreffen wie gestern Mittag im gut besuchten Mozartsaal der Stuttgarter Liederhalle. Beethovens "Gassenhauer-Trio" gelang dem jungen Pianisten Martin Helmchen, Sabine Meyer an der Klarinette und der für den erkrankten Heinrich Schiff eingesprungenen 24-jährigen Cellistin Marie-Elisabeth Hecker in perfekter Klangbalance: mitreißend, sprudelnd, fröhlich. Helmchen durchweg mit witzig-spritzigem Ton, fein, leicht, immer dynamisch wohltemperiert und, wenn erforderlich, von drängender, mitreißender Intensität. Ein toller Pianist! Auch im Duo mit der Cellistin, die in Beethovens Sonate op. 69 durch einen warmen, ausdrucksstarken Ton überzeugte. In Brahms' schwerblütigem Klarinettentrio stimmte die Balance nicht ganz, das Cello blieb ein wenig blass. Dafür gestalteten Meyer und Helmchen die Duo-Stücke op. 5 von Alban Berg als flüchtige Visionen von emotionaler Eindringlichkeit und in kräftigen, aber auch fein lasierten Farben.

Kurzkritik für die Stuttgarter Nachrichten von heute. Das Konzert fand statt am 2. September.

Donnerstag, 1. September 2011

Synchronbach

Musikfest Stuttgart: Konzert im Trinkwasserspeicher Hasenberg, Schwimmballett im Mineralbad Leuze

Die Synchronschwimmerinnen des Schwimmerbunds Schwaben haben Bach ins Wasser gebracht. (Foto: Bachakademie/Schneider)

Stuttgart – Ungewöhnliche Konzertorte werden zum Markenzeichen des Musikfests Stuttgart. Weil das Motto in diesem Jahr "Wasser" heißt, werden vor allem feuchte Lokalitäten bevorzugt. Die offenbaren sich schon jetzt als Publikumsmagneten. Zum Beispiel der Trinkwasserhochbehälter Hasenberg der EnBW im Stuttgarter Westen, der Neuer Musik ein ausverkauftes Haus bescherte. Der Hochbehälter besitzt drei Wasserkammern mit insgesamt 25.000 Kubikmetern Speichervolumen, die bei Engpässen die Versorgung der Stuttgarter mit Trinkwasser sichern. Musiziert wurde aber natürlich nicht in den unterirdischen Speicherseen, die Menschen eigentlich nur dann sehen, wenn die Wasserqualität überprüft werden muss, sondern in der kühlen Turbinenhalle, die mit ihren hohen Betonwänden eine erstaunlich gute Akustik bot.

Die Turbinen, deren durchdringendes Brummen den turmartigen Raum sonst erfüllt, schwiegen an diesem Abend. Stattdessen füllte das Ensemble "The Peärls before swїne experience" vom Balkon des Treppenaufgangs den sonst verschlossenen Ort mit ungewöhnlichen Klängen. Der lustige Name verrät schon, dass dieses exzellente Neue-Musik-Quartett nicht bierernst und akademisch an Zeitgenössisches herangeht. Die Schweden spielen ausschließlich kurze Nummern, die Komponisten speziell für sie geschrieben haben: Weil dann das Publikum auch mehr zu klatschen habe, witzelte Geiger und Moderator des Abends Georges Kentros.

Die sechs Miniaturen für Violine, Flöte (Sara Hammarström), Cello (David Peterson) und Keyboard (Marten Landström) reihten sich nach dem Kontrastprinzip aneinander. Daniel Langs "Short fall", dem amerikanischen Minimalismus verpflichtet, sorgte für harte, sich überlagernde Rhythmen, während Annie Gosfields "Cranks and cactus needles" von der Klangwelt alter 78er Schallplatten, ihren Kratzern und Sprüngen inspiriert war, aber unter der Oberfläche auch die Tradition der Teufelsgeiger vage aufscheinen ließ, verfremdet, wie eine Stimme aus einer anderen Welt. Die Melancholie des einsamen Ortes konnte man in Antonio Pinho Vargas' elegischem "Três versos de Caeiro" heraushören, das sein Universum aus langen Klagetönen baut. Und bevor sich in Tony Blomdahls "Anti Focus" ein Getöse Bahn brach, als öffne jemand eine Schleuse – Musik, die sich aus elektronischem Kreischen und mit Überdruck gestrichenen Bögen zusammensetzt und nur durch einen gleichmäßig pulsierenden Flötenton geordnet scheint – gab es noch einen kleinen Trick-Stummfilm, den man sehen konnte, wenn man nicht gerade vor eine Säule saß. Er muss von einem kleinen Jungen und einem Hund gehandelt haben, von "Odboy und Erordog". Die Musik von Marcus Fjellström jedenfalls unterhielt durch ihre elektronische Experimentierfreudigkeit. So gestaltete sich das Konzert kurzweilig, und kaum hatte es begonnen, war es schon wieder vorbei.

Allegro mit Wasserrose


Vom Wasserspeicher konnte man am späten Abend ins Mineralbad Leuze wechseln und bei einem Glas Sekt, bei Bedarf auch im Liegestuhl ruhend, begutachten, was die acht jungen Synchronschwimmerinnen des Schwimmerbundes Schwaben 1895 Stuttgart im Außenbecken des Leuzes zum Thema Johann Sebastian Bach beizutragen hatten – eine augenzwinkernde Querverbindung zwischen Festivalthema und dem Hausgott der veranstaltenden Bachakademie. Die Musik wurde aus Lautsprechern zugespielt, wobei gelegentlich ein allzu liebloses Ausblenden der Sätze störte.

Zum Allegro aus Bachs drittem Brandenburgischen Konzert formten die Wasserballerinen Sterne und Blumen und setzten so entspannte, ruhige Kontrapunkte. Zur berühmten Air drehten sie sich, zu zwei Quadraten formiert, leger im Wasser oder fanden zu einem großen Kreuz zusammen. Dramatik entstand, wenn sich eine Schwimmerin solistisch absetzte, sich von den Kolleginnen in die Höhe stemmen ließ, um dann mit theatralisch gespreizten Fingern wieder im Wasser zu versinken. Aus dem kühlen Nass gestreckte Beine und zierliche Füßchen oder zum Achter geschlossene Ringelreihen sorgten sogar in der Kantaten-Sinfonia "Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen" für eine zwar nicht dem Titel, aber der Situation angemessene Fröhlichkeit. Auch wenn die Bilder, die die quirligen jungen Frauen in eleganten Bewegungen auf das Wasser puzzelten, einem vielleicht nicht zwangsweise vor Augen kommen würden, wenn man die Musik hört, so hat die feuchtfröhliche Übersetzung der Klänge in Formen doch ihren ganz besonderen Reiz. Recht synchron zur Musik und bei ziemlich glatter Wasseroberfläche tanzte und schwamm die Wasserballettgruppe ohnehin – wenn auch die Schwierigkeit dieser Disziplin, stets in gleichen Abständen und synchron aktiv zu werden, gelegentlich deutlich wurde.

Rezension für die Eßlinger Zeitung von heute. Die Konzerte fanden statt am 30. August.

Dienstag, 30. August 2011

Getragen wie von Engelsflügeln

Musikfest Stuttgart: Helmuth Rilling machte Felix Mendelssohns "Elias" zu einem spannenden Konzertereignis

Als zweites Eröffnungskonzert des Musikfests Stuttgart gab es am Sonntag im - diesmal voll besetzten - Beethovensaal Mendelssohns Oratorium über die große Dürre und das Wasser als Gottesbeweis

Felix Mendelssohn Bartholdy liegt Helmuth Rilling. Vielleicht, weil Mendelssohn in seiner geistlichen Musik bei aller lyrischen Leichtigkeit und romantischen Schwerblütigkeit Johann Sebastian Bach näher steht, als die anderen großen Komponisten des 19. Jahrhunderts - vor allem was die Behandlung der Chöre angeht und die Orientierung an barocker Formenstrenge.

Dass Mendelssohn Rilling liegt, zeigte sich auch eindrücklich am Sonntag im voll besetzten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle. Die Aufführung des Oratoriums "Elias" wurde zu einem inspirierten und spannenden Konzertereignis, das so manch magischen Moment zu bieten hatte. Das lag sichtbar auch an der Empathie aller Beteiligten – dem vorzüglichen Solistenquartett, der Gächinger Kantorei und dem Bach-Collegium – und an einem sich über den Abend steigernden innigen und konzentrierten Miteinander.

Der Verdammungsspruch, mit dem Mendelssohn originellerweise sein Oratorium über den alttestamentarischen Propheten Elias beginnen lässt, machte es sofort deutlich: Für den erkrankten Thomas Quasthoff hatte man in Markus Eiche einen hervorragenden Ersatz gefunden. Das war ein Elias ganz nach dem Geschmack des Komponisten: "stark, eifrig, auch wohl bös und zornig und finster, fast zu der ganzen Welt im Gegensatz und doch getragen wie von Engelsflügeln."

Aber Eiche ging in seiner Deutung noch weiter, verpasste dem unerbittlichen Propheten etwas Kühl-Rationales, Robbespierrehaftes, was das untergründig Gewalttätige dieses Charakters zum Ausdruck brachte, das dann in der Aufforderung zum Morden der Baals-Priester ja auch zum Ausbruch kommt. Der Bariton brachte diese Facette durch ein gewisses kaltes Timbre in der Stimme und eine schneidende Artikulation des Textes zutage. Ein Sänger, der in allen Lagen kräftig, prächtig und sicher intoniert.

Mit entspannt erreichten Höhen und viel Wärme in der Stimme erfreute auch Tenor Dominik Wortig. Die Altistin Renée Morloc gestaltete ihre Partie sorgsam, mit Herz und einem angemessenen Schuss Theatralik. Sie nutzte dabei gekonnt die unterschiedlichen Farben ihrer Register. Brillant-virtuos präsentierte sich Sopran Camilla Nylund – auch wenn sie ihren durchwegs opernhaften
Gestus oft etwas übertrieb. Auch ihr fast konsequent durchgehaltenes Dauervibrato störte gelegentlich. Benedikt Bäuerle vom Knabenchor Collegium Iuvenum Stuttgart sang seine in ungeheure Höhen aufsteigende kleine Partie professionell und ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen.

Die archaische Wucht der alttestamentarischen Erzählung, die krasse Darstellung von Gewaltekzessen, Naturkatastrophen und Elementarkräften, die Mendelssohn in wirkungs- und kraftvolle Musik gesetzt hat, wurde von den Ensembles engagiert und in kräftigen Farben zur Entfaltung gebracht. Rilling verlor nie den Blick auf die Spannungskurve, sorgte für den dramatischen Fluss, brachte die Übergänge auf den Punkt. Der Chor tritt im "Elias" nach dem Vorbild der Bachschen Passionen sowohl aktiv handelnd als auch kommentierend in Erscheinung. Mit Emphase und feinem dynamischen Aufbau gelangen der Gächinger Kantorei die dramatischen Schilderungen, emotional aufgeladen und dennoch präzise und transparent wirkten die großen Chorszenen, die Klage- und Wut-Chöre: Mächtig dröhnten die Baal-Rufe, wuchtig und aggressiv forderte das Volk Elias' Tod. Besonders klangschön und rein glückte das berühmte Engel-Doppelquartett.

Am Ende des Abends war das Publikum enthusiasmiert, erhob sich so gut wie geschlossen zu Standing Ovations. Darunter auch Musikfest-Schirmherr Winfried Kretschmann und seine Gattin, sichtlich gepackt vom Konzert. Beim anschließenden Empfang verlieh Kretschmann seiner Begeisterung Ausdruck, in dem er für kurze Plaudereien von Tisch zu Tisch ging, jedem Einzelnen die Hand reichte und sich bei allen Mitwirkenden für den tollen Abend bedankte. Schon in der Pause hatte man den Landesvater im vertraulichen Gespräch mit jugendlichen Autogrammjägern gesehen: ein ungewöhnlicher Anblick in der Politik.

Besprechung für die Stuttgarter Nachrichten von heute. Das Konzert fand statt am 28. August 2011.

Montag, 29. August 2011

Nicht denken, nur fühlen

Musikfest Stuttgart: Eröffnung mit Libor Šímas Melodrama "Ahab" nach Herman Melvilles Roman "Moby Dick" – Dominique Horwitz als grandioser Sprecher

Stuttgart – Das Musikfest Stuttgart, in diesem Jahr den Themenkreis "Wasser" durchwandernd, begann am Samstag mit 90 Minuten aufwühlender Dramatik, die sich inmitten des Meeres wilder Wogen abspielt. Auf dem Programm stand Libor Šímas Melodrama "Ahab" für einen Schauspieler und Orchester von 2010 nach Herman Melvilles berühmtem Walfängerroman "Moby Dick", einer der packendsten Stoffe des 19. Jahrhunderts.

Wer kennt ihn nicht: den zähen, bewundernswerten, weil jeden menschlichen Angriff abwehrenden weißen Wal Moby Dick, der auch den Kampf mit seinem rachsüchtigen Kontrahenten Kapitän Ahab immer wieder gewinnt. Ahab verlor bei der Jagd auf den Meeresgiganten ein Bein und will deshalb nicht ruhen, bis er ihn erlegt hat. Auge um Auge, Zahn um Zahn, heißt es für den Kapitän, "nicht denken, nur fühlen". Mit dieser Einstellung trägt er zurecht den Namen eines verruchten, da vom wahren Glauben abgefallenen Kö­nigs aus dem Alten Testament. Seine letzte Schlacht gegen den weißen Pottwal bringt Kapitän Ahab und seiner Mannschaft den Tod.

Im leider nur schwach gefüllten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle gelang dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart (RSO) unter Leitung von Sebastian Weigle, derzeit Generalmusikdirektor der Frankfurter Oper, und dem tv-prominenten Schauspieler Dominique Horwitz eine spannende und suggestive Schilderung der Ereignisse rund um die Schicksalsfahrt des Walfangschiffs "Pequod". Ohne am Abend auch nur einmal aus dem Atem zu kommen, stürzte sich Horwitz in der Rolle des Erzählers Ismael, dem einzigen Überlebenden dieser Seefahrt, hinein in den dramatischen Sog der Erzählung, die Martin Mühleis aus Handlungselementen und Dialogen des Romans gebaut hat.

Schnell wurde das raue Klima der See im Beethovensaal fühlbar, sah man das Schiff vor dem inneren Auge, wie es durch den Ozean schießt, die Gischt vor sich her treibend. Eindrücklich gelang Horwitz die Darstellung und Differenzierung der unterschiedlichen Charaktere: Er wechselte virtuos zwischen dem draufgängerischen, gewitzten Tonfall des Matrosen Ismael, der gestrengen Logik des Obermaats Starbuck, der grellen Befehlsstimme Ahabs und dem Kauderwelsch des nur äußerlich barbarischen, innerlich sehr weichherzigen Harpuniers Quiqueg.

Libor Šíma, Solofagottist des RSO, als Saxophonist, Komponist und Arrangeur auch im Jazz beheimatet, hat Musik dazu geschrieben, die im weitesten Sinne holywoodeske Filmmusik darstellt: wirkungsvoll, oft wagnerisch wogend, zwischen emsiger Bewegtheit und Stimmungsmusik wechselnd, von gelegentlich bonbonfarbener Harmonik, poppig und rhythmisch inspiriert, tonmalerisch. Streichertremoli in allen Lagen, unbehaglich vibirierende Klangflächen künden von nahem Unheil. Ahabs "königliche Würde einer mächtigen Pein" wird umgesetzt in einem royal-barocken Blechbläserchor. Die Solo-Klarinette spricht von der Sehnsucht des Matrosen nach der See, eruptive, bombastische Tutti-Ausbrüche beschreiben die ungeheure Dramatik des tosendes Meeres oder der brutalen Walfang-Szenerien.

Die Kommunikation zwischen Sprecher und Orchester, das Timing, funktionierte perfekt. Sebastian Weigle setzte das Prinzip des Melodramas, in dem sich die Musik mit den erzählenden Passagen abwechselt oder sie untermalt, mit Weitblick für die Spannungskurve um, fing die Impulse von Horwitz gekonnt auf und gab sie pointiert und präzise an das RSO weiter. Das stürzte sich ebenso engagiert wie der Schauspieler in die effekt- und kraftvollen Handlungsschübe und die farbige Darstellung der magischen See. Ein auf allen Ebenen gelungener Auftakt des Musikfestes!

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 30. September 2011. Das Konzert fand statt am 27. September.

Mittwoch, 3. August 2011

Suboptimale Verwertung

Sebastian Baumgartens „Tannhäuser“-Inszenierung bei den Bayreuther Festspielen

Venusberg und Wartburg sind in Sebastian Baumgartens „Tannhäuser“-Inszenierung in eine futuristische Biogasanlage einbetoniert. (Foto: Bayreuther Festspiele/Nawrath)

Bayreuth − Das war noch der erfrischendste Moment in Sebastian Baumgartens „Tannhäuser“-Inszenierung, als vor Beginn des zweiten Aktes der Spruch „Wir denken nach“ auf den diversen Video-Projektionsflächen des mächtigen Bühnenaufbaus erschien und er vom Publikum nur höhnisches Gelächter und laute Buh-Rufe erntete. Dabei hat Baumgarten durchaus nachgedacht. Vielleicht ein bisschen zuviel. Es ist ja nicht einfach, ihr etwas für die heutige Zeit abzugewinnen: Wagners hanebüchener Geschichte vom Minnesänger Tannhäuser, der wegen Genusses erotischer Freuden im Venusberg bei seinen spießigen und verklemmten Rittersfreunden auf der Wartburg, die an die reine Liebe ohne körperliche Begierden glauben wollen, in Ungnade fällt, deshalb schwere Buße tun muss, um dann doch erst durch seinen Tod und den Exitus eines opferungswilligen Weibes − der spirituell etwas zu erleuchteten Elisabeth − von was auch immer erlöst zu werden. Baumgarten hat mit Verstand und viel technischem Aufwand versucht, den „Tannhäuser“ für die heutige Bühne zu retten. Das muss misslingen. Man kann die Story nicht glaubhafter machen, als sie ist.

Zu überladen mit klugen, überraschenden und kontrastierenden Videobotschaften ist die Inszenierung, zu illustrativ überfrachtet mit durchaus ästhetisch reizvollen konkreten und abstrakten Filmchen (Video: Christopher Kondek), zu häufig unfreiwillig komisch, so dass man es im Laufe des Abends aufgibt, einen Sinn hinter dem Ganzen zu suchen und sich ermattet in den harten Bayreuther Holzklappsitzen zurücklehnt.

Knallbunte Wartburg

Die beiden Wagnerschen Gegenwelten Venusberg und Wartburg werden einbetoniert in ein einziges Bühnenbild: in eine futuristische, sur­reale Biogasanlage, die der holländische Installations- und Konzeptkünstler Joep van Lieshout dem Bayreuther Festspielhaus dreistöckig und in knalligen Farben als Wartburg auf die Bühne gezimmert hat. Unten Kessel, Trichter, Gasometer, ein Alkoholator, ein Gaswäscher − alles schön beschriftet −, im ersten Stock Esstische, auf der obersten Ebene Etagenbetten. Und überall Schläuche, die Flüssigkeiten und Gase weiterleiten. Ein „Biotop aus 120 lebenden Menschen“ lebt hier, isst, schläft, atmet, arbeitet, verdaut, scheidet aus. Die menschlichen Exkremente gehen im Zuge einer „optimalen Resteverwertung“ durch Schläuche und diverse Apparaturen, um dann als Alkohol, Wasser und Biogas zu neuen Stoffen zu werden. „Ein in sich geschlossenes System“, wie es die Projektionen verraten, „die ganze Welt in einer Hand“.

Solch Werden und Vergehen prägt den ganzen Abend. Deshalb gebiert die bei Baumgarten schwangere Göttin Venus im Augenblick von Tannhäusers Tod ein Kind − wer auch immer der Vater ist. Und Tannhäuser wird damit zum Teil eines riesigen Energiekreislaufes, der ihn hervorbrachte und am Ende wieder ausspuckt. Tannhäuser: ein Rülpser der Natur. Immerhin. Man muss das loben: Der Abend ist absolut pathosfrei. Und das unterscheidet ihn angenehm von diversen anderen Wagner-Interpretationen.

Der Venusberg, das dionysische Reich der Venus, ist hier nicht märchenhafte Sphäre, sondern Teil der Verwertungsanlage, in der es zugeht wie in einem Ameisenstaat. Geschäftige Arbeitsgruppen in grellfarbiger Arbeitsmontur putzen, bringen, holen, füllen, räumen. Aber der Venusberg befindet sich dort, wo er unauffällig bleibt und übersehen wird: im Kellergeschoss oder besser in der Unterwelt. In seiner kreisrunden Verdeckelung steckt ein Trichter. Zwecks Befeuerung der Lust und der Triebe? Nur einmal wird er benutzt. Wenn Tannhäuser den Restalkohol eines betrunkenen Arbeiters dort hineinkippt.

Dieser vermeintliche Sündenpfuhl, der mehrmals aus dem Bühnenboden hochgefahren wird, ist zwar grell-rosa bestrahlt, wie es Wagner fordert. Doch erotisch anregend geht es dort nicht gerade zu: ein enger, schmuddeliger Käfig, in dem hysterische Affenmenschen herumhüpfen und Riesenkaulquappen schweratmend vor sich hindösen und gelegentlich versonnen mitschunkeln, wenn Tannhäuser seiner Venus ein Ständchen bringt (Kostüme: Nina von Mechow). Kein Wunder, dass Tannhäuser da raus will. Da bedarf es gar nicht der Anrufung der heiligen Jungfrau Maria.

Was an diesem hässlichen, lächerlichen Kerker so schockierend ist, dass Tannhäuser für seine dortige Anwesenheit so hart bestraft wird, bleibt bei Baumgarten noch unklarer als im Libretto. Dass die Triebe in der Exkrementeverarbeitungsmaschinerie in eine dunkle Ecke sublimiert werden und dass es Tannhäusers Vergehen ist, das Verdrängte ins Bewusstsein zu holen, widerspräche - übersähe man seine etwaige Ironie - ohnehin dem zu Anfang projizierten Werbe-Spruch: „Wartburg - integrierte Möglichkeiten zur Triebabfuhr“, was ja einen Besuch des Venusberges erlauben würde.

Elisabeth im Gasometer

So laufen das gut organisierte Arbeitsleben im Biogaswerk und die verworrenen Lebenswege des Tannhäuser auf der Bühne als zwei Geschichten nebeneinanderher und wollen nicht zueinander finden. Die Minnesänger singen ihren Wettstreit, die Pilger erscheinen als roboterhaft sich bewegender Putztrupp, die Arbeiter bedienen sich kräftig am Alkoholator, und Elisabeth steigt am Ende ins Gasometer, um gen Himmel zu fahren. Warum das alles in einer Biogasanlage stattfindet, erschließt sich zu keinem Zeitpunkt. Selbst Baumgartens Personenführung scheint durch die Gewalt und Statik des Bühnenbildes gelähmt zu werden, offenbart streckenweise hilflos altmodisches Rampentheater, wirkt insgesamt steif und uninspiriert.

Bleibt die Musik. Unter Leitung des Alte-Musik-Experten Thomas Hengelbrock gelingt dem Festspielorchester ein schlanker, emotional unaufgeregter und transparenter Sound. Kurz: ein zeitgemäßer Wagner, der sich in der Ouvertüre überzeugend einführen kann und in der Folge den Sängern niemals im Weg steht. Fast unauffällig gibt er sich. So ist es verwunderlich, dass man kaum etwas vom Text verstehen kann. Darauf hat Baumgarten nicht geachtet. Das ist schade, weil die Festspiele noch immer auf Übertitel verzichten. Stimmlich überzeugend sind vor allem Sopranistin Camilla Nylund als Elisabeth mit farbigem Timbre, satter Höhe und schönen Phrasierungen sowie Bariton Michael Nagy als Wolfram von Eschenbach, dessen Stimme ein weittragendes warmes Gold besitzt und deshalb mit üppiger Kantabilität berauschen kann. Lars Clevemans Tannhäuser hat beeindruckende Phasen, wirkt aber gerade in der Höhe gelegentlich angestrengt. Stephanie Friede als Venus singt im ersten Akt intonatorisch am Orchester vorbei, während Günther Groissböck als Landgraf Hermann mit wohlklingender, vibrierender Tiefe begeistert. Einen besonders dicken Applaus erntete der in allen dynamischen Lagen farbig brillante, homogene und intonatorisch erstklassige Festspielchor unter Leitung Eberhard Friedrichs. Und so mischten sich auch in dieser zweiten „Tannhäuser“-Aufführung am Ende standesgemäß wohlwollende Bravi mit verärgerten Buhs.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Besucht wurde die zweite „Tannhäuser“-Aufführung am 1. August 2011.

Freitag, 29. Juli 2011

Eine schrecklich nette Familie

Die Neuen Vocalsolisten in Oscar Strasnoys Kammeroper „Geschichte“ in Stuttgart


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Spielfreudige Komödiantentruppe: die Neuen Vocalsolisten in Strasnoys „Geschichte“ (Foto: Roberto Bulgrin)
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Stuttgart - Nach den Wurzeln seines Schreibens forscht der Dichter Witold Gombrowicz in der Kammeroper „Geschichte“ von Oscar Strasnoy. Diese war jetzt im gut besuchten Stuttgarter Theaterhaus in einer Produktion von Musik der Jahrhunderte mit den Neuen Vocalsolisten, die das Werk 2004 auch uraufgeführt hatten, zu sehen.

Strasnoy hat sein Werk für sechsköpfiges A-cappella-Ensemble als "Operette" bezeichnet. Aber mit der ungetrübt rosafarbenen Welt dieser Gattung hat es herzlich wenig zu tun. Auf der Reise zu sich selbst gleitet Gombrowicz ab in einen finsteren, peinigenden Albtraum. Das Libretto schrieb Galin Stoev nach Fragmenten dieses 1969 verstorbenen, berühmten polnischen Schriftstellers. Es ist eine klassische Tragikomödie: Das Lachen bleibt einem im Halse stecken.

Es ging Gombrowicz vor allem um das Recht auf Individualität und geistige Freiheit. "Geschichte" erzählt in Kindheits- und Jugenderinnerungen von seinem Elternhaus, einem polnischen Landgut am Vorabend des ersten Weltkriegs, und von den brutalen Disziplinierungsmaßnahmen seiner Umwelt gegen seine Andersartigkeit.

Im Sog der oft skurrilen Traumsequenzen, in denen Privates und Weltgeschichte sich vermischen und unentrinnbar in die europäische Katastrophe führen, werden Eltern und Geschwister zu tödlichen Feinden. Zu Beginn beim Abendessen zwingt man das Kind in die Schuhe, die es sein Leben lang ablehnen wird. Barfußlaufen wird zum äußeren Symbol der Freiheit. Die Familie mutiert zum Prüfungskomitee, zur Musterungskommission und zum Hohen Gericht, das Gombrowicz wegen Kriegsdienstverweigerung zu 5 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, verwandelt sich in den Zarenhof und am Ende gar in den Kriegsrat des deutschen Kaisers.

All dem steht der junge Mann – eindringlich und berührend gespielt von Countertenor Daniel Gloger – hilflos und verzweifelt, dennoch ungebrochen gegenüber. Regisseur Titus Selge hat für dessen Leidensweg klare Bilder und eine zwingende Dramaturgie gefunden. Das Bühnenbild mit seiner langen Speisetafel erinnert an das letzte Abendmahl. Feine Bezüge zum Schmerzensmann gibt es immer wieder: Etwa wenn Gloger seine Arme ausbreitet und sich in Kruzifix-Stellung bringt. In der krassesten Szene wird Gombrowicz von der Familie mehrfach vergewaltigt.

Selge gelingt es, mit wenigen Mitteln nahtlos immer wieder neue Räume zu eröffnen – auch dank des Tisches und seiner weißen Decke, unter der die Protagonisten verschwinden, um sich blitzschnell umzuziehen und wie im Puppentheater wieder aufzutauchen.

Wieder einmal offenbaren sich die Neuen Vocalsolisten als spielfreudige Komödiantentruppe. Wunderbar, wie sie in die unterschiedlichsten Rollen switchen: die hypochondrische Mutter (Sarah Maria Sun), der ordnungsfanatische Vater (Andreas Fischer), die bigotte Schwester (Truike van der Poel) und das durchgeknallte Brüderpaar (Martin Nagy, Guillermo Anzorena).

Und erstaunlich, wie sie es hinbekommen, ohne musikalische Leitung derart Komplexes so präzise zur Aufführung zu bringen. In rasanten Tempo wechselten sie an diesem Abend zwischen Deklamieren, Sprechen, Harmoniegesang und Parlando, Neue-Musik-Vokabular und rhythmischen und melodischen Anklängen an die Unterhaltungsmusik. Die kurzen Einsprengsel von Band – Kikeriki und Vogelzwitschern, Flugzeugdonnern und Zitate aus der Wiener Operette – brachten da nur kurze Erholung.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung von heute. Die Aufführung war am 27. Juli 2011.

Freitag, 22. Juli 2011

Der Blues des Orients

Eröffnung der Reihe "Musik in Ekstase" bei den Ludwigsburger Festspielen

Der tunesische Sänger und Oud-Spieler Dhafer Yousseff
Dhafer Youssef

Ludwigsburg – Wie nahe Meditation und Ekstase beieinander liegen können, erlebte das enthusiasmierte Publikum im ausverkauften Ordenssaal des Ludwigsburger Residenzschlosses. Es war das erste Konzert der kleinen Reihe "Musik in Ekstase" bei den Schlossfestspielen, in der der tunesische Sänger und Oud-Spieler Dhafer Youssef dreimal auf Musiker unterschiedlicher Stilrichtungen trifft. Youssef, der nicht nur in der Weltmusik zu Hause ist, sondern auch im Jazz und der europäischen Avantgarde, hatte sich für diesen Abend mit den türkischen Virtuosen Hüsnü Şenlendirici an der Klarinette und Aytac Dogan zusammengetan, der die Kanun spielt, eine türkische Version der Zither. Ein Abend, der unter dem Motto "Tanz der Derwische" stand und dementsprechend inspiriert war von der Tradition der Sufi-Musik, die die unterschiedlichsten Stile religiöser Musik im Islam in sich vereint. Ein Konzert, das sofort in einen Klangsog riss, aus dem man erst am Ende wieder erwachte. Musik, die süchtig macht – man kann es nicht anders sagen.

Anders als in der europäischen Kunstmusik ist in der Musik des Orients Rhythmus und Melos stärker gewichtet als die Harmonik. Und sie gestaltet sich bei aller Komplexität freier, weil improvisatorischer. In den meisten der elf Nummern des Abends – Kompositionen von Youssef, aber auch aus der Projekt-Probearbeit Hervorgegangenes – baute sich die Spannung langsam und ruhig auf. Die orientalische kleinintervallische Melodik konnte sich frei entfalten, während sie über wiegenden Metren mit rhythmisch fein ziseltierten, vielfarbigen Ornamenten versehen wurde, um dann in ekstatische Steigerungsschübe überführt zu werden und nach der Kulmination wieder zurückzufallen in den entspannt pulsierten Fluss. "Wie das Leben eben so geht", wie Youssef einwarf, "immer rauf und runter".

Wie intensiv die Musiker miteinander kommunizierten, zog in den Bann. Schon der Beginn ein Highlight, Şenlendirici und Dogan jetzt noch allein auf der Bühne: Dogan, in sich versunken, huschte mit flinken Fingern über die Saiten seiner Zither, ließ aus harfenartigem Akkordmaterial gefühlvolle Melodien hervorscheinen, feinste Farbschattierungen aufleuchten, webte ein Netz aus unterschiedlichen Gefühlzuständen. Etwas, das man einer Zither eigentlich nicht zutraut. Ein schier unendlich weiter Klangraum eröffnete sich für den Klarinettisten und seine klagenden, sehnsuchtsvollen Gesänge.

Zusammen in der Band wurde dann das verwobene Miteinander der unterschiedlichen Stimmen noch schöner, noch schillernder, noch irrealer: etwa wenn Youssefs Vokalisen von der Bruststimme ins Falsett wechselten und dort völlig losgelöst ins Zwiegespräch traten mit der seufzenden, vibrierenden, hicksenden und trauernden Klarinette und sich beide Stimmen nicht mehr unterscheiden wollten.

Kongenial ergänzt wurde das Trio von dem norwegischen Jazzgitarristen Eivind Aarset, dem kanadischen Bassisten Chris Jennings und der witzigen dänischen Percussionistin Marilyn Mazur, die Trommeldonner mit flüsternden und kichernden Zimbelchen und Glöckchen und blechernen Gongs konfrontierte, die Impulse der wiegenden Rhythmen weiterspinnend.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 20. Juli 2011.

Dienstag, 19. Juli 2011

Diskreter Charme

Isabelle Faust im Oktett bei den Ludwigsburger
Schlossfestspielen


Ludwigsburg – Für diese spezielle Besetzung – bestehend aus einem Streichquintett und drei Bläsern – sei das Repertoire nicht gerade üppig, bedauerte die Geigerin Isabelle Faust vor der Zugabe. Franz Schuberts berühmtes Oktett fordert aber genau jene Instrumnete.
Nicht ganz einfach also, zu diesem hochanspruchsvollen Werk, mit dem sich Schubert weiter an die Gattung Sinfonie heranzutasten gedachte, ein den Rest des Abends füllendes Pendant zu finden.

Entschieden haben sich Faust und ihre Mitmusiker dann letztlich für eine Bearbeitung von Antonín Dvořáks ursprünglich für Orchester geschriebener "Tschechischen Suite". Dem Motto "Diskrete Sinfonien", das über diesem Abend bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen im gut gefüllten Ordenssaal des Residenzschlosses stand, wurde die ausgelassene, eingängige Tanzsuite zwar nicht gerecht – eine sinfonische Konzeption hatte Dvořák bei der Komposition sicherlich nicht im Sinne. Aber die acht Musizierenden spielten das rhythmisch und melodisch so beseelte Werk derart mitreißend und lebendig, dass so manch einer im Publikum gerne spontan zu tanzen angefangen hätte – so hörte man jedenfalls in der Pause einige Konzertbesucher plaudern.

Vielleicht bezog sich das "diskret" in diesem Falle ja auch nur auf die Überführung des orchestralen Klangs in einen kammermusikalischen. Und den brachten Faust und ihre musikalischen Freunde präzise und dynamisch fein abschattiert zum Klingen, ohne dabei den vorwärtstreibenden Schwung von Polka, Sousedská und Furiant zu kurz kommen zu lassen.

Das Ensemble spielte auf Originalklanginstrumenten, die mehr individuelle und wärmere Farben besitzen als die modernen. Das kam Schuberts Oktett mit seiner oft komplexen kammermusikalischen Faktur, den krassen Kontrasten und seinem von romantischem Schauer durchzogenen Finale sehr zugute: Naturhorn, Fagott und Klarinette setzten schöne Gegenfarben zur Streicher-Fraktion, harmonierten aber auch ganz hervorragend im Zusammenklang. Äußerst sensibel und kommunikativ sorgte besonders der fantastische Klarinettist Lorenzo Coppola für klangschöne Akzente. Entsprechend begeistert war das Publikum.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 15. Juli 2011.

Freitag, 15. Juli 2011

Völlig losgelöst von der Erde

Der französische Countertenor Philippe Jaroussky in der Stuttgarter Liederhalle

Der Countertenor Philippe Jaroussky

Stuttgart - In den langsamen Sätzen seines Vivaldi-Programms schien die Stimme des französischen Countertenors Philippe Jaroussky von aller irdischen Schwere befreit. Er ließ die hohen Töne so leicht perlen, als seien sie Zitronenfalter, die von Blüte zu Blüte flattern. Dennoch saß jede Note wie eine Eins: genau artikuliert, ohne intonatorische Schlieren, glasklar, hell, zerbrechlich. Zum Beispiel in der Arie „Vedro con mio diletto” aus Vivaldis Oper „Giustino”: Ton an Ton reihte sich in natürlichem Fluss aneinander - als sänge Jaroussky aus dem Stegreif und ganz für sich. Zart und gefühlvoll, fast traumwandlerisch zeichnete er die Verzierungen.

Es ist wohl das kindlich-unschuldige Timbre in den androgynen Farben der Falsettstimme, das die Liebhaber des Männer-Hochgesangs so reizt und das bei dem zierlichen Jaroussky besonders ausgeprägt ist. Und schön, nett und charismatisch ist der 33-Jährige außerdem. Der Hegelsaal der Stuttgarter Liederhalle war am Mittwoch gut gefüllt, und Jarousskys verzückte Fangemeinde spendete am Ende Standing Ovations. Andere fasziniert das Artifizielle dieser heute so beliebten Gesangstechnik - auch wenn sie einen nicht direkt berührt.

Jaroussky besitzt kein besonders kräftiges Stimmorgan, eher ein feines. Deshalb blieb das zehnköpfige Barock-Ensemble Artaserse, das Jaroussky 2002 für die Begleitung seiner Soloauftritte selbst gründete, auch in den langsamen Nummern auf Flüsterkurs. Sehr frei konnte sich da die Stimme des Franzosen über der sanften, farbigen Grundierung entfalten.

Was in den Largo- und Andante-Nummern so leicht und irreal wirkte - etwa in Vivaldis „Nisi Dominus” -, gelang Jaroussky im Allegro furioso der Arie „Armatae face” aus Vivaldis Oratorium „Juditha triumphans” nur mit viel Arbeit. Wenn es musikalisch handfester wird, geraten die Koloraturen unter Druck, dann wird die Anstrengung hörbar, und der Stimme fehlt es an durchdringender Kraft. Als Organ eines wütenden Kindes verliert sie ihre makellose Engelhaftigkeit und ist dann ganz von dieser Welt.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten von heute. Das Konzert fand statt am 13. Juli 2011.

Mittwoch, 6. Juli 2011

Zeitloser Mythos

Zur Uraufführung von Hans Thomallas „Fremd“ an der Stuttgarter Staatsoper

Stuttgart - Was wäre das Musiktheater ohne die antiken Mythenstoffe? Die traumnahe Sphäre des Mythos und die mit der Ratio nicht fassbare emotionale Wirkung von Musik gingen in der Oper von Anbeginn eine treue Ehe ein, die bis heute gehalten hat. Am Anfang stand Orpheus, der dank der überlieferten rätselhaften Macht seines Gesanges zu einer Art Schutzheiligen der Oper avancierte. Und ganz aktuell sind es die Argonauten – zu denen Orpheus ja schließlich auch gehört – und Medea, die auf der Bühne der Stuttgarter Staatsoper wieder einmal zum Leben erweckt werden.

Der Komponist Hans Thomalla, Jahrgang 1975, hat in seiner ersten Oper "Fremd" – einem Auftragswerk der Stuttgarter Staatsoper und dort am Wochenende uraufgeführt – dann auch Bezug genommen zu früheren Bearbeitungen des Stoffes und ein Stück Rezeptionsgeschichte mitkomponiert. Eine stringent verfolgte Handlung gibt es dementsprechend nicht. Schlaglichtartig werden einzelne Motive des Mythos beleuchtet: Auf den Epos des Apollonios von Rhodos baut die erste Szene auf: Erzählt wird von der Meeresüberfahrt der Argonauten und ihrem Anführer Jason, die nach Kolchis segeln, um dort das Goldene Vlies zu rauben. Orpheus, erstaunlicherweise eine Sprechrolle, stellt die Helden und ihr Taten einzeln vor, die freilich – wie es in einer modernen Oper zu sein hat – jeglichen Ruhmesglanz verloren haben: Es sind Verlorene, Fremde unter Fremden, Sprachlose, Verwirrte, Desorientierte. Alle gesungen von Mitgliedern des glänzenden Stuttgarter Opernchores, einstudiert von Michael Alber: 8 Altistinnen, 12 Tenöre und 17 Bässe. Anna Viebrock – in dieser Produktion verantwortlich für die Regie, das Bühnenbild und die Kostüme – kleidet die Antihelden paarweise in witzige Kostüme, so dass sie wirken wie eine zufällig zusammengewürfelte Reisegruppe: dickbäuchig in Badehosen, Waden zeigend im Wanderdress, machohaft im Kampfanzug oder im Outfit jüdischer Gelehrter. Die Kulisse, ein stählernes Deck eines Dampfers, verströmt Bauhaus-Flair. Es folgt eine Liebesszene zwischen Jason und der barbarischen Zauberin Medea auf Worte des Dramas "Die Argonauten" von Grillparzer und durchwirkt von Zitaten aus Cherubinis Medea-Oper sowie ein instrumentales Intermezzo, das die Flucht Medeas mit Jason und dem geraubten Goldenen Vlies zum Inhalt hat. In der letzten Szene, die Viebrock in einen großbürgerlichen Salon verlegt, bringt Medea die gemeinsamen beiden Kinder mit einem Gifttrunk um, als Rache für Jasons Verrat. Im Epilog singt der Opernchor a cappella letzte ersterbende Artikulationsversuche der Argonauten.

In den alten Mythen entdeckte die Psychoanalyse schon früh Analogien zu der symbolischen, schwer verständlichen Sprache des Traumes: Einer Sprache, "die eine andere Logik hat als unsere Alltagssprache, eine Logik, in der nicht Zeit und Raum die dominierenden Kategorien sind, sondern Intensität und Assoziation", so formulierte es 1951 Erich Fromm. Ähnlich der individuellen Traumarbeit übersetzen Mythen allgemein Menschliches in eine bildhafte Sprache, die Einblicke in die psychische Innenwelt des menschlichen Kollektivs zulässt: in sein Verhältnis zwischen den Geschlechtern ebenso wie in seinen Umgang mit Trieben, Unglück und Tod oder in sein Verständnis von Gut und Böse.

In diesem Sinne durfte man auch an diesem Abend frei darüber assoziieren, was die gewalttätige Geschichte der Argonauten und das zerstörerische Verhältnis Jasons und Medeas uns heute noch zu sagen haben. 7 Jahre hat Thomalla an seiner Oper gearbeitet. Dementsprechend komplex und voller Bezüge ist sein knapp zweistündiges Werk. Beim ersten Sehen und Hören wird davon nur wenig fassbar. Da hilft auch Viebrocks Inszenierung, die auf Personenführung weitgehend verzichtet, wenig weiter.

Was aber von Anfang bis Ende in Bann zog, war der vielschichtige Klangkosmos, den Thomalla zum Mythos erfunden hat. "Fremd" ist zunächst eine Choroper, die auch als eine Hommage an die Stars des Abends, den Stuttgarter Opernchor und seinen Leiter Alber, gedacht ist. Geschickt nutzt Thomalla darüber hinaus die räumlichen Möglichkeiten des Hauses, positioniert Instrumentengruppen in den Logen des Zuschauerraums: Schlagwerk, Bläsersolisten und eine Blechblaskapelle stellen die musikalische Gegenwelt zum Orchester im Graben dar. Gewalttätige, harte Einwürfe von Blech und Schlagwerk konfrontieren das Bühnenpersonal immer wieder mit seiner tödlichen Zukunft. Das Singen bewegt sich zwischen großer Operngeste, zeitgenössischen Artikulationsarten und Verstummen, und wenn man genau in die instrumentalen Zwischenspiele hineinhört, kann man zuweilen naturhaftes Fließen, das Rauschen des Meeres und das Pfeifen des Windes, ächzende Schiffsmasten und Nebelhörner erkennen. Das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Johannes Kalitzke macht seine Sache ganz hervorragend. Sachte setzt Thomalla gelegentlich als Verfremdungseffekte Live-Elektronik und Zuspiele ein.

In seinen schönsten Momenten macht "Fremd" die Zeitlosigkeit der alten Geschichte ganz direkt fühlbar. Etwa im instrumentalen Intermezzo: im dicht wuchernden Geflecht aus Streicherflageoletts, das sich langsam aufbaut und dann minutiös zurückzieht aus dem Raum. Oder im bruchstückhaften Monolog der Medea (wunderbar: Annette Seiltgen) aus Cherubinis Oper, den Thomalla mit eigenem überschreibt und verformt, wie auch das amerikanische Wiegenlied "Hush little Baby", das von Medeas Kindern (berührend: Julia Spaeth und Carlos Zapien) gesungen wird. Oder am Ende, wenn der Argonauten-Chor zaghaft und stockend den kollektiven Zusammenklang sucht. Oder ganz allgemein: wenn sich die Sologesangsstimmen im zarten polyphonen Geflecht der Instrumentenstimmen aufheben und das eine ohne das andere nicht mehr sein kann. Dann verliert sich die Zeit in der Musik und macht sie groß.

Rezension für nmz online. Premiere war am 2. Juli 2011.

Dienstag, 5. Juli 2011

Dunkle Liebe

Paolo Conte bei den Jazz Open auf dem Stuttgarter Schlossplatz

Charismatischer Melancholiker im Abendlicht: Paolo Conte beim Konzert auf dem Stuttgarter Schlossplatz. (Foto: Opus)

Stuttgart - Bei "It's wonderful, it’s wonderful, good luck, my baby" riss es die Fans aus den Sitzen, und sie sangen ausgelassen mit. Paolo Conte, Italiens berühmtester Liedermacher, brachte seinen Hit "Via con me" in seinem gut 90-minütigen Konzert bei den Jazz Open auf dem Stuttgarter Schlossplatz am Schluss noch einmal – diesmal in "Rausschmeißer"-Manier ein bisschen schneller als beim ersten Mal. "Via con me" ist ein Stück, das die Songschreiberqualitäten Contes eindrücklich unter Beweis stellt: Der Schwermut, die über seinen Versen hängt wie eine graue Wolke – "Lass dich ein auf diese dunkle Liebe, verliere dich nicht umsonst an die Welt" –, wird durch den mitreißenden Groove eine ungeheure Leichtigkeit verliehen.

Mit seiner tiefen, charismatischen, in ihrer Rauheit gelegentlich brüchigen Stimme, die das Italienische recht hart artikuliert, ist er ohnehin weit entfernt vom Pathos italienischer Sangeskunst. Die Melancholie ist trotzdem immer da: im musikalischen Sinnieren über die Liebe, in der gesungenen Sehnsucht nach Leben und Sinnlichkeit, in den Erinnerungen – Indianerweisheiten nicht ausgeschlossen.

So verlief der kühle Sommerabend auf dem Schlossplatz eher gelassen und ruhig. Die Sonne stand tief und blendete, und der Meister, der sich im 75. Lebensjahr befindet, setzte eine Sonnenbrille auf und sich selbst an den Flügel. Er war seit über 13 Jahren nicht mehr in Stoccarda, wie die Italiener die Schwabenmetropole nennen.

Conte war in Begleitung eines hervorragenden kleinen Jazzorchesters angereist. Eine Combo aus drei Gitarristen, Kontrabass und Schlagzeug sorgte für den rhythmischen Drive, der oft genug Django-Reinhardt-Farbe ins Spiel brachte. Die fünf erstklassigen Solisten waren nicht nur für die virtuosen Einlagen zuständig, sondern im Trio auch für saftige Saxophon-Chöre, wie in "Sotto le stelle del Jazz". Überhaupt sorgten sie für die Vielfalt an Klangfarben, die Contes spezielle Stilmischung aus Jazz, vor allem Big-Band-Swing, italienischer Canzone, Tango, Zirkusmusik und lateinamerikanischen Tänzen erst zum Erblühen bringt. In "Diavolo rosso", in dem Conte seinen Mitmusikern ausgiebig Raum zur Improvisation gab, offenbarte sich Piergiorgio Rosso als Teufelsgeiger, während Luca Velotti seine Klarinette in stilechter Klezmer-Manier lachen und weinen ließ. Massimo Pitzianti dagegen gab auf seinem Akkordeon eine derart virtuose Jazzimprovisation zum Besten, dass man sich wunderte, dass sich ihm nicht die Finger verknoteten. Zuvor hatte er in "Gioco d'azzardo" auf seinem Bandoneon Tango-Flair herbeigezaubert. Sehnsüchtigen und verträumten Weisen dürften sich die Musiker immer wieder hingeben: So leitete etwa Lucio Caliendo "Alle prese con una verde milonga" mit einem wunderschönen Oboen-Solo ein.

Der Meister, Schöpfer zahlreicher Welthits wie "Azzurro", saß meist am Flügel, während er seine wortreichen Lieder sang. Nur zweimal trat er ans Vibraphon, jenem Instrument, mit dem er in den 1950er-Jahren seine musikalische Laufbahn in Jazz-Combos begonnen hatte. Und wie immer griff er gelegentlich auch zum Kazoo, jenem kleinen Geräuscherzeuger, der jedes Pathos sofort in die Flucht schlägt.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 5. Juli 2011. Das Konzert fand statt am 3. Juli.

Montag, 23. Mai 2011

Wo bitte geht’s nach Ulm?

Metropolis / The Monkey Wrench Gang – Volker Lösch verarbeitet Stuttgart 21 in einem Umwelt-Western mit Metropolis-Einsprengseln

Bijan Zamani (Seldom Seen Smith), Katharina Ortmayr (Bonnie Abbzug), Sebastian Kowski (George Hayduke) und Martin Leutgeb (Doc Sarvis) (Foto: Jochen Klenk, Quelle: Staatstheater Stuttgart)

Stuttgart - Unter Umweltaktivisten stellt man sich heute gut organisierte, gezielt und pragmatisch vorgehende Greenpeacer vor. In den 70er Jahren war das offenbar noch anders. Die vier Ökoterroristen im Roman "The Monkey Wrench Gang" des US-Amerikaners Edward Abbey, erschienen 1975, sind eine durchgeknallte, sich gegenseitig pausenlos anbrüllende Chaotentruppe, deren Wege leere Bierdosen pflastern und die, sobald sie ein Lenkrad zwischen die Hände kriegen, zu nervenden Rasern mutieren.

Freilich sind sie sonst vom hehren Ansinnen getrieben, eine weitere Naturzerstörung im Grand Canyon zu verhindern. Wenn man sich am Lagerfeuer in freier Natur deftige Worte um die Ohren haut, geht es immer auch um die Frage, inwiefern der Einsatz von Gewalt notwendig ist, um die eigenen Ziele durchzusetzen. Nach dem Motto, macht kaputt, was euch kaputt macht, will man am Ende mit Unmengen von Dynamit die Glen-Canyon-Staumauer, die in Arizona den Colorado River zu Amerikas zweitgrößtem Stausee Lake Powell anschwellen lässt, in die Luft zu sprengen.

Parkschützer in Metropolis

Volker Lösch hat das theatertaugliche Terror-Quartett jetzt auf die "Arena"-Bühne der Interimsspielstätte des Stuttgarter Staatsschauspiels in der Türlenstraße gebracht und es in bewährter Weise mit Sprechchören aus Laiendarstellern konfrontiert. Die kommen dieses Mal aus der Gruppe der Stuttgart-21-Gegner. Sie skandieren in "Parkschützer"-Shirts eigene Forderungen und Gedanken und mit Mappus-, Geißler- oder Merkel-Masken vor dem Gesicht pathetische Worte zum Thema Mensch, Arbeit und Maschine, die aus Fritz Langs Filmepos "Metropolis" stammen. Dort geht es ja schließlich auch um Widerstand: Im Zweiklassenstaat setzen sich die unterdrückten Arbeiter zur Wehr, die sich bis dahin zu Tode schufteten.

Endlich also darf sich Lösch auch auf der Bühne zum umstrittenen Verkehrs- und Bahnhofsbauprojekt Stuttgart 21 äußern, das ihm so an die Nieren ging, dass er sich zu einer der führenden Stimmen des Widerstands aufschwang. Und wer noch seine rhetorisch eindringliche Rede "60 S21-Lügen in 10 Minuten" auf einer Stuttgarter Großdemo im vergangenem März in den Ohren hat, der weiß, dass es an diesem Theaterabend nur um eines gehen konnte: um ein Kontra – auch wenn immerhin ein "Pro-ler" (dargestellt von Marco Albrecht) auf die Bühne dürfte, um sich über die "Schmutzfinken" vom Bauzaun oder die "Kinderwageninitiativen" der Gegner zu echauffieren.

Reden nutzt eh nix?


Was bestens funktioniert an diesem Abend ist – dank des pointierten, quirligen Ensemblespiels – die "Monkey Wrench Gang". Auf der gestuften Breitwand-Bühne von Cary Gayler, die comichaft mit Papp-Kaktussen und gemaltem Grand-Canyon-Panorama ausgestattet ist, ist genug Platz für virtuose Verfolgungsjagden und Schießereien in den Bergen, Dynamitexplosionen und andere Special-Effects. Herrlich Sebastian Kowski als "Vernichtungsexperte" Hayduke, der wie eine Wiederbelebung des im 18. Jahrhundert von der Bühne gejagten Hanswursts wirkt. Er scheißt und pinkelt auf die Bühne, rülpst und furzt, beginnt jeden Satz mit "Scheiße" und "verfickt", hasst Frauen und ballert ständig in der Luft herum. Das gelingt Kowski tatsächlich so, dass es lustig ist. Klar, dass Hayduke revolutionstechnisch recht einfach gestrickt ist: Alles in die Luft sprengen, reden nutzt eh nix.

Die anderen verhalten sich da weitaus skrupulöser: Der rastagelockte, hyperaktive Möchtegern-Abenteurer Seldom (Bijan Zamani) – "Ich mach nix mit Dynamit" – richtet als Mormone gelegentlich ein dreist formuliertes Gebet gen Himmel. Der vor Veränderungswillen schier atemlose Doc Sarvis (Martin Leutgeb) gerät zwischen Gutmenschentum und politischem Anspruch derart in Stress, dass er sich am Ende von der Polizei (Jonas Fürstenau und Toni Jessen) in eine fiese Falle locken lässt – mitsamt seiner Freundin Bonnie (Katharina Ortmayr). Es kommt, wie es kommen muss. Die finale Sprengung des Staudamms bleibt Utopie. Die Truppe landet im Knast.

Stuttgart ist doch nicht Metropolis

Was sich an diesem Abend nicht erfüllte, war der hohe gesellschaftspolitische Anspruch Löschs. Die Ebenen von Umwelt-Western und Stuttgarter Regionalpolitik durchdrangen sich nicht. Die Metropolis-Sprechchöre blieben Fremdkörper, das agitatorische Skandieren der S21-Gegner Selbstgespräch. Der Rest Klamauk.

Das Ende geriet dann immerhin überraschend: Der Tiefbahnhof ist Realität geworden. Die Befürchtungen der Projektkritiker auch. Es herrscht völliges Chaos im Untergrund. Züge fahren nicht. Bonnie und Sarvis schleppen den mittlerweile im Rollstuhl sitzenden Seldom die viel zu engen Treppen zu den Gleisen hinunter. Die Aufzüge sind außer Betrieb. Und dann steht da plötzlich Hayduke in der Tracht des DB-Sicherheitspersonals. Ein paar Sekunden später fliegt der Tiefbahnhof in die Luft – unter dem lauten, trockenen Gelächter der Gegner.

Besprechung für das Internet-Theaterportal www.nachtkritik.de am 22. Mai. Die Premiere war am 21. Mai.

EDUARDAS UNIVERSUM

weblog für ernste kultur von verena großkreutz

Wer ist Eduarda?

Eduarda bin natürlich ich! Diesen Spitznamen verpasste mir ein Freund in meiner Anfangszeit als Musikkritikerin in Erinnerung an den berühmten Eduard Hanslick.

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