Philharmonia Orchestra und Lorin Maazel in der Stuttgarter Liederhalle
Stuttgart - Die Geigerin Janine Jansen wirkte inmitten des dichten Schwarz in Schwarz des riesig besetzten Philharmonia Orchestras wie verloren in einem tiefen, dunklen Wald. Nun ist der Wald zwar ein symbolkräftiger Ort für den Romantiker, doch Mendelssohns Violinkonzert verträgt die fette Grundierung, wie sie dann aus dem Klangkörper herausschallte, überhaupt nicht. Das Werk gehört vor allem wegen seiner mitreißenden, eingängigen Melodik zu den beliebtesten Solokonzerten und verlangt deshalb nach einer klassisch-lichten Klanglichkeit.
Beim letzten "Meisterkonzert" der Saison im vollbesetzten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle konnte Janine Jansen deshalb noch so innig, noch so genau formend und in den schönsten dynamischen Schattierungen und Farben in die Saiten greifen. Der meist zu aufdringliche Orchestersound übertünchte viele ihrer inspiriert herausgearbeiteten Feinheiten. Unter Lorin Maazels Leitung mutierte selbst die filigrane, flirrende Elfenmusik des Finales zum Marsch einer ganzen Gnomenarmee. Warum man Mendelssohn die Mahler-Besetzung aufgezwungen hatte, bleibt ein Rätsel.
Und auch Gustav Mahlers Fünfte Sinfonie fesselte nur dann, wenn es um satte Breitwandklanglichkeit ging wie im berühmten Adagietto. Lorin Maazel gelang es aber nicht, den Satz ins Ganze zu integrieren. Der blieb ein süffig-trunkener Fremdkörper. Überhaupt fehlte der Aufführung ein straffer Spannungsbogen – auch wegen oft irritierend schleppender Tempi. Zur Ausschöpfung aller sinfonischen Mittel, mit denen Mahler bekanntermaßen eine Welt aufbauen wollte, ließ sich das Philharmonia Orchestra durch Maazel nicht animieren. Das aber ist Voraussetzung für eine spannende Mahler-Interpretation.
Kurzkritik für die Stuttgarter Nachrichten vom 23. Mai 2011. Das Konzert fand statt am 20. Mai.
eduarda - 20. Mai, 10:31
Heute vor hundert Jahren starb der Komponist und Dirigent Gustav Mahler. Lesen Sie
hier meinen Beitrag zum Gedenktag.
eduarda - 18. Mai, 09:31
„Die Eisprinzessin“ von F.K. Waechter als Figurentheater an der Esslinger Landesbühne
Esslingen - Die Eisprinzessin ist ein seltsames Wesen: Sie beherrscht die Träume der Männer, aber vor ihren „stinkend warmen Betten“ ekelt ihr. Sie thront arrogant auf der Spitze ihres Eisberges und ersticht jeden Verehrer, der sich ihr nähern will, hinterhältig mit einem Eiszapfen. Pfui! Auch der junge König von Sizilien liebt die schaurig-kalte Schönheit. Aber da muss er sich erst Rat bei des Teufels Großmutter höchstpersönlich einholen, um der frostigen Lady auf den Leib zu rücken. Er schleicht sich verkleidet als Mädchen in ihr erstarrtes Leben. Überredet sie zu einer Tour nach Sizilien, um ihre Gier nach „der höchsten Schönheit“ zu befriedigen.
Knutschende Luftballons
Im Kinderstück „Die Eisprinzessin“, das der Cartoonist und Dichter F. K. Waechter 1993 geschrieben hat, geht es um die Liebe und um die Entdeckung der Sexualität. Auf dem Segelschiff nach Sizilien taut die in diesen Dingen extrem unterbelichtete Prinzessin langsam auf. Die bewegte See erledigt es ganz von selbst, dass man langsam zusammenrückt. „Was ist da unter deinem Bauch? Es ragt hervor“, fragt die Prinzessin neugierig. „Das ist das Glück. Bei manchen ragt es vor, bei manchen ragt‘s zurück“, antwortet der superschlaue König und erklärt ihr hintersinnig, was der Mund so alles können soll und was die Augen wirklich schön macht, bevor es dann irgendwann richtig zur Sache geht.
Als Märchenerzähltheater eignet sich „Die Eisprinzessin“ perfekt für das Puppenspiel, und wegen der sehr poetischen Sprache auch für das künstlerisch anspruchsvollere Figurentheater. Johanna Pätzold hat mit diesem Stück deshalb 2008 ihre Ausbildung im Studiengang Figurentheater an der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst abgeschlossen und zeigt diese Arbeit jetzt auf der Bühne des Kindertheaters der WLB. Wie es sich für eine erfolgreiche Diplomarbeit in diesem Fach gehört, demonstriert Johanna Pätzold ihre ganze Virtuosität und Sensibilität beim visuellen und klanglichen Einsatz unterschiedlicher Materialien. Zu Beginn sitzt die Märchenerzählerin an einer Autostraße inmitten von Müllsäcken, aus denen dann nach und nach das Spielmaterial entnommen wird. Ein kriegerisches Heer? Kein Problem: Aus einem Beutel ergießen sich unzählige Teelichthüllen auf die kleine Bühne des Kindertheaters. Mühsam stapft der König am Fuße des Eisberges durch hell knirschenden durchsichtigen Plastikabfall. Und ratzfatz sind Leinen mit Plastiktüten in allerlei Blautönen gespannt: das Meer.
Wenn der König der Eisprinzessin den Kuss erklärt, demonstriert Pätzold das anhand zweier sich aufblähender und wieder schrumpfender roter Luftballons, die auf Plastikflaschen gestülpt sind. Das wilde Knutschen wird zum Lacherfolg. Und die Augen dürfen auf geheimnisvoll illuminierte Plastikkanister schauen, in denen bizarre Landschaften aufscheinen und wieder verlöschen. Wunderschön!
Aber die Aufführung hat ein Problem: Sie ist durch ihre zur Abstraktion neigenden Materiallastigkeit nicht kindgerecht. Zudem spielt Pätzold die Erzählerin, den König und des Teufels Großmutter selbst, setzt die Charaktere nicht stark genug gegeneinander ab, wodurch wichtige Details der Handlung - wie etwa die Travestie des Königs - nicht wirklich deutlich werden. Einzige Spielfigur dieser Ein-Frau-Performance ist die Eisprinzessin - mit ausdrucksstark surreal verzerrtem Gesicht und einem Leib aus klarer und hellblauer Plastikfolie. Ihr Heim zu Beginn: eine durchsichtige Plastikhalbkugel, igelartig mit Wäscheklammern gespickt. Das ist eindrucksvoll in Szene gesetzt. Schade, dass Pätzold nicht noch weitere „Puppen“ ins Spiel gebracht hat. Zumal die gelegentlich zu eingehende Beschäftigung mit dem Material - etwa wenn aus kleinen Filmdöschen minutiös ein Besenstiel aufgebaut wird - Längen erzeugte, die im Kindertheater in der Regel mit Erhöhung der Geräuschkulisse honoriert werden. In der Premiere blieben die offenbar sehr theatererfahrenen Kinder allerdings erstaunlich konzentriert bei der Sache - konzentrierter als einige der Erwachsenen.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Die Premiere war am 14. Mai.
eduarda - 17. Mai, 10:29
Das Stuttgarter Studio Theater bringt „Die Schlichtung“ als Musical auf die Bühne
Stuttgart - Ein Musical über die wortreichen Schlichtungsgespräche zum Großbauprojekt Stuttgart 21? Ja, geht denn das? In der Musical-Metropole Stuttgart ist das möglich. Freilich nicht im noblen Schickimicki-Flair des Stuttgarter SI-Erlebnis-Centrums in Möhringen, sondern im Herzen Stuttgarts: In der kleinen Off-Bühne Studio Theater in der Hohenheimer Straße, die in diesem Mai ihren 30. Geburtstag feiert.
Hier probt der Regisseur Christof Küster gerade mit sieben Schauspielern „Die Schlichtung - Das Musical“. Motto des gut zweistündigen revueartigen Theaters: „72 Stunden - für Sie an einem Abend zusammengefasst!“ Einen „Beitrag zur Befriedung der Stadt“ wolle man leisten, wird augenzwinkernd verkündet.
Zwar fehlt dem Thema „Schlichtung“ ein wichtiges Musical-Merkmal: eine ans Herz gehende Liebesgeschichte. Andererseits gibt es derzeit nichts, was in Stuttgart die Emotionen derart in Wallung bringt wie die Frage nach Sinn oder Unsinn der Idee, den von vielen Bürgern und Bürgerinnen so innig geliebten Stuttgarter Kopfbahnhof unter die Erde zu bringen. Und bühnenreife Sprüche gab‘s genug an diesen acht Tagen der Schlichtung im Oktober und November 2010 - nicht nur vom Schlichter Heiner Geißler („Wenn die Katze ein Pferd wäre, könnte man die Bäume hochreiten“), sondern auch von den Projektgegnern Gangolf Stocker („Mein Lieblings-Plakat da unten am Bauzaun ist das, auf dem steht: ‚Marx ist tot, Murx lebt‘“) oder Peter Conradi: „Ich hab‘ heut‘ gelernt, dass es auch Tiere mit Migrationshintergrund gibt“. Über solche Bonmots hinaus stand aber noch eine Menge unfreiwilliger Komik auf der Tagesordnung.
Regisseur Christof Küster hat in mühevoller Arbeit den Schlichtungsprotokollen in dieser Hinsicht auf den Zahn gefühlt und aus ausgewählten Originaltönen eine Spielfassung zusammengestellt. „Zunächst war die Schlichtung natürlich eine trockene Veranstaltung“, erklärt er, „aber dass starke Emotionen im Hintergrund wirkten, die ja auch die Leute auf die Straße geführt haben, spürte man während der Verhandlungen immer. Und das Musical erlaubt dann eben, dass die Leute anfangen zu singen, um ihre Gefühlslage zu beschreiben. Die verdeckten Emotionen können wir auf diese Weise größer machen, und Texte lassen sich so gefühlsbetonter sprechen“.
Durch den Abend führt S 21-Werber Pfarrer Johannes Bräuchle und sein „Bräuchle TV“ - in Anlehnung an Flügel TV, den Internetsender, der regelmäßig über Stuttgart 21 und die Demonstrationen berichtet.
Auf der winzigen Bühne im Keller des Studio Theaters sitzt die sechsköpfige Schlichtungsrunde auf Stapeln von „Wulle“-Bierkästen hinter weißen, treppenartigen Pulten - die Darsteller spielen, wie es sich für eine Low-Budget-Produktion gehört, jeweils mehrere Rollen. Wenn sie heruntersteigen auf die Mini-Spielfläche und solo oder im Ensemble zum Mikrofon greifen, wird’s manchmal ganz schön eng. Alle kommen sie zu Wort: die Befürworter, die Gegner und die Experten. Und alle kriegen sie ihr Fett ab.
Ironisch gebrochen werden die Streitgespräche durch pfiffig umgetextete und am Klavier begleitete Musical-Klassiker. Bevor also Projektgegner Boris Palmer die Vorteile des K 21-Konzepts vorstellen darf, beschwört der Chor erst einmal das „Phantom der Gegner“ - auf die bekannte Nummer aus dem Musical „Das Phantom der Oper“: „Ich habe gestern Nacht bei Kerzenschein ‘nen Fahrplan uns gemacht, der ist ganz fein.“ Wenn die Projektgegner mal den Kopf traurig hängen lassen, singt DB-Vorstandsmitglied Volker Kefer ihnen aufmunternd das Lied „Es gibt ein Licht am Ende des Tunnels“ aus „Starlight Express“. Und wenn Naturschutzexperte Josef-Walter Kirchberg verträumt über Fledermäuse, Juchtenkäfer und Ameisenbläulinge sinniert, stimmt das Ensemble sanft an: „Züge kommen, Züge gehen“ auf „Sunrise, Sunset“ aus „Anatevka“.
Besonders wirkungsvoll ist der Gurgel-Chor auf „Ol‘ man river“ aus „Show Boat“, wenn die Gefahren von S 21 für die Stuttgarter Mineralquellen diskutiert werden. Und über den „schwarzen Donnerstag“, den 30. September 2010, im Stuttgarter Schlossgarten darf sich Heiner Geißler auf „Ihr bösen, bösen Buben“ aus der Rockoper „Shockheaded Peter“ echauffieren: „Ein Räumkommando richtig stark, die wollten ein paar Bäume fällen, an nur ganz wenigen Stellen“. Natürlich darf auch nicht „Maria“ aus der „West Side Story“ fehlen. Boris Palmer singt darauf eine Hymne an Ministerin Tanja Gönner.
Es ist der Charme einer Low-Budget-Produktion, die den besonderen Reiz dieses Musikprojekts ausmacht. So versucht man es auch erst gar nicht mit einer perfekten Ausstattung, sondern geht mit den eigenen Möglichkeiten ironisch um: Die während der Schlichtung verwendeten Schaubild-Folien finden sich an der Wand des Studio Theaters als Modelleisenbahnschienen oder baden-württembergische Wanderkarten wieder. Und die illustren Schnecken und Blitze, die Gangolf Stockers Skizze zu den Platzproblemen im geplanten unterirdischen Bahnhof verdeutlichen sollten, kleben dort ganz realistisch in Gestalt von Fimo-Knet-Figuren.
Die (ausverkaufte) Premiere beginnt morgen um 20 Uhr. Bericht für die Eßlinger Zeitung vom und die Zeitschrift Kultur.
eduarda - 11. Mai, 10:31
Soziologe Hartmut Häussermann über Schwabenhass in Berlin
Stuttgart - Im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg, der sich in den letzten 20 Jahren vom subkulturell geprägten, baulich auf Abbruch stehenden gallischen Dorf in einen hochsanierten, von Gutverdienern bevorzugten Trendbezirk verwandelt hat, prangen immer mal wieder fiese Plakate und Sprüche an Bäumen und Häuserwänden: „Schwaben raus!“ oder „Schwaben in Prenzlauer Berg = spießig, überwachungswütig in der Nachbarschaft und keinen Sinn für die Berliner Kultur!“.
Da staunt auch der Experte
Im Rahmen der Vortragsreihe „Schwäbisch?“, die das Landesmuseum Württemberg im Alten Schloss veranstaltet, ging jetzt der Berliner Soziologe Hartmut Häussermann, Fachmann für Gentrifizierung und Metropolenforschung, in seinem Beitrag „Schwaben raus! Schwäbisch als Feindbild in Berlin?“ dieser mysteriösen Aversion gegen die Menschen aus dem Ländle auf den Grund.
Die Ursachen dafür sind selbst dem Experten schleierhaft. Denn so viele „Reig‘schmeckte“, dass man von einer schwäbischen Okkupation reden könnte, gibt es in Prenzlauer Berg eigentlich gar nicht. Zwar besagt die Statistik, dass von allen aus Baden-Württemberg nach Berlin Eingewanderten sich 56 Prozent für diesen Ortsteil entscheiden, allerdings werden in der Statistik die Badener mitgezählt. Zudem ist der Anteil der Baden-Württemberger an der Gesamtzahl aller nach Prenzlauer Berg Gezogenen relativ gering: Zwischen 2,3 bis 4,4 Prozent schwankten die jährlichen Zuzugszahlen in den Jahren 1991 bis 2009.
Häussermann macht für die regionalen Antipathien den allgemeinen Unmut ehemaliger Mieter und Alteinwohner des Bezirks verantwortlich, die sich nun ein Feindbild suchten. In DDR-Zeiten war Prenzlberg, wie ihn die Berliner liebevoll nennen, vor allem Zufluchtsort für junge Menschen und Künstler und Zentrum der DDR-Opposition. Er war geprägt durch subversive Kultur und informelle Kneipen. Wohnungen waren extrem billig zu haben. 20 Prozent der Häuser seien Ende der 1980er-Jahre unbewohnbar gewesen, denn der Staat habe die Altbauten verfallen lassen und den Neubau von Plattensiedlungen auf bis dahin unbebaute Gebiete am Stadtrand verlegt.
Nach der Wende begann dann ein wahrer Sanierungsboom. Private Investoren kauften die Gebäude auf und setzten sie mit Unterstützung hoher Subventionen instand. Der Trend zu schicken Eigentumswohnungen trieb die Mieten in die Höhe. Viele Menschen konnten sich das nicht mehr leisten. Der Kapitalismus habe den Bewohnern jenes Gesicht gezeigt, das ihnen die DDR gelehrt habe, so Häussermann.
Eine Folie für die Verbitterung über die Prenzlberg-Schickeria habe man dann im Schwaben gefunden, wofür seine ihm zugeschriebenen und als negativ empfundenen Eigenschaften verantwortlich seien. Man kennt ihn ja, den Schwaben, der auf dem Bürgersteig kniet und mit dem Messer Moos aus den Ritzen kratzt, oder die ältere Dame, die die Fugen zwischen Bürgersteig und Hauswand mit dem Staubsauger reinigt. Fleißig ist er halt, sparsam, ordentlich, sauber und humorlos. Und der „Schwabe“ steht synonym für Geschäft, Erfolg und Geldverdienen: das ideale Feinbild für den Prenzlberger also. Aber eigentlich, sagt Häussermann, sei mit dem Schwaben alles gemeint, was nicht berlinisch sei.
„Revolution auf Schwäbisch“
Sei‘s drum. Das Image des Schwaben befinde sich gerade im Wandel. „Revolution auf Schwäbisch“ titelte die Berliner Zeitung nach der letzten Landtagswahl über dem Foto des jubelnden Kretschmann. Neidvoll blinzle manch ein Berliner nach Baden-Württemberg, erfüllt von dem Wunsch, ein grüner Wahlsieg passiere auch in Berlin. „Als größte schwäbische Stadt außerhalb Baden-Württembergs“, zitierte Häussermann die Berliner Grünen-Spitzenkandidatin für die Wahl des Abgeordnetenhauses Renate Kühnast, „werden wir das schon schaffen.“ Womit auch sie wieder ein Klischee bedient hat.
Beim nächsten „Schwäbisch?“-Abend am 26. Mai, 18 Uhr, im Alten Schloss sind Carmina Brenner, Präsidentin des Statistischen Landesamts Baden-Württemberg, und Sara Alterio vom Forum der Kulturen zu Gast.
Bericht für die Eßlinger Zeitung von heute. Der Vortrag fand statt am 5.5.
eduarda - 9. Mai, 09:11
„zeitoper“-Finale mit der Uraufführung von Ming Tsaos „Die Geisterinsel“ in Stuttgart
Stuttgart - Mit ihrer „zeitoper“-Reihe verfolgt die Stuttgarter Staatsoper seit 2006 das Ziel, öffentliche Räume in Stuttgart musikalisch zu erkunden. Mit dem Musiktheater „Paulinenbrücke“ von Daniel Ott und seiner Thematisierung umstrittener Städtebaupolitik etwa war dem künstlerischen Leiter der zeitoper Xavier Zuber und seinem Team im Mai 2009 eine Produktion gelungen, die angesichts der späteren Diskussionen um das Bahn-Projekt Stuttgart 21 wahrhaft seherische Qualitäten haben sollte: ein Glücksfall für die Kunst, die hier ihrer Aufgabe, als sensibelstes Glied der menschlichen Gemeinschaft Entwicklungen und Strömungen in der Gesellschaft vorauszuahnen, perfekt erfüllte.
In ihrer zehnten und leider letzten Produktion ist die "zeitoper" jetzt in den Lesesaal der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart gezogen. Auch hier entwickelte sich in der Premiere ein feines, hintersinniges Beziehungsgeflecht zwischen dem Ort und der in Auftrag gegebenen Musik: Ausgangspunkt für "Die Geisterinsel" des US-amerikanischen Komponisten Ming Tsao war nämlich das gleichnamige Singspiel von Johann Rudolf Zumsteeg, das 1798 in Stuttgart uraufgeführt wurde und dessen Originaldrucke in der Landesbibliothek lagern. Der "Geisterinsel" wiederum liegt Shakespeares Drama "Der Sturm" zugrunde und damit die Geschichte Prosperos, der nach einer Intrige auf einer einsamen Insel ausgesetzt wurde und dessen Macht sich nicht nur auf Zauberkraft, sondern vor allem auch auf einem Bücheruniversum aufbaut. Da schließt sich der Kreis.
Eine Vertonung von Shakespeares "Sturm" im engeren Sinne ist Tsaos "Geisterinsel" aber nicht. Shakespeares letztes Drama ist hier auf ein paar Seiten zusammengeschnurrt und mit allerlei Fragmenten aus anderen "Sturm"-Adaptionen und -Übersetzungen vermischt. Die Personage ist auf Prospero (Tito You), seine Tochter Miranda (Tajana Raj), ihren Geliebten Fernando (Daniel Kluge) und auf Prosperos Gegenspieler Caliban sowie einen Geisterchor reduziert.
Der Inhalt der dramatischen Vorlage ist nur vage fassbar: Es geht um Prosperos Macht durch Wissen, den Zerfall der Sprache und den damit verbundenen Machtverlust Prosperos, herbeigeführt durch den aufständischen Sklaven Caliban, ein seltsames Wesen, halb Mensch, halb Fisch. Bei Tsao sind es zwei Sänger, die den Rebellen spielen: Christoph Sökler und Mario Pitz.
Matthias Rebstock, der den Abend inszeniert hat, lässt Prosperos streng geordnete Welt, die im Bibliothekslesesaal zwischen den systematisch nach Signaturen gereihten Büchern und den symmetrisch gestellten Lesetischen ihren idealen Ort gefunden hat, durch Bücherkanonaden, zerfetzte Folianten und herabfallenden Papierregen untergehen. Das Ende bleibt offen. Prospero entzieht sich Calibans Revolution, in dem er Miranda und Fernando, beide gefangen im Meer der Lesetische, in den unvermeidlichen Bibliotheksschlaf folgt.
So wie die schönen Verse, die immer mehr in ihre kleinsten Bestandteile zerfallen, diente Ming Tsao auch Zumsteegs Musik lediglich als Keimzelle für eine ganz eigene Klangwelt, die sich im Lesesaal langsam aufbaute und eine faszinierende Synthese mit dem Raum einging. Tsaos Protagonisten pflegen einen ausdrucksstarken Sprechgesang, der neunköpfige Chor und das Kammerorchester mit Musikern des Staatsorchesters dagegen, in Grüppchen zwischen den Bücherregalen aufgeteilt, spannen unter der Leitung von Stefan Schreiber ein hochdifferenziertes Klangnetz aus geisterhaftem Säuseln, quirligen Wellenbewegungen, Steineklopfen und Sandrieseln, sphärischen Luftgeräuschen, schreienden Blechbläserfanfaren und Streicherflageoletts. Der Höhepunkt: eine donnernde Sturmmusik, erzeugt durch mehrere Pauken, deren Felle Kleiderbügel aus der Reinigung, die mit Geigenbögen gestrichen werden, in Schwingung versetzen.
Spektakulär auch, wie die Musik Ming Tsaos die akustischen Irritationen des Gebäudes, die durch die zerklüftete Oberflächenstruktur der Saaldecke entstehen, für sich zu nutzen weiß: Am Ende klang es, als prassele der Sand, den eigentlich die beiden Perkussionisten rieseln lassen, vom Himmel auf das Dach der Bibliothek.
Eine geister- und traumhafte musikalische Parallelwelt entstand so, die mit der typischen Bibliotheksatmosphäre geistiger Arbeit und meditativer Ruhe zu verschmelzen schien. Die Welt der Bücher ist – obgleich mitten in der Stadt – eben auch ein sehr eigenes, für viele Menschen fremdes und abgeschiedenes Universum. An diesem Abend wünschte man sich, dass die Musik hier nie aufhört zu klingen.
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 4.5.2011. Premiere war am 2.5.
eduarda - 4. Mai, 00:03
Fragile! – André Rößler holt Tena Štivičić' Stück in Stuttgart ins abstrakt Kühle
Stuttgart "Es gibt kein Ort zum Rückkehren", heißt es in Tena Štivičić' "Fragile!". Tiasha sagt das zur Sozialarbeiterin Gayle, nachdem diese Tiashas Hoffnung auf Asyl mit einem unverbindlichen "Ich kann nichts garantieren, aber wir tun unser Bestes" einen verbalen Faustschlag versetzt hat. Tiasha ist eine Zwangsprostituierte aus Osteuropa, die nach London geflohen ist, wo sich ihre Wege mit denen fünf weiterer Einwanderer kreuzen: in der muffigen Kellerbar des Bulgaren Michi.
Dort singt die schöne Kroatin Mila, die eigentlich Musicalstar werden will. Dort kellnert der Serbe Marko, der eigentlich Comedian werden will. Dort taucht auch der aus Norwegen stammende Kriegsreporter Erik auf, der mit Mila liiert ist, dem aber die Gefühle abhanden gekommen sind: ein Materialist und Kokser. Und auch die Neuseeländerin Gayle, jene Sozialarbeiterin, die sich eigentlich zur bildenden Künstlerin berufen fühlt, aber jetzt traumatisierte Asylbewerber betreut, lässt sich hier blicken. Und dann eben auch Tiasha, die ihre große Liebe Erik endlich wiedergefunden zu haben glaubt und sich nun einen Neuanfang mit ihm erhofft – freilich ohne Erfolg. Da schließt sich der Kreis.
Fremd im Westen eingezogen
Alle verirren sich in der Großstadt, getrieben von Sehnsüchten, fremd unter Fremden, und alle haben ein dickes Paket an Problemen an der Backe. So wie Marko, der der Vergangenheit seines Vaters, eines serbischen Kriegsprofiteurs, entfloh. Gerettet werden die Entwurzelten, die Tena Štivičić in ihrem Stück "Fragile!" aufeinander treffen lässt, am Ende nicht. Ihr Leben bleibt in der Schwebe. Auch weil man bei allem Integrationswillen doch unter sich bleibt. Und der Westen nur Projektionsfläche ist für letztlich unerfüllbare Träume.
"Fragile!", das die 1977 in Zagreb geborene und heute in London lebende Tena Štivičić 2005 geschrieben hat, erzählt von der sehnsüchtigen Suche nach einer neune Heimat in der Fremde, nachdem die alte unmöglich geworden ist. Ein weltweit unerhört aktuelles Thema. "Fragile!" wurde 2008 beim Heidelberger Stückemarkt prämiert. Es ist ein gutes Stück. Man konnte das auch bei der Premiere im Kammertheater des Staatsschauspiels Stuttgart spüren. Die Dialoge sind raffiniert gebaut, oft mit feiner Komik, mit Doppeldeutigkeiten und Wortspielen durchsetzt. Die Charaktere sind differenziert gezeichnet.
Abgründiges Element, kühle Abstraktheit
Doch in André Rößlers Inszenierung bleibt man von den Geschichten der Heimatlosen seltsam unberührt. Offenbar traut der Regisseur dem Stück nicht so recht. Er lässt es komplett auf einer breit aufsteigenden weißen Treppe spielen. Nicht in einer jener dunklen "Kellerbars, die nie richtig gelüftet werden können", wie es in der Regieanweisung heißt. Auch nicht in der Wohngemeinschaft von Marko und Mila oder im "schäbigen Büro" eines Flüchtlingsheims. Es ist immer diese weiße Treppe, die ganz allgemein von (gesellschaftlichen) Auf- und Abstiegen künden mag, die aber ansonsten sterile Kälte verströmt.
Das ändert auch Murat Parlak nicht, der das Geschehen als "Diskotheker" mit Rhythmusmaschine, Synthie und Soulgesang begleitet. Statt Schmuddeligkeit und Schummrigkeit immer diese grelle, hölzerne Abstraktheit, auf der sich die Protagonisten bewegen wie auf einem Laufsteg. Sie sprechen oft frontal zum Publikum, nicht immer zu- oder miteinander. Ausdruck der Vereinzelung? Ihre Bewegungen sind oft puppenhaft kantig und choreographiert. Man mischt sich gelegentlich auch mal in Video-Tagebuchform ins Geschehen ein. Rößler scheint mit allen Mitteln Emotionen verhindern und Distanz herstellen zu wollen. Sprachprobleme spielen keine Rolle. Auf Emigrantenakzente, wie sie das Textbuch vorsieht, wird verzichtet.
Someday, somewhere
So werden die Charaktere eher ausgestellt als analysiert: Tiasha alias Lisa Bitter wirkt viel zu cool und rational angesichts ihrer furchtbaren Geschichte. Anna Windmüller als Gayle ist eine nette, aber unzufriedene Gutmenschin, mehr aber auch nicht, während Boris Koneczny als Michi dem Klischee eines am Handy klebenden "Balkan-Mafiosos" verhaftet bleibt. Minna Wündrichs triebgesteuerte Mila kann mit viel Gesang am offensivsten gegen die eingeschränkte Entfaltung ihres Charakters kämpfen, während Sebastian Schwab alias Erik, der nur noch im Genuss einen Sinn sieht, eher an der Oberfläche der Möglichkeiten bleibt. Jan Krauter als Marko dagegen kann dank feiner Komik die Qualitäten des Textes am treffendsten herausarbeiten.
Dass Rößler das Drama mit Leonhard Bernsteins "Somewhere" enden lässt, das alle Protagonisten bei einem Gläschen Schnaps fröhlich anstimmen, wäre zu akzeptieren, wenn es in irgendeiner Weise ironisch gebrochen würde. Feine Zwischentöne und doppelte Böden sind Rößlers Sache aber nicht.
Rezension für nachtkritik am 1. Mai. Premiere war am 30.4.
eduarda - 1. Mai, 23:51
Molières „Tartuffe“ hat in der spritzigen Inszenierung von Harald Demmer Premiere am Alten Schauspielhaus in Stuttgart
Stuttgart - Mit seiner entlarvenden Darstellung religiösen Heuchlertums, das er zum Thema seiner Komödie „Tartuffe“ gemacht hatte, löste Molière 1664 einen Riesenskandal aus. Nach zwei Umarbeitungen und der Intervention Ludwig XIV. konnte das Stück die Zensur aber passieren. Doch selbst in dieser offenbar entschärften Fassung, die als einzige die Jahrhunderte überlebt hat, dürfte das Stück noch viele Kirchenkonservative echauffiert haben - bis heute. Vermutlich, weil es an Aktualität nichts verloren hat. Die Mixas unserer Zeit sorgen schon dafür.
Unter dem Deckmantel der Kirche geht auch in unseren Tagen so manch einer unbehelligt seinen sexuellen Gelüsten und habgierigen Geschäften nach. So wie der Bettler Tartuffe eben, der sich mit frömmelndem Geschwätz beim wohlhabenden Orgon einschleimt, wie die Made im Speck in dessen Haus lebt, sich an dessen Frau heranmacht und sich sogar das gesamte Vermögen unter den Nagel reißt. Am Ende hilft nur noch die Staatsmacht, um Orgon aus der Klemme zu helfen. Ein Happy End mit doppeltem Boden.
Gut also, dass dieses Stück wieder einmal in Stuttgart zu sehen ist. Und das in einer wirklich witzigen und quirligen Inszenierung am Alten Schauspielhaus. Harald Demmer hat Regie geführt und die französische Komödie dank gut getimten Slapsticks, amüsanten Details, perfekt besetzten Rollen und einer genauen Personenführung in den rasanten Fluss bester Abendunterhaltung überführt.
Immer ist Bewegung auf der Bühne, selbst im Halbdunkel der Szenenwechsel gehen sich die Protagonisten an den Kragen oder prallen aufeinander. Dass dies auf der kleinen Bühne des Alten Schauspielhauses überhaupt möglich ist, dafür sorgt Manfred Schneiders raffinierte Raumlösung: Ein Treppenaufgang schafft zusätzliche Eingänge, im schneckenartigen Sitzrondell in der Mitte kann man sich prima verstecken oder in wilder Verfolgung drumherum jagen. Das überdimensionale, kitschig leuchtende Kreuz an den gelb ausgepolsterten Wänden und darunter das Weihwasserbecken, mit dessen Inhalt gelegentlich die erhitzten Gemüter gekühlt werden, stehen nicht nur für die Scheinheiligkeit Tartuffes und die Verblendung Orgons, der selbst durch betrügerische Machenschaften zu Geld kam und sich durch Tartuffes himmlische Nähe Gewissenserleichterung erhofft.
Molière ist da ganz zeitlos modern: Der Großteil der Familie durchschaut zwar das falsche Spiel Tartuffes - schließlich ist die Erbschaft in Gefahr. Aber im Vordergrund stehen nur die eigenen Interessen. Dass Orgons erst Fanta, dann Champagner saufende Tochter (klasse: Julia Sontag) immer mehr in Depressionen verfällt, scheint niemanden zu interessieren. Und die Zofe Dorine, köstlich aufgedreht gespielt von Lucia Peraza Rios, versucht zwar innerhalb der Familie zu vermitteln, aber das tut sie in dieser Inszenierung recht gewaltsam - etwa wenn sie Tochter Mariane mit ihrem geliebten Valère (Stefan Kiefer) versöhnen will und den beiden dabei beinahe die Finger bricht.
Erst als Orgons Ehefrau vor den Augen des Hausherrn den Betrüger in die Liebesfalle lockt (sehr akrobatisch: Natalie Forester), öffnen sich Orgon die Augen. Der wird von Andreas Klaue als kleiner, immer unter Strom stehender spießiger Choleriker gespielt. Ben Daniel Jöhnk als Tartuffe ist ein langer Lulatsch mit dem Charme eines Max Raabe - beides Charaktere unserer Zeit, wie auch die restliche Personage.
Die hat Manfred Schneider in moderne Designerklamotten gekleidet: Schwager Cléante alias Harald Pilar von Pilchau etwa tritt mit Karl-Lagerfeld-Zöpfchen, Sonnenbrille und Fächer auf und León Schröder als Sohn Damis im schicken roten Anzug und schwarzem Rüschenhemd.
Highlights der Inszenierung sind aber immer wieder ihre überraschenden Details. So sitzt der Gerichtsvollzieher, der Orgons Vermögen pfänden soll, vor seinem ersten Auftritt zunächst unauffällig im Publikum und fällt den Sitznachbarn durch sein penetrant klingelndes Handy auf die Nerven, bevor er von den Schauspielern auf der Bühne aufgefordert wird, das Ding endlich abzustellen. Im Wandschränkchen mit Devotionalien, ist auch ein Schalter versteckt, mit dem Orgon je nach Gefühlslage meditative oder bombastisch dröhnende Orgelmusik zuspielen kann. Und die Zofe Dorine hält nur mit dem Gewehrlauf zwischen den Augen mal für eine Minute die Klappe. Das durchweg temporeiche und überzeugende Ensemblespiel wurde am Ende vom Publikum mit tosendem Applaus belohnt.
Täglich außer sonntags bis 4. Juni, jeweils 20 Uhr.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 30.4.2011. Die Premiere war am 28.4.
eduarda - 30. Apr, 23:46
Kay Johannsen dirigiert Mahlers Zweite Sinfonie in der Stuttgarter Stiftskirche
Stuttgart - Der Wallstreet-Mann Gilbert Kaplan wurde einst durch eine Aufführung von Gustav Mahlers Zweiter Sinfonie derart beeindruckt, dass er ihr fortan sein Leben widmete. Er erlernte das Dirigieren, um sie immer und immer wieder zum Erklingen zu bringen. Nur diese eine Sinfonie. Zur Umsetzung seiner neuen Lebensaufgabe konnte der Amateurmusiker sehr berühmte Orchester gewinnen. Um den religiösen Aspekt der Zweiten, die darin formulierte Hoffnung auf die Auferstehung, mag es ihm dabei weniger gegangen sein. Kaplan wurde die Sinfonie selbst zum Gegenstand kultischer Anbetung und ihre Aufführung zur Zelebrierung einer Messe. Er dirigierte stets mit Mahlers Taktstock.
Auch der Stuttgarter Stiftskantor Kay Johannsen wollte einmal Mahlers Zweite dirigieren - im Rahmen der Stiftsmusik. Er suchte die Legitimation dafür im Inhalt: im Finale mit seiner Vertonung der Klopstock-Hymne „Die Auferstehung“. Johannsen führte Mahlers Zweite am Karfreitag in der ausverkauften Stiftskirche auf. Eine problematische Entscheidung. Nicht nur wegen des Tages: Thematisch bedingt hätte die Zweite doch eigentlich erst am Ostersonntag erklingen dürfen. Oder stand für Johannsen an diesem Abend eher ihr Aspekt des menschlichen Ringens um den Glauben im Mittelpunkt?
Mystisches Urlicht
Die Akustik der Stiftskirche ist zudem für große sinfonische Werke denkbar ungeeignet. Man sitzt als Hörer ja quasi mitten im Orchester, jedes Instrument wird einzeln hörbar, löst sich aus dem Orchestergesamtklang heraus. Der fiel in alle Richtungen auseinander wie ein geachtelter Apfel - und somit auch die Welt, die Mahler in seinen Sinfonien mit allen Mitteln zu erbauen suchte. Mahlers Zweite braucht einen großen Konzertsaal, auch wegen ihres bei allen religiösen Fragestellungen letztlich doch zutiefst weltlichen Charakters.
Dabei hatte das Orchester, das für diesen Anlass zusammengestellt worden war, hervorragende Bläser an Bord, und auch die Streicher überzeugten durch ihr homogenes, farbiges Zusammenspiel. Indes, es war kein festes Ensemble, das sich blind versteht. Und Johannsen wollte viel, sehr viel. Er zeigte das sehr genau, atmete laut und tief mit, um Phrasierungen und dynamische Steigerungen noch deutlicher zu machen.
Das Orchester ließ sich zu detailgenauer Momentanalyse inspirieren, was etwa dem satirischen Scherzo und seiner instrumentalen Version des Wunderhorn-Liedes „Des Antonius zu Padua Fischpredigt“ durchaus zugutekam, aber den großen sinfonischen Atem oft zum Stocken brachte. Dennoch: Es gab sehr viele schöne Phasen in dieser Aufführung: Mystisch etwa leuchtete das „Urlicht“, wunderschön gesungen von Sopranistin Felicitas Fuchs und durchwoben von vielen farbigen Orchestersoli. Und effektvoll herausgespielt war der A-cappella-Einsatz der gut vorbereiteten Stuttgarter Kantorei im Finale: was für ein magischer Moment!
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 26.4.2011. Das Konzert fand statt am 22.4.
eduarda - 26. Apr, 23:40
Stuttgarter Philharmoniker wagen sich an Olivier Messiaens Turangalîla-Sinfonie
Stuttgart - An der monströsen Turangalîla-Sinfonie des französischen Komponisten Olivier Messiaen, entstanden zwischen 1946 und 1948, scheiden sich die Geister: Die einen sehen in ihr ein "interessantes Skandalon", weil sie in Zeiten, da Europa in Schutt und Asche lag, "mit Schwindel erregender Vitalität von maßlosen Freuden" künde. Die anderen bewundern ihre musikalische Riesenfarbpalette und die immense Energie, die sie verbreitet, aber auch ihre spirituelle Leuchtkraft.
Auch im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle, wo sich die Stuttgarter Philharmoniker am Sonntagabend diesem auch heute noch klanglich spektakulären 80-Minuten-Werk widmeten, spaltete sie das Publikum: Schon nach dem ersten Satz verließen die ersten Zuhörer den Saal. Und das ging so weiter bis zum zehnten und letzten Satz. Am Ende aber waren noch mehr als genug Menschen da für einen tosenden Applaus, den sich die Philharmoniker unter der Leitung des finnischen Dirigenten Ari Rasilainen auch wahrlich verdient hatten: Einerseits weil sie mutig ein hierzulande selten aufgeführtes Werk ins Programm genommen hatten, andererseits weil sie damit einen ungeheuren Kraftakt gestemmt hatten. Denn die riesig besetzte, durch ein mehrschichtiges Rhythmusgeflecht höchst komplex gebaute Sinfonie fordert viel Energie, äußerste Konzentration und die genaue Bündelung der Orchesterkräfte.
Zusammen mit dem Pianisten Steven Osborne und dem Ondes-Martenot-Spieler Philippe Arrieus gelang unter Ari Rasilainens vorausdenkendem, in Sachen Tempo vorwärtstreibendem Dirigat eine insgesamt beeindruckende Aufführung, die die wild-orgiastischen Farbräusche, die entfesselte Rhythmik, die immer wieder aufscheinenden kitschigen Enklaven gleichermaßen zu ihrem Recht kommen ließ. Im Fortissimo sorgte zwar das hohe Jaulen der Ondes Martenot – einem seinerzeit in Frankreich beliebten einfachen elektronischen Tasteninstrument – gelegentlich für unangenehme Frequenzen und vertrieb ein paar Zuhörer aus den ersten Reihen, dafür entfalteten sich in den langsamen Sätzen die Gedanken geheimnisvoll und sinnlich, was Steven Osborne, der im sechsten Satz am Klavier Vogelrufe zu imitieren hatte, durch delikate Farbgebung intensivierte.
Warum man dieser abendfüllenden Sinfonie Prokofiews zierliches Kinderstück "Peter und der Wolf" vorangestellt hatte, bleibt allerdings ein Rätsel, zumal die Probezeit dafür offenbar nicht mehr ausgereicht hatte. Schauspieler Sebastian Koch betete seinen Text - die Hände in den Hosentaschen - freundlich und lässig, aber völlig ohne erzählerische Magie herunter, und das Orchester tat Dienst nach Vorschrift. Zwischen Erzähler und Musikern baute sich einfach keine Spannung auf. Die anwesenden Kinder brachte das schon bald zum Gähnen.
Rezension für die Eßlinger Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten vom 19. April 2011. Das Konzert fand statt am 17. April.
eduarda - 21. Apr, 18:51
SWR-Radio-Sinfonieorchester Stuttgart mit Anna Vinnitskaya und Krzysztof Urbanski in der Stuttgarter Liederhalle
Stuttgart - Der Steinwayflügel im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle fühlte sich unter ihren Händen offenbar pudelwohl: Denn die junge Pianistin Anna Vinnitskaya entlockte seinem sonst oft so metallig-kühlen Klang die Wärme eines Bechsteins. Interpretatorische Überraschungen bot ihre Version von Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 1, in dem die schöne Russin gemeinsam mit dem SWR-Radio-Sinfonieorchester Stuttgart (RSO) zu hören war, zwar nicht. Dafür frappierte die unglaubliche Sicherheit, mit der sie die hohen technischen Anforderungen des berühmtesten aller Klavierkonzerte bewältigte.
Anna Vinnitskaya verfügt über ein stupendes virtuoses Potenzial, das weder Unsicherheiten noch haarige Passagen zu kennen scheint. Ob filigrane quecksilbrige Läufe und donnernde Akkordketten, ob schwerblütige melancholische Gedanken oder quirlige Scherze, sie hat die pianistische Feinmotorik derart verinnerlicht, dass ihr noch luxuriös viel Zeit bleibt, um mit dem Orchester und dem Dirigenten zu kommunizieren, impressionistisch mit den Farben zu spielen, jeden Ton, auch den flink vorbeihuschenden, noch mit Emotionen aufzuladen. Sie ist zweifelsohne eine Pianistin, von der man noch viel erwarten darf.
Auch das RSO fühlte sich wohl in Gesellschaft der 27-Jährigen. Es war ja auch nicht das erste Mal, das man zusammenarbeitete: Schon vor drei Jahren hatte die Russin am selben Ort in Sergei Prokofiews 2. Klavierkonzert eine spektakuläre Offenbarung ihres Könnens geboten. Auch der junge polnische Dirigent Krzysztof Urbanski, der den Abend auswendig leitete, ist kein Neuling für das RSO, hat sich in den letzten drei Jahren prächtig entwickelt. Er hat die Eigenart, dem Orchester klangliche Einzelheiten pantomimisch genau vorzuspielen, beinahe ganz abgelegt und überzeugt nun durch eine sehr präzise, mitreißende Schlagtechnik. So führte er das RSO sicher und einfühlsam durch die rhythmisch-metrischen Stolpersteine des weiteren Programms, zog das Publikum in den Bann der "Ungarischen Bilder" von Béla Bartók: der poetischen Welt tapsiger Bärentänze, betrunken torkelnder Spätheimkommer und Flöte spielender Hirten. Gelegenheit für die Bläser des RSO, sich solistisch wirkungsvoll in Szene zu setzen.
In Witold Lutoslawskis Konzert für Orchester von 1954 schließlich stellte Urbanski seinen Sinn für den großen Bogen unter Beweis, der relativ entspannt zum wuchtig sich aufbäumenden Finale führt. Lutoslawskis vielschichtige Klangwelt und ihr Über-, Gegen- und Miteinander des Klangmaterials blieb selbst bei höchster Lautstärke noch durchhörbar. Viel Applaus gab es für einen in jeder Hinsicht unterhaltsamen Abend.
Das Konzert wird am Freitag, 15. Juli 2011, ab 20.03 Uhr in SWR2 gesendet.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 16./17. April 2011. Das Konzert fand statt am 14. April.
eduarda - 18. Apr, 18:46
Orchestre National de Belgique und Daniel Hope in Stuttgart
Daniel Hope
Stuttgart - Nichts wirkt gekünstelt, nichts geziert an seinem Spiel: Der Geiger Daniel Hope besitzt jenen wahrhaftigen, intensiven Ton, der von der ersten Sekunde an fesselt. Im Meisterkonzert am Montagabend im gut gefüllten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle zeigte der Brite in Max Bruchs Erstem Violinkonzert, dass ihm nichts ferner liegt als eine nur auf Schönklang und Präzisionsfingerwerk getrimmte Virtuosität.
Er stürzt sich risikofreudig in die rasend schnellen Läufe und Doppelgriffakkumulationen all'Ungharese, reißt die Saiten mit dem Bogen rau an, schleift den Ton gerne in den nächsten hinein. Er überspielt auch nie, dass das alles sehr viel Arbeit ist, und wischt sich gelegentlich den Schweiß von der Stirn. Um dann im Adagio zu jenem dunkel-verträumten und schmerzerfüllten Nachdenken zu gelangen, welches das Herz lauschender Gefühlsmenschen sofort höher schlagen lässt.
Hope bleibt Mensch auf der Bühne, steht nicht für den abgebrühten, abgehobenen Virtuosentypus. Dazu gehört auch, dass er das Blumenbouquet, das ihm am Ende gereicht wird, etwas zu schnell ins Publikum wirft, als sei's eine lästige Last. Wie sehr es ihm um die Ausdrucksvielfalt seines Instruments geht, offenbarte er in der Zugabe: eine Improvisation über einen Raga des indischen Komponisten Ravi Shankar - freilich in einer von drei Stunden auf drei Minuten gekürzten Version, wie Daniel Hope in perfektem Deutsch ansagt. Da erahnte man zwischen den vibrierenden, pulsierenden Geigentönen auch das Plappern der Tabla und das Säuseln der Sitar.
Dass Daniel Hope im Bruch-Konzert gelegentlich ins Schwitzen kam, mag auch an den etwas gehetzt wirkenden Tempi gelegen haben, mit denen das Belgische Nationalorchester unter der Leitung seines Chefdirigenten Walter Weller durch die Ecksätze geprescht war. Walter Weller ließ ein kräftiges Durchatmen nur selten zu. Zudem ist er nicht gerade ein Meister des Übergangs, was vor allem Johannes Brahms' Zweiter Sinfonie zum Verhängnis wurde, deren Form sich auf diese Weise blockhaft aufbaute.
Zwar fuhr der Brüsseler Klangkörper mit einem insgesamt sehr satten sinfonischen Sound auf, doch weil man an der Oberfläche blieb und auf Melodienseligkeit setzte statt auf Transparenz und dynamische Feinarbeit, blieb die intellektuelle, strukturelle Ebene der Komposition, die immerhin von einem motivisch-thematischen Tüftler stammte, auf der Strecke. So präsentierte sich der Kopfsatz als quadratischer Brocken, während das Adagio süßlich-sämig dahinfloss, das Allegretto gepflegt vor sich hin plätscherte und das Finale breit durch die Zeit brauste.
Dass man den Abend mit Brahms' Akademischer Fest-Ouvertüre begonnen hatte, die genauso klingt, wie es ihr Name verspricht, war ein dramaturgischer Missgriff. Es gibt wahrlich Interessanteres als dieses Burschenschaftslieder-Potpourri.
Rezension für die Eßlinger Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten von heute. Das Konzert fand statt am 13. April 2011.
eduarda - 13. Apr, 21:12
SWR Vokalensemble Stuttgart in der Gaisburger Kirche mit Werken von Thomas Tallis und Alfred Schnittke
Stuttgart - Was für ein Kontrast: Die abgeklärten "Lamentations of Jeremiah", komponiert 1565 vom englischen Renaissancekomponisten Thomas Tallis, und der aufwühlende Klangkosmos der "Zwölf Bußverse" des 1988 verstorbenen Deutsch-Russen Alfred Schnittke. Das SWR Vokalensemble liebt solche Gegensätze und wandelte sie am Samstagabend in der vollbesetzten Gaisburger Kirche in ohrenfesselnden Klang um.
Gewidmet war das Konzert "allen Leidtragenden der atomaren und ökologischen Katastrophe in Japan". Dem kamen inhaltlich vor allem Jeremias Klagegesänge von Tallis entgegen, trauert in den zugrundeliegenden alttestamentarischen Versen doch der Prophet um sein geliebtes Jerusalem, das trotz seiner verzweifelten Rettungsversuche vernichtet wurde. Die dunkelstimmige Motette bot das Vokalensemble unter der Leitung von Marcus Creed mit der nötigen Klarheit, Gelassenheit und Schlichtheit dar, weswegen sich die hochexpressive Harmonik und die kunstvoll-exotischen Modulationen besonders farbig entfalten konnten.
In Schnittkes "Zwölf Bußversen" für gemischten Chor, komponiert 1988 zur Tausendjahrfeier der Christianisierung Russlands, durfte das Spitzenensemble dann sein gesamtes Potential zum Einsatz bringen, verband der geniale Polystilist Schnittke in diesem mächtigen Zyklus doch die archaische Wucht und finstere Stimmung russisch-orthodoxer Gesänge und anderer Sakralstile mit diversen vokalen Techniken des 20. Jahrhunderts. Das Werk auf altrussische Texte, die bilderstark den menschlichen Sündenpfuhl beklagen, die Hoffnung auf Vergebung aber nie ganz aus den Augen verlieren, kontrastiert lupenreinen Schönklang mit dissonanten Tontrauben, warm vibrierende Sphärenklänge mit wilder, greller Ekstase, traurige Sologesänge mit apokalyptischer Klangmacht. Als das setzte das Vokalensemble so plastisch und wirkungsvoll um, dass das Publikum gar nicht anders konnte, als sich überwältigen zu lassen.
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten von heute. Das Konzert fand statt am 4. April 2011 und wird am Buß- und Bettag, 16. November 2011, um 13.05 Uhr auf SWR2 gesendet.
eduarda - 4. Apr, 12:10
Das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra spielt in der Stuttgarter Liederhalle
Stuttgart - Das Hörerlebnis war erschlagend: Peter Tschaikowskys selten gespielter „Manfred“-Sinfonie - die Lord Byrons gleichnamiger Dichtung rein instrumental auf den Leib rückt - wurde selbst der Stuttgarter Beethovensaal zu klein. Schwerblütiges Pathos und aufgewühlte Schicksalssinfonik, ein Riesenorchester mit donnerndem Schlagwerk und großem Bläseraufgebot brachten die Liederhalle zum Vibrieren. Am Ende, zwecks mystischer Unterstreichung des Todes Manfreds, fuhr sogar noch das volle Orgelwerk auf. Schließlich ist Manfred ein faustischer Charakter, der überdies in den erhabenen und gewaltigen Alpen umherirrt.
Das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra, das mit dieser äußerst theatralisch sich gebärdenden Musik am Mittwoch im voll besetzten Beethovensaal gastierte, hinterließ damit freilich eine beeindruckende Visitenkarte. Unter der Leitung ihres Chefdirigenten Vasily Petrenko konnte sich die unglaubliche Klangpracht britischer Bläserfraktionen frei entfalten, aber auch die intonationssicheren, dynamisch flexibel und spielfreudig agierenden Streicher überzeugten bis zum letzten Takt. Ob finstere Natur- und Seelengemälde im ersten Teil, federnde Rhythmik und witzige Wasserimitationen im Alpenfee-Satz, ob klangschöner Melos im Pastorale-Andante oder insistierende Gewalttätigkeit im Finale - das Klangergebnis war auf allen Ebenen überwältigend.
Dass dieses mächtige Werk gerade durch ein kleines Hörgerät gefährdet wurde, entbehrt nicht ganz der Komik. An den leisen Stellen erfüllte den Beethovensaal ein kaum zu ortendes sphärisches Fiepen, das wohl einem verzweifelten Musikenthusiasten zu verdanken war, der seinen Ohrverstärker nicht ganz in den Griff bekommen hatte ob der überdimensionierten Klanggewalt russischer Sinfonik.
Der Rest des Konzerts war nettes Beiwerk. Mit Ralph Vaughan-Williams Schauspielmusik zu Aristophanes‘ Komödie „Die Wespen“ war den Liverpoolern ein schmissiger Auftakt gelungen. Satte Bläserfarben und sämiger Streicherschmelz, Tonmalereien von sirrenden und summenden Wespenschwärmen, flotte Melodien und wirbelnder Rhythmik sorgten für gute Unterhaltung.
Mozarts eigentlich intimes Klavierkonzert Nr. 23 A-Dur spielten die Briten dann zwar nicht in der ganz großen, aber doch noch immer viel zu mächtigen Tourneebesetzung. Der Orchestersound trat deshalb nicht durch Transparenz, sondern eher durch klebrige Süße in Erscheinung. Hélène Grimaud am Klavier tat Dienst nach Vorschrift, kommunizierte wenig mit dem Orchester, verlor sich im trauernden Adagio in viel zu langsamen Tempi, die auch das Orchester zum Schleppen zwangen, und bretterte im Finale ohne Spielwitz durch die Takte, ohne auch nur einmal in die Orchesterfarben hineinzuhören.
Rezension für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 30. März 2011.
eduarda - 1. Apr, 12:19