Dienstag, 29. März 2011

Frösche im Mozartsaal

„Der verzauberte Garten“: Das Freiburger Barockorchester mit erheiternden Klängen in der Stuttgarter Liederhalle

Stuttgart - Komponiertes Fröschequaken kennen wir vor allem aus Haydns „Jahreszeiten“. Dort ist es aber nur eine einzige Amphibie, die zudem vergleichsweise dezent zu Wort kommt. Haydn, der in Sachen deftiger Tonmalereien wahrlich nicht zimperlich war, hatte gegenüber den nass-schleimigen Tierchen dann doch so seine Skrupel, vermutlich empfand er sogar Ekel vor ihnen - schließlich stehen sie ja nur in Frankreich auf der Speisekarte.

Solche Probleme kannte der barocke Meister Telemann nicht. In seinem humorigen Violinkonzert „Die Relinge“, das sich in seinem Titel auf den Pelophylax esculentus - auf Deutsch: den gemeinen Teichfrosch - bezieht, erklingen gleich ganze Kröten-Chöre. Die Streicher des Freiburger Barockorchesters, das am Samstagabend im so gut wie ausverkauften Mozartsaal der Stuttgarter Liederhalle gastierte, gaben sich den misstönenden Tierstimmenimitationen so lustvoll hin, dass das sonst so ernsthaft lauschende Publikum nicht anders konnte, als immer wieder zu lachen. Vor allem wenn deutlich hörbar wurde, dass der eine oder andere Schwimmfüßler kokett aus der Reihe tanzte - schließlich kennt die Natur ja keine Dirigenten.

Der Abend stand unter dem Motto „Der verzauberte Garten“ und war eine Art musikalische Hommage an die barocke Gartenbaukunst. In ihren prächtigen botanischen Anlagen feierten sich die Fürsten einst in rauschenden Festen und allerlei theatralischen Inszenierungen selbst, sie gaben sich dort aber auch dem einen oder anderen Schäferstündchen hin.

Es war an diesem Abend vor allem Francesco Geminianis „The Inchanted Forrest“ (Der Zauberwald), in dem die barocke Vorstellung einer architektonisch zurechtgestutzten Natur musikalisch Gestalt annahm. Tanzende Nymphen und spukende Geister wirken hier gegenüber späteren romantischen Tondichtungen doch sehr gebändigt. Nur zwei Hörner erscheinen gelegentlich wie ferne Vorboten romantischer Waldeinsamkeit.

Die vor allem tänzerisch inspirierte Musik wurde von den Freiburgern unter Leitung ihres Konzertmeisters Gottfried von der Goltz in verblüffender Farbvielfalt und mit mitreißendem rhythmischen Drive umgesetzt, so dass jeder der 18 Sätze zu einem fein gezeichneten Charakterstück avancierte. Dennoch gefielen Telemanns Werke besser, denn neben seiner Froschteich-Vertonung zeigte auch seine Streichersuite „La Bizarre“, wie witzig und frei man mit den oft so steifen barocken Tanzformen spielen kann. Nicht nur der finale Nachtigallengesang förderte ein weiteres Mal die spezifisch barocke Liebe zu Herrgotts großem Tiergarten zutage.

In Vivaldis Flötenkonzert „Del Gardellino“ zeigte Solistin Susanne Kaiser schließlich, wie genau und virtuos man auch die Stimme des Distelfinks imitieren kann, während in Händels Ouvertüre zur Oper „Il pastor fido“ Ann-Kathrin Brüggemann in ihrem lebendig intonierten, wunder­schönen Oboensolo für die Atmosphäre einer ländlichen Schäferidylle sorgte.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 28. März 2011. Das Konzert fand statt am 26. März.

Montag, 28. März 2011

Baden-Württemberg, nun freue dich!!!!!!!!!!!!!!!!

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Freitag, 25. März 2011

Innehalten und ein Zeichen setzen

Alle vier Stuttgarter Orchester erspielen 66 000 Euro für Japan

Stuttgart – Einen solchen Andrang an der Abendkasse erlebt die Stuttgarter Liederhalle bei klassischen Konzerten sonst nicht. Am Mittwochabend war in der Kassenhalle zum Beethovensaal erst einmal Warten angesagt beim rasch ausverkauften Benefizkonzert für die Opfer der Natur- und Atomkatastrophe in Japan, das vier Stuttgarter Orchester in kürzester Zeit auf die Beine gestellt haben. Organisator Max Wagner, Intendant des Stuttgarter Kammerorchesters, hatte seine Kollegen vom Staatsorchester, vom SWR-Radio-Sinfonieorchester und von den Philharmonikern sofort von seiner Idee überzeugen können.

66 292 Euro haben die vier Klangkörper am Ende für die Katastrophenhilfe in Japan erspielt. Die Einnahmen sollen dem Projekt "Second Harvest Japan" zufließen. Es stellt Essen und Saatgut für die Erdbeben- und Tsunami-Opfer vor Ort bereit. Ein Waiblinger Unternehmer, der seit Jahren in Japan lebt und arbeitet, wird persönlich den Transport der Hilfsgüter in die Katastrophengebiete begleiten.

SWR-Talkshow-Eminenz Wieland Backes lobte in seiner Konzertmoderation diese Premiere als "starkes Zeichen der Solidarität und des Mitgefühls". Viele Japaner sitzen schließlich in den Reihen hiesiger Orchester, und alle am Benefizkonzert beteiligen Klangkörper erfahren regelmäßig auf Japan-Tourneen, wie aufgeschlossen und begeistert das dortige Publikum der europäischen Kunstmusik gegenübersteht.

Um die Sprachlosigkeit gegenüber dieser Tragödie apokalyptischen Ausmaßes zu überwinden, darin waren sich die Intendanten einig, könne die Musik einen ganz eigenen Beitrag jenseits der von der Atomkatastrophe entfachten tagespolitischen Debatten leisten. Gar nicht gut kam denn auch im Publikum die Ansprache von Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, dem Schirmherrn der Veranstaltung, an, der bei dieser Gelegenheit rasch noch die Abschaltung des AKWs Neckarwestheim loben zu müssen glaubte und dafür Buh-Rufe erhielt.

Den Konzertauftakt machten die Stuttgarter Philharmoniker mit Schuberts "Unvollendeter". Unter der Leitung von Stefan Vladar sorgten sie für düstere Dramatik und sich immer wieder verdunkelnde Stimmungsumschwünge. Das Stuttgarter Staatsorchester, das als Kammermusikensemble auftrat, weil parallel die Ballettaufführung im Staatstheater zu stemmen war, hatte mit Erwin Schulhoffs Streichsextett von 1924 ein hochexpressives Werk zum Thema Tod ausgesucht: Mal mit grellen, mal mit fahl-vibrierenden Farben bis hin zu kaum hörbaren Schraffuren erspielten sich die sechs Streicher mit hochgespannter Ausdruckskraft eine am Ende äußerst beklemmende Stille. Das Stuttgarter Kammerorchester interpretierte anschließend Sätze aus Mendelssohns Jugendsinfonie Nr. 10 und Mozarts Cassation Nr. 1 mit ungewöhnlicher, aber dem Anlass angemessener Verhaltenheit. Und Wolfram Christ am Dirigierpult verlieh als Solist in Paul Hindemiths Trauermusik für Viola und Orchester ganz individuell formuliertem Leid Gestalt.

Das Radio-Sinfonieorchester in der Leitung von Andrey Boreyko überwältigte abschließend mit einer ausgesprochen packenden Interpretation der beiden letzten Sätze aus Schostakowitschs 1. Sinfonie, in denen sich die für das 20. Jahrhundert typische Ausdruckswelt von unbarmherzig in die Katastrophe führenden Steigerungen, schrillen Klangballungen und weitausholenden Trauergesängen Bahn bricht.

SWR 2 sendet heute, am Freitag, 25. März 2011, ab 13.05 Uhr einen Mitschnitt des Konzerts.

Spenden können weiterhin eingezahlt werden: Stuttgarter Kammerorchester, Stichwort "Japan", Kontonummer 8049324, BLZ 60050101 bei der BW Bank.

Informationen zum Spendenempfänger:
www.2hj.org.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute und nmz-online. Das Konzert fand statt am 23. März 2011.

Montag, 21. März 2011

Zerfranstes Universum

„Edgar vom Stern“ an der Esslinger Landesbühne

Tobias Strobel als Edgar (vorn) und Nils Hillebrand als Lukas (Foto: Pieth).

Esslingen - Edgar, der Neue, ist ganz anders als die anderen Kinder in der Klasse. Er geht nachdenklich durch die Welt, philosophiert über das Universum, hält Vorträge über dessen Zusammensetzung, wenn die Biologielehrerin eigentlich etwas über den menschlichen Körper wissen will: „Das Universum hat Fransen. Die sind nicht schön und geschwungen wie Augenwimpern. Aber auch nicht hässlich und durcheinander wie Teppichfransen“, doziert er verträumt. „Dann endet das Universum natürlich und nicht so plötzlich. Ein Ende gibt es nämlich“. Edgar liebt die Sterne und erfindet neue Sternenbilder, gibt ihnen Namen wie „Schulmädchens Auge“. Manchmal denkt er, er sei selbst von einem anderen Stern.

Mit der deutschsprachigen Erstaufführung des schwedischen Jugendstücks „Edgar vom Stern“ für Jugendliche ab 12 Jahren von Isa Schöier ist der Jungen WLB eine bemerkenswert einfühlsame und poetische Produktion übers Anderssein, über die damit zusammenhängende Einsamkeit, über das pubertäre Gefühlskarussell und vor allem über die Freundschaft gelungen.

Denn mit Edgars Vorlieben können sowohl die Lehrerin als auch die Klasse nichts anfangen. Edgar wird schnell zum Außenseiter und Mobbingopfer. Und Lukas, der notorische Zuspätkommer und Streithahn, macht da, obwohl selbst wegen seiner geringen Größe und seiner Herkunft aus armen Verhältnissen ausgegrenzt, ordentlich mit. Gleichwohl entwickelt sich zwischen den beiden Jungen bald eine zarte Freundschaft. Aber Lukas versteht Edgar einfach nicht. Das Universum sei bloß ein Haufen schwarzer Löcher, sagt er, und nennt Edgar abfällig einen „Sternenjungen“. Und dann ist da noch Nadja, die Star-Basketballerin aus der Parallelklasse, in die sich Lukas verliebt. Obwohl Lukas als nerviger Mädchenanmacher verschrien ist, sagt Nadja Ja, als Lukas sie fragt, ob sie mit ihm gehen wolle. Aber dann weiß Lukas nicht mehr weiter. Was macht man bloß mit so einem Mädchen, wenn man mit ihm geht? Worüber spricht man? Als Lukas erfährt, dass Nadja Edgars Schwester ist, versucht er‘s über das Thema Universum. Aber da hat er bei Nadja schlechte Karten. Sie hasst nämlich das Universum. Und „besondere“ Menschen wie Edgar gehen ihr tierisch auf den Senkel.

Die Geschichte dieser emotional aufgeladenen Dreiecksbeziehung erzählt Regisseur Marco Süß in seiner Inszenierung so unterhaltsam wie abwechslungsreich. Die Ausstatterin Katrin Busching hat die Darsteller in schuluniformartige blaue Anzüge gesteckt. Die wandlungsfähige Bühne lässt sich sternenförmig ausklappen und vielseitig bespielen, drinnen ist das Schulzimmer mit Bänken und Tafel. Immer wieder wird das Geschehen mit Tanz- und Slapstickeinlagen garniert, die die Gefühlsverwirrungen der Protagonisten lustig visualisieren. Das dreiköpfige Ensemble spielt die Sechsklässler überzeugend. Tobias Strobel als ungeheuer intensiv agierenden, verträumten Edgar muss man einfach mögen. Sabine Christiane Dotzer verkörpert die selbstbewusste, schlagfertige Nadja jugendlich-authentisch. Und Nils Hillebrand als Lukas hat die Lacher immer wieder auf seiner Seite, wenn er den Satz „Es war so kalt, dass man Eiswürfel pinkeln konnte“ pantomimisch und geräuschintensiv veranschaulicht. Packend, wie sein ungeschicktes Draufgängertum am Ende in Selbstzweifel mündet.

Nachdem Lukas Edgar zu Unrecht des Diebstahls beschuldigt hat, macht er sich furchtbare Sorgen, sucht voller Angst nach seinem verschwundenen Freund und findet ihn schließlich auf dem Schuldach: frierend, verzweifelt und verstört. Da legt Lukas ihm seinen Mantel um und nimmt ihn einfach bei der Hand.

Offensichtlich konnten die Jugendlichen, die der Premiere in der Studiobühne am Zollberg beiwohnten, eine Menge anfangen mit „Edgar vom Stern“ und seiner Botschaft, dass Freundschaft eben nicht nur zum Zeitvertreib da ist, sondern auch bedingungsloses Vertrauen, Fürsorge und Loyalität einfordert - fernab aller Überlegenheitsrituale. Während der gesamten 80-minütigen, pausenlosen Aufführung herrschte gespannte Konzentration. Und auch die Erwachsenen dürften neue Erkenntnisse gewonnen haben. In Sachen Freundschaft lernt ja niemand aus.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Premiere war am 18. März 2011.

Samstag, 19. März 2011

Zerfetzte Utopien

Eliam Kraiems Drama „Sechzehn Verletzte“ mit Ilja Richter im Alten Schauspielhaus Stuttgart

Zwei Biografien, zwei Kulturen: Ilja Richter (links) und Nadim Jarrar (Foto: Haymann, Quelle: Schauspielbühnen Stuttgart)

Stuttgart - Die Idee, dass alle Reli­gionen gleichwertig seien und jeder den Wert seiner Religion durch praktisches Tun ohne Vorurteile erweisen müsse, ist bis heute Utopie geblieben. Lessing hat sie 1779 zum Gegenstand seiner berühmten Ringparabel gemacht, die er dem weisen Nathan in den Mund legte, als der nach einer Antwort suchte auf die Frage, welche der Religionen er für die wahre halte.

Der jüdische Bäcker Hans, der im Mittelpunkt des Dramas „Sechzehn Verletzte“ von Eliam Kraiem steht, das jetzt im Stuttgarter Alten Schauspielhaus in einer Inszenierung von Ulf Dietrich Premiere hatte, hat auch kluge Antworten parat: Als ihm der junge Palästinenser Mahmoud ein hasserfülltes „Du bist Jude!“ an den Kopf wirft, antwortet er lakonisch: „Ich bin Bäcker. Sonst nichts.“

Elementare Unterbrechung

„Sechzehn Verletzte“ spielt in den 1990er-Jahren in einer kleinen Bäckerei in Amsterdam, in der die Zeit stehengeblieben scheint (Ausstattung: Konrad Kulke). Hierher hat sich der 60-jährige Hans zurückgezogen. Seine einzigen Kontakte zur Außenwelt sind seine junge Gehilfin Nora und die Hure Sonja (in schickem Outfit: Barbara von Münchhausen), die immer wieder sonntags vorbeischaut. Sein Freizeitvertreib: Fußballgucken und Backgammon gegen sich selbst spielen. Doch eines Nachts wird ein junger Mann auf der Flucht vor Hooligans durch das Schaufenster seines Geschäfts katapultiert. Es ist der junge Palästinenser Mahmoud, der ihn bittet, die Polizei nicht zu verständigen. Hans versorgt den Verletzten und nimmt ihn als Gehilfen bei sich auf. Es entwickelt sich eine beidseitige Zuneigung. Mahmoud akzeptiert Hans' jüdische Herkunft, und Hans findet sich bei aller Abscheu gegen die Tat auch mit Mahmouds furchtbarer Wahrheit ab: Der ist in Amsterdam untergetaucht, weil er in Israel bei einem Bombenattentat mehrere Menschen getötet hat. Schuldgefühle hat Mahmoud keine, er sieht sich als Opfer israelischen Staatsterrors: Seine Familie wurde enteignet, seine Freunde sitzen im Gefängnis, sein Vater wurde von israelischen Soldaten erschossen.

Es scheint so, als fände die alte Toleranzidee der Aufklärung in dieser Freundschaft ihre Verwirklichung. Mahmoud verliebt sich zudem in Hans' Gehilfin Nora (erfrischend und ganz von dieser Welt: Birte Wentzek). Die beiden werden ein Paar, und bald wird Nora schwanger. Normalität, das Glück in der Familie, in der auch Hans seinen Platz finden soll, scheint greifbar nahe. Doch da erscheint Mahmouds Bruder Ashraf (Pano Karas), erinnert Mahmoud an seine kämpferischen Pflichten als Palästinenser, berichtet, ihre Mutter sei von Israelis zu Tode gefoltert worden. Da flammt der alte Hass wieder auf. Am Ende entscheidet sich Mahmoud gegen den Neuanfang.

Die Rolle des jüdischen Bäckers ist prominent und trefflich besetzt mit Ilja Richter. Er spielt den alten Mann als liebenswürdigen, gütigen, etwas verschrobenen, zuweilen aber auch sehr wütenden und verzweifelten Menschenfreund - immer mit feinem Humor und Sensibilität. Sehr glaubwürdig verkörpert Nadim Jarrar den jugendlichen Terroristen: Hin- und hergeworfen zwischen Macho-Gehabe, tiefer Verletzlichkeit, Verzweiflung, Zärtlichkeit, Hass und Liebe und natürlich Überforderung und Selbstüberschätzung. Das Stück lebt von der Gegenüberstellung dieser beiden so konträren Charaktere.

Ulf Dietrichs aufwühlende Inszenierung, in der lediglich die zu exal­tierten Elektrosound-Zwischenmusiken von Sebastian Bartmann ein wenig stören, erlebt ihren Höhepunkt in der finalen Auseinandersetzung der beiden Männer über die Gründe des je eigenen Verhaltens. Nachdem Hans bemerkt hat, dass sein junger Freund an einer Bombe baut, tun beide etwas, was in der Rea­lität wohl die Ausnahme bliebe: Sie reden miteinander. Hans, der Wortgewandte, der sich aus der Welt längst verabschiedet hat, schafft es zunächst, Mahmoud von der Sinnlosigkeit seines Tuns zu überzeugen. Mahmoud erfährt, dass Hans ein Überlebender des Holocausts ist, in Amsterdam unter falschem Namen lebt, um zu vergessen. Hans' Selbstverleugnung und Passivität - er bezeichnet sich selbst als „Gespenst in dieser Pfefferkuchenbäckerei“ - ist für den Palästinenser nicht nachvollziehbar. Keiner von beiden kann sich letztlich von seiner Vergangenheit befreien. Das Drama endet dementsprechend deprimierend: Da wird die kleine, weltferne Bäckerei von einer Detonation erschüttert. In der nahegelegenen Synagoge hat sich Mahmoud in die Luft gesprengt. Bilanz: 9 Tote, 16 Verletzte.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Premiere war am 17. März 2011.

Dienstag, 15. März 2011

Die gemeinen Spiele der Liebe

Laura Tetzlaffs starke Inszenierung von Fassbinders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ am Stuttgarter Staatsschauspiel

Marietta Meguid als Petra von Kant (Foto: Gläsker, Quelle: Staatstheater Stuttgart).

Stuttgart - Diese Inszenierung sollte man nicht verpassen. Rainer Werner Fassbinders Drama „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“, das jetzt in der Spielstätte Nord des Stuttgarter Staatstheaters Premiere hatte, ist eine in jeder Hinsicht durchkomponierte, bis ins Detail liebevoll umgesetzte Produktion, an der einfach alles zu loben ist: die Darstellerinnen, die Regie, der Ausstatter und der Einsatz von Musik.

Emotionale Eiszeit

Fassbinders Beziehungsdrama, das von der Liebe und ihren Macht-, Abhängigkeits- und Unterwerfungsstrukturen handelt, spielt in asiatischer Formenstrenge (Ausstattung: Gwendolyn Bahr): ein Raum wie eine kleine Kampfsporthalle, umrahmt von papierenen Schiebetüren, auf die große Sumo-Ringer gemalt sind. Möbel gibt es keine. Hier lebt Petra von Kant, die reiche, berühmte Modeschöpferin, zusammen mit ihrer Bediensteten Marlene. Die treu Ergebene kocht Kaffee und putzt, zieht ihre Herrin an und aus, schminkt sie, schreibt Briefe und ordnet die Kleiderkammer. Dafür erhält sie gelegentlich eine unterkühlte Umarmung, ansonsten Befehle und Beschimpfungen. Es herrscht emotionale Eiszeit zwischen beiden. Gesten und Bewegungen sind ritualisiert, von Kants Sprache artifiziell, uneigentlich. Die Dienerin bleibt stets stumm.

Sie verzieht auch keine Miene, als von Kants Freundin Sidonie von Grasenabb das junge Model Karin Thimm mitbringt, in die sich die Modefrau Hals über Kopf verliebt. Beim ersten Date steht von Kant zunächst auf der Galerie, schaut auf Karin hinab, als sei's ein interessantes Tier. Doch das Blatt wendet sich bald. Karin, berechnend, kühl und jugendlich überheblich (wunderbar: Sarah Sophia Meyer), zieht zwar sofort ein, wird der Beziehung jedoch bald überdrüssig und quält die Geliebte genießerisch mit Berichten über Affären und wilde Liebenächte. Jetzt bettelt von Kant um Liebe und Zuwendung. Doch Karin verlässt Petra.

Aus ist es mit der Selbstbeherrschung

Aus ist es mit der Selbstbeherrschung, der Wahrung der Form. Emotionen brechen sich Bahn. Phänomenal, wie sich Marietta Meguid alias Petra von Kant jetzt in das Gefühlskarussell stürzt, überwältigt von der Gleichzeitigkeit der Emotionen, die über sie hereinbrechen. Eine perfekte Studie über die darstellerische Gefühlspalette unglücklicher Liebe, in rasant wechselnden Tonfällen dargeboten: Hass und Liebe aufs Objekt, Hilflosigkeit, Selbstmitleid, kindischer Trotz, Verzweiflung, Selbsthass. Cholerisch zertritt sie schließlich die Geburtstagstorte, knallt Cocktailgläser an die Wand, beschimpft Tochter, Mutter und Freundin, die sie besuchen. Am Ende dann die Einsicht: „Man muss lernen zu lieben, ohne zu fordern.“ Von Kant bittet die Dienerin um Verzeihung für die Erniedrigungen. Doch Marlene verlässt ihre Herrin ohne ein Wort des Abschieds.

Regisseurin Laura Tetzlaff nutzt den leeren Raum für die Inszenierung von Nähe und Distanz. Selbst oberflächliche Berührungen wirken stark. Räumliche Entfernung steht für das innere Verhältnis zueinander, für emotionale Kälte und für Einsamkeit. Die Szenen werden eingerahmt von streng choreografierten Aufräumarbeiten der stummen Dienerin: Zu quirlig rhythmisierter Jazzmusik läuft sie Diagonalen ab. Immer dieselben. Fast manisch.

Getaktet ist der kurzweilige Abend durch subtile, pointierte Komik. Übertrieben gezeichnete Charaktere wie die Baronin von Grasenabb (authentisch: Anne Cathrin Buhtz), die wie ein flatternder Flamingo von der rasenden Modeschöpferin aus der Wohnung gejagt wird, oder die mit sprichwortartigen Ratschlägen nervende Mutter (schön überzogen: Gabriele Hintermaier), die eigentlich vom Geld der Tochter lebt, stehen den „natürlich“ agierenden Figuren Karin und Tochter Gabriele (sympathisch: Hanna Franck) gegenüber. Komische Akzente setzt immer wieder die allgegenwärtige stumme Dienerin (brillant: Silja Bächli), wenn sie etwa auf den Befehl von Kants „Musik, Marlene!“ einen kurzen Blick nach oben wirft und dann der Song „Wicked game“ von Chris Isaak erklingt, in einem neuen Arrangement gesungen von Silja Bächli (Musik: Murat Parlak). „Was für Gemeinheiten du tust, um mich von dir träumen zu lassen“, heißt es darin. Es ist einer der unzähligen kleinen genialen Details, die diese Inszenierung so sehenswert machen: Dass Marlene, die bis dahin den Mund nicht aufgemacht hat, genau diesen Song dann live singt, während sie Petra von Kant für immer verlässt - durch den Schlitz in der Schiebetür, den die Rasende zuvor mit dem Messer gerissen hat.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Premiere war am 12. März 2011.

Montag, 14. März 2011

Musikalische Apokalypse

Stuttgarter Staatsorchester mit Bruckners Achter

Stuttgart - Es ist die Qualität bedeutender sinfonischer Werke, dass sie in der Lage sind, große Menschheitsfragen zu behandeln, ohne konkret werden zu müssen. Mit abstrakt-musikalischen Mitteln wirken sie suggestiv auf die Gefühlswelt der Zuhörer ein. Dort sprechen sie ganz zeitlos von Gewalt, Trauer und Leid, von Utopien und vom Glück, von individuellen und kollektiven Emotionen und auch von Größenwahn und jenen Geistern, die man rief. Und so lässt sich vieles von dem, was die Menschen aktuell erschüttert, direkt in das Gehörte übertragen. Vorausgesetzt die Aufführung gelingt dementsprechend perfekt.

Die ausufernden Dimensionen, mit denen sich spätromantische Komponisten die Welt erschlossen, zielen sogar auf direkte Überwältigung. Bruckners Achte Sinfonie, die gestern Morgen im vollbesetzten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle vom Staatsorchester in der Leitung seines Chefdirigenten Manfred Honeck zur Aufführung gebracht wurde, ist ein solches Werk, und sie wird nicht ohne Grund gelegentlich als die „Apokalyptische“ bezeichnet. Ihre suggestive Kraft, die Honeck und das Staatsorchester aufwühlend und mitreißend zur Entfaltung brachten, leitete die Gedanken deshalb fast zwangsweise nach Japan, wo sich eine kaum vorstellbare Nuklearkatastrophe anbahnt.

Durch unheilverkündende, finstere Blechbläserblöcke, knisternde Flächen aus nervösen Bläserpulsen und Streichertremoli wurde die Ruhe vor dem Sturm beschworen. Aus manisch vorantreibenden rhythmisch-metrischen Mustern bauen sich unaufhaltsame klangliche Steigerungswellen auf. Auf ungeheure Kulminationspunkte folgt immer wieder tödliche Stille, unendlich trauernde Gesänge durchziehen den dritten Satz.

Der große Spannungsbogen von 85 Minuten, den Bruckners Achte einfordert, blieb immer straff, und das Orchester aus weit über 100 Musizierenden arbeitete präzise und vorausschauend an der gemeinsamen Idee. Und weil Honeck jedes Pathos vermied und an den melodieseligen Stellen nicht zum Schwelgen anhielt, sondern auf utopisches Sehnen à la Mahler setzte, gelang an diesem Morgen eben jener interpretatorische Glücksfall: dass sich in Bruckners Achter auch unsere Zeit widerspiegeln konnte.

Rezension für die Eßlinger Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten von heute.

Dienstag, 1. März 2011

Uneingetrübte Chorromantik

Clytus Gottwald interpretiert Mahler

Stuttgart - Es war irritierend, Gustav Mahlers musikalisches Psychogramm „Die zwei blauen Augen“ aus den „Liedern eines fahrenden Gesellen“ plötzlich so neutral, so unschuldig, so romantisch zu hören: ohne die reflektierende und analysierende Orchestersprache, die den unverwechselbaren, suggestiven und rätselhaften Mahler-Ton ausmacht. Den vermisste man in fast allen Bearbeitungen von Mahler-Liedern für Chor a cappella, die das SWR-Vokalensemble in der Stuttgarter Gaisburgkirche als Beitrag zum 100. Todestag des Komponisten zur Aufführung brachte.

Eingerichtet hat sie der Stuttgarter Komponist Clytus Gottwald in den Jahren 2008/09. Seine ganz eigene musikalische Handschrift übertünchte dabei die krassen Gegensätze, die die Mahler-Welt vereint, verwandelte diese in eine eher Brahms'sche klangschöne, uneingetrübte Chorromantik, die freilich durch die zeitgemäße Auffächerung in bis zu 16 Stimmen modernisiert erscheint.

Was in Gottwalds Transkriptionen von Schubert-, Schumann- und Wagner-Liedern für Chor seinen ganz eigenen Reiz entwickelt, weil Gottwalds schwebende, schillernd vibrierende Klangwelt deren Sprachen entgegenkommt, nimmt Mahlers Gedichtvertonungen eher ihre typische Expressivität - vor allem wenn es sich um Lieder wie das „Urlicht“, „Es sungen drei Engel“ oder „Wo die schönen Trompeten blasen“ handelt. Dort löst sich die Stimmenvielfalt des Orchesters durch die klangliche Vereinheitlichung im Chor in schönes Wohlgefallen auf. Und die Umarbeitung des berühmten Adagiettos aus Mahlers Fünfter für 16 Stimmen überträgt die dortige Dominanz der Streicher und den fließenden Gestus des Satzes durchaus angemessen, aber die inhaltliche Auffütterung der eigentlich wortlosen Musik mit dem Eichendorff-Gedicht „Im Abendrot“ befremdet dann doch mehr, als sie dem Stück gut tut.

Mahlers Wunderhorn-Lied „Scheiden und Meiden“ und „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ auf einen Text von Friedrich Rückert mögen sich Gottwalds Eingriffen da schon eher fügen. Besonders letzteres, eine ältere Bearbeitung, überträgt den entrückten, zerbrechlichen, weltenfernen Klangkosmos absolut überzeugend ins rein Chorische. Interessant war es allemal, Gottwalds Mahler-Interpretationen zu folgen, die in der Mitte des Konzerts durch drei Transkriptionen von Liedern der Mahler-Gattin Alma ergänzt wurden - zumal das Vokalensemble unter Leitung ihres künstlerischen Leiters Marcus Creed trotz hohen Krankenstands zu beeindruckender Klangschönheit und -reinheit fand, wenn auch gelegentlich die eine oder andere Einzelstimme etwas zu deutlich zu hören war.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 1.3.2011. Das Konzert fand statt am 26.3.

Montag, 28. Februar 2011

Mein Lieblingsspruch zum Thema Guttenplag

Endlich Sprachregelung gefunden!

"Karl-Theodor zu Guttenberg hat gar keine Doktorarbeit geschrieben, sondern nur einen doktorarbeitsähnlichen Text."*

*www.titanic-magazin.de
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Sonntag, 27. Februar 2011

Virtuose im Hamsterrad

Das RSO mit der Dirigentin Xian Zhang und dem Trompeter Sergei Nakariakov in der Stuttgarter Liederhalle

Stuttgart - Humor steht in der deutschen Neue-Musik-Szene nicht gerade auf der Tagesordnung. Der Komponist Jörg Widmann, ein Star dieser Szene, hat ihn aber. Dass er genau zu wissen scheint, wie man sein Publikum packt, ohne deshalb Mainstream produzieren zu müssen, mag auch an der Tatsache liegen, dass er es als Musiker sehr gut kennt: Er steht selbst regelmäßig als Klarinettist auf der Bühne.

Im jüngsten Abo-Konzert des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR (RSO) entfachte sein 2002 komponiertes „ad absurdum“, ein Konzertstück für Trompete und kleines Orchester, jedenfalls Begeisterungsstürme. Das Auditorium im voll besetzten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle tobte.

Natürlich lag das nicht nur am Stück, sondern vor allem auch am Solisten, dem smarten russischen Trompeter Sergei Nakariakov, der sich als Widmungsträger des Werks für dessen Verbreitung in der ganzen Welt verantwortlich zeigt. Denn wer sonst soll sie auch spielen, diese zwar ungemein unterhaltsame, aber barbarisch schwere Virtuosennummer: ein auskomponiertes Solistenmartyrium, das selbst Teufelstrompeter an die Grenzen ihrer Möglichkeiten katapultiert. Doppelzungen-Kanonaden im pausenlosen Sechzehntel-Puls gilt es zu bewältigen. Ohne ständige Zirkularatmung, die für die gleichmäßige Reihung der rasend schnellen Staccato-Töne nötig ist, wäre das nicht zu schaffen. Nakariakov gelingt das souverän, mit einer verblüffenden Leichtigkeit.

Das Orchester, nicht minder gefordert, reagiert mal hitzig disputierend, mal plappernd, mal imitierend auf das seltsame Trommelfeuer des Solisten, der im Hamsterrad einer „ad absurdum“ geführten, weil ziel- und orientierungslosen, ja zwanghaft ausgeführten Virtuosität gefangen scheint. Eine Pause erfährt dieser Wahnsinn nur in kurzen, aggressiven Paukensoli - um dann atemlos weiterzurasen.

Scheitern ironisch mitkomponiert


Das Radio-Sinfonieorchester unter der zupackenden Leitung der chinesischen Dirigentin Xian Zhang glitt durch diese im Zeitraffer organisierte musikalische Berg- und Talfahrt mit grandioser Sicherheit. Das Scheitern hat Widmann darin ironisch gebrochen mitkomponiert: Der Solist erliegt den Anforderungen. Er haucht am Ende sein Leben aus auf zwei farblosen, trockenen Tieftönen: zu Tode gehetzt von der Drehorgel, die das groteske Spiel auf die Spitze treibt durch unbarmherzig schnelle, in sich kreisende Tonbewegungen.

Das spektakuläre Ereignis wurde flankiert von zwei extrem gegensätzlichen Werken. In Ravels klangschwelgender „Ma mère l‘oye“-Orchestersuite - Vertonungen der gleichnamigen Märchensammlung von Charles Perrault - bewies die Dirigentin Xian Zhang ihr ausgesprochen feines Gespür für Klangfarben und für einen effektvollen wie spannungsgeladenen musikalischen Erzählton. Bezaubernd, wie das RSO Dornröschens Erwachen, den Übergang vom Traum zur Realität, hier plastisch fühlbar machte, wie delikat und saftig sich die asiatische Klangwelt der Kaiserin der Pagoden zu entfalten vermochte.

Und Strawinskys Skandalwerk „Le sacre du Printemps“, das die krass gegensätzlichen Schilderungen eines naturhaften Frühlingsausbruchs und einer brutalen Vergewaltigungsszenerie in sich vereint, lebte durch eben diese genau proportionierte, im Spannungsbogen dezidiert angelegte Erzählkunst der Dirigentin. Ein ausnahmslos mitreißendes Konzert, ein prächtiges Orchester, eine tolle Dirigentin und ein himmlischer Solist. Was will am mehr?

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 28.2.2011. Das Konzert fand statt am 25.2.

Donnerstag, 24. Februar 2011

Lichtes Wesen und Trauerton

Kammerorchester des Amsterdamer Concertgebouw in der Stuttgarter Liederhalle

Stuttgart - Eine Uraufführung ist in Konzerten der Kulturgemeinschaft eine echte Rarität. Lobenswert also, dass am Dienstagabend im Beethovensaal das Cellokonzert „Trauergesänge II" von Hans-Peter Dott, Jahrgang 1952, zu hören war - auch wenn es sich dabei lediglich um die Uraufführung einer Neufassung handelte. Zu Gast war das Concertgebouw Kamerorkest aus Amsterdam, ein 1987 gegründeter Ableger des berühmten Königlichen Concertgebouw-Klangkörpers.

Unter der Leitung von Israel Yinon, der ein bisschen so aussieht wie Gérard Depardieu, bauten die Niederländer die nachtschwarze, zuweilen gebrochene und bizarr funkelnde Klangwelt der „Trauergesänge" fein schattiert und in kräftigen Licht-Dunkel-Kontrasten auf. Das war genau der richtige Farbraum für die russische Cellistin Tatjana Vassiljeva, die ihren Part mit ausdrucksstarkem, intonationssicherem Ton voll zur Entfaltung brachte. Tonale Strukturen und expressionistische Gesten, schmerzvolles Klagen und Totentanz-Rhythmen prägen dieses Work in Progress, das an die „Trauer und Leiden" erinnern will, „die der Jugoslawien-Krieg verursacht hat".

Fanden die Amsterdamer eingangs bei der 26. Sinfonie Luigi Boccherinis erst im motorisch ratternden Finale zu jenem plastisch modellierten Klangbild, das den Komponisten als einen Meister der filigranen Detailarbeit offenbart, überzeugte Schuberts fünfte Sinfonie von Anfang an: Dank schlankem, leichtem und heiterem Orchesterton kam ihr lichtes Wesen wunderbar zur Geltung.

Kurzkritik für die Stuttgarter Nachrichten vom 24.2.2011. Das Konzert fand statt am 22.2.

Mittwoch, 23. Februar 2011

Showdown im Kunstverein

Die Stuttgarter Ausstellung von Michaël Borremans eröffnet mit Helmut Lachenmanns "Got Lost"

Stuttgart – Seine Gemälde umgibt Stille, Totenstille. Menschen mit starrem Blick oder geschlossenen Augen, mit leichenfahler Haut, oft auch von androgyner Gestalt, sind darauf abgebildet. Gesichter wie Totenmasken, Körper ohne jene beseelte Aura, die die Lebenden umhüllt. Die am Wochenende im Württembergischen Kunstverein eröffnete Ausstellung mit Zeichnungen, Filmarbeiten und Malereien des belgischen Künstlers Michaël Borremans zeigt entrückte Wesen: ohne Bezug zu anderen Menschen, einsam, kommunikationslos, gefangen in surrealen, paradoxen oder ironisch gebrochenen Situationen. Ein Mann, der konzentriert nur seine Hand anblickt. Eine Frau ohne Unterleib, den Rücken zum Betrachter gedreht. Eine halbnackte Frau, die mit geschlossenen Augen an einer Wand steht und deren Körper scheinbar nur dadurch gerade gehalten wird, dass ihr Haarzopf an einem Seil hochgezogen wird. Der Eindruck einer Erhängten drängt sich auf, obwohl nichts auf dem Bild auf einen Suizid hindeutet. Wohl das überwältigendste, ungewöhnlichste Gemälde dieser Ausstellung.

Und weil die Bilder von solcher Lautlosigkeit, von solcher bedrückenden Bewegungslosigkeit sind, ist es umso erstaunlicher, dass die Staatsoper Stuttgart zusammen mit dem Kunstverein auf die Idee kam, gerade diese Ausstellung mit Musik zu füllen. In einem Spezial ihrer Reihe "Zeitoper" führte sie jetzt mitten in der Bilderschau Borremans' Helmut Lachenmanns sich exaltiert gebärdendes, sich unbändig an der Vielseitigkeit der menschlichen Stimme erfreuendes "Got lost" von 2007/08 auf. Das 25-Minuten-Stück, das sich mit seiner Besetzung für Klavier und Singstimme in die Tradition des Kunstliedes einreiht, war damit erstmals in einer szenischen Aufführung zu sehen. Xavier Zuber, Musikdramaturg der Staatsoper, hat Regie geführt, freilich in Kooperation mit dem Künstler, der die Kostüme für den Pianisten und die Sängerin sowie die drei Statisten beisteuerte: Alle tragen die gleichen grauen Anzüge mit Westernapplikationen, dazu Westernhüte und -stiefel.

In "Got lost" lässt Lachenmann die Sopranistin verspielt mit drei sehr gegensätzlichen Texten jonglieren: Einer Zettel-Botschaft im Aufzug eines Berliner Hauses, Nietzsches "Wanderer" und einem Text von Fernando Pessoa, in dem es um die Lächerlichkeit von Liebesbriefen geht. Viel ist davon nicht zu verstehen. Vielmehr werden die Worte zerlegt, bedient sich die Sängerin fröhlich der unterschiedlichsten Artikulationsarten: Da wird gezischt, auf die Wangen geklopft, gehechelt, da wechselt gutturales Girren mit ariosen Tremoli in höchster Höhe. Das Klavier kontrapunktiert die vokalen Eskapaden mal durch feine Farbtupfer, mal durch wild Virtuoses.

Man kann das leicht und heiter aufführen, denn es gibt opernparodistische Momente, viele ironische Brechungen in diesem Stück. Man kann aber den mehrdeutigen Titel auch sehr ernst nehmen und eine Tragödie der Sprachlosigkeit daraus machen. "Got lost" bezieht sich einerseits auf den Satz "Heute ging mein Wäschekorb verloren" – der höflichen Aufforderung eines Menschen an seine Mitmieter, das geklaute Transportmittel für schmutzige oder gereinigte Kleidung wieder herauszurücken –, andererseits darf man auch ein "gottlos" darin lesen. Dann erhalten die einsamen Rufe, die die Sängerin in den Korpus des Flügels richtet und die nur durch ein Echo beantwortet werden, mystische Qualitäten. Was den Bezug zur Ausstellung rechtfertigt: Gottesferne ist in den Exponaten selbstredend omnipräsent.

Die Bilderwelt Borremans' spiegelt sich dann auch eindrücklich in der Inszenierung wider: In der Androgynität der Protagonisten genauso wie in den hölzernen Gesten, den maskenhaften Gesichtszügen oder der Bewegungslosigkeit der drei Statisten. Auch im Antlitz der Sopranistin, deren Augen mit fleischfarbenem, transparentem Pflaster verdeckt sind – eine Reminiszenz an das Bild einer augenlosen, wächsernen Ente. Und das Spiel mit künstlichen Bärten nimmt gar Bezug auf den Titel der Ausstellung: "Eating the beard" (den Bart essen).

Xavier Zuber hat "Got lost" aber auch überzeugend als Beziehungstragödie inszeniert: Der Mann am Klavier (virtuos: Stefan Schreiber) und die Sopranistin (mitreißend: Yuko Kakuta) liefern sich zwischen Europaletten, die sich um den Flügel stapeln, ein musikalisches Duell ohne Gleichen, an dessen Ende die Frau – die zuvor noch ausgiebig zu Steinen gegriffen hatte – alle Viere von sich streckt.

Bericht für die Eßlinger Zeitung vom 23.2.2011 und nmz-online. Premiere war am 20.2.

Donnerstag, 17. Februar 2011

Trauer, Rache, Wahn

Massimo Carlottos Krimi "Die dunkle Unermesslichkeit des Todes" am Stuttgarter Staatstheater

Jens Winterstein als Silvano Contin in "Die dunkle Unermesslichkeit des Todes" (Foto: Dreher)

Stuttgart - Die Romanisierung der deutschen Bühnen ist nicht aufzuhalten. Fallada hier, Gontscharow dort. Überall keimen und sprießen sie auf den Brettern, die die Welt bedeuten: die Dramaturgen-Adaptionen berühmter Prosawerke, ob alt oder neu, ob Hochliteratur oder leichte Kost. Als hätte die heutige Autorengeneration das Dramenschreiben verlernt. Am Stuttgarter Staatstheater gibt's jetzt sogar einen Bestseller-Krimi aus Italien zu sehen.

Der Titel ist immerhin gut: "Die dunkle Unermesslichkeit des Todes" von Massimo Carlotto. Seine Thematik ist brennend aktuell in Zeiten, da Kindesmörder vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Klage erheben können, weil ihnen im Verhör Prügel angedroht wurde – während die Namen ihrer Opfer schnell in Vergessenheit geraten. Es geht in Carlottos Roman um die Banalität des Bösen und die Folgen eines Gewaltverbrechens sowohl für die Täter als auch für das Opfer. Um die Fragen nach dem Recht auf Begnadigung und Resozialisierung und warum der Staat sich um die Täter kümmert, die Opfer aber in ihrem unermesslichen Leid alleine lässt.

Gnadengesuch und Rachedurst

Bei einem Raubüberfall wurden eine Mutter und ihr Kind erschossen. Raffaello Beggiato wurde gefasst und zu lebenslanger Haft verurteilt, sein Komplize entkam mit der Beute. Die eigentliche Handlung beginnt 15 Jahre später: Der Inhaftierte ist unheilbar an Krebs erkrankt und versucht nun, Silvano Contin, den Mann der Ermordeten, dazu zu bewegen, ein Gnadengesuch für ihn zu stellen. Contin unterschreibt, aber nur wegen der Chance auf Rache. Vergeben kann er nicht, leben schon lange nicht mehr. Das Opfer wird zum Täter: Contin erfährt den Namen und den Wohnort des verschwundenen Komplizen, setzt ihn und seine Frau unter Druck und tötet schließlich beide in einem Gewaltexzess. Beggiato, endlich frei, erkennt, dass er von Contin hereingelegt wurde, und gibt auf. Er nimmt Contins Morde auf sich, geht zurück ins Gefängnis, wo er bald stirbt. Contin flieht ins Ausland.

Einsicht in ihr Verhalten, Schuldeingeständnisse, sind von beiden nicht zu erwarten. Weder Beggiato noch Contin fühlen sich für ihr Morden verantwortlich. Als Beggiato dem Kontrahenten mitteilt, er selbst sei der Mörder seiner Familie, Contins Rache habe also die Falschen getroffen, bleibt dieser emotional völlig unberührt.

Vereinzelte Skandierer

Im neuen Probenzentrum Nord am Löwentor hat man das intime Foyer als Spielort für Carlottos düsteren Krimi gewählt: Einen engen Raum mit Betonwänden, in dem etwa 50 Zuschauer Platz haben, links die Bar, rechts die Fensterfront, in der Mitte eine Mini-Spielfläche. Kein schlechter Ort für den theatralen Blick in menschliche Abgründe. Doch die Umarbeitung der Prosa in 70 Minuten Drama will nicht funktionieren.

Das liegt nicht an den Darstellern, die sich redlich bemühen, das dramatische Potential aus dem Erzählten herauszuholen. Regisseurin Catja Baumann, die den Roman zusammen mit der Dramaturgin Beate Seidel fürs Theater bearbeitet hat, stellt das vierköpfige Ensemble aber meist frontal zum Publikum, lässt es vereinzelt skandieren, rezitieren, sprechen – ob nun Contin detailliert seine Morde schildert, Kommissar Valiani (Boris Burgstaller) Anklage gegen Beggiato erhebt oder die Prostituierte Giorgia (Katharina Ortmayr), Beggiatos Geliebte, sich bückt, um sich auch von Contin besteigen zu lassen.

Stille, die tief trifft

Ensemblespiel: Fehlanzeige. Fast nichts lenkt ab von der Sprache. Aber Carlottos Sprache erträgt die völlige Nacktheit auf der Bühne nicht. Sie verrät schnell ihre Oberflächlichkeit. "Samstags betrinke ich mich. Mir genügt der Wein im Karton", sagt Contin, "der Geruch des Leichenschauhauses hat sich auf meinen Gaumen gelegt. Dann setze ich mir die Kopfhörer auf, um meine Nachbarn nicht zu stören, und höre Musik von den Pooh. Die hat Clara geliebt". Solch platte Bilder haben nicht die Kraft, den immensen Schmerz zu offenbaren, der Contin in den Blutrausch treibt. Müsste Sprache hier nicht wehtun, schneiden, sezieren? Das latent Gewalttätige kann Carlottos Sprache allein nicht zu Tage fördern.

Wollte man den Roman angemessen auf die Bühne bringen, müsste man wohl auf Splatter setzen. Da fügte sich dann auch der larmoyante, uneinsichtige, prollige und dauergeile Raffaelo Beggiato (etwas zu nett: Bijan Zamani) gut ein, der mit so delikaten Sätzen wie "Fünfzehn Jahre durchgehalten für nichts und wieder nichts. Jetzt hab ich einen Doppelschwanz im Arsch. Den Krebs und Contin" zu unterhalten weiß.

Dennoch: Es gibt ihn an diesem Abend, den großen Theatermoment. Wenn Jens Winterstein als Silvano Contin sich immer mehr echauffiert über die Bevorteilung der Täter: "Nirgends steht geschrieben, dass Trost zur Strafe gehört. Trost gebührt den Opfern", brüllt er und wird immer noch lauter: "Kein Mensch hat mich irgendwann getröstet. Ich bin irre vor Schmerz. Und vor Wut." Und dann herrscht plötzlich Stille, lange Stille, jene vieldeutige Horvath'sche "Stille", die tief trifft. Da ist das Theater endlich ganz bei sich, und der Roman darin aufgehoben.

Besprechung für www.nachtkritik.de und die Eßlinger Zeitung vom 17.2.2011. Premiere war am 15.2.

Mittwoch, 16. Februar 2011

Flammenzeichen

Younghi Pagh-Paan im Komponistenporträt der Stuttgarter Konzertreihe "Musik am 13."

Die Komponistin Younghi Pagh-Paan (Foto/Quelle: www.pagh-paan.com)

Stuttgart – "Ich schreibe weder koreanische noch europäische Musik, sondern einfach meine eigene", bekennt Younghi Pagh-Paan, die seit 1974 in Deutschland lebt. Im 8. Komponistenporträt, das Kirchenkreiskantor Jörg-Hannes Hahn der 65-jährigen Südkoreanerin jetzt im Rahmen seiner ambitionierten Konzertreihe "Musik am 13." in der Stuttgarter Stadtkirche Bad Cannstatt widmete, konnte man das anhand einer kleinen, aber feinen Auswahl an Werken hörend nachvollziehen.

Kraftvoll sei ihre Musik, aber nicht wegen der Lautstärke, sondern wegen des Flusses, dem sie sich hingebe – so charakterisierte Ewald Liska in seiner Einleitung treffend die Kunst Pagh-Paans. Der These folgte auch sogleich der Beweis. Ein kraftvoller Sog ging von "Flammenzeichen" aus, einem langen Trauergesang für Frauenstimme, in dem Pagh-Paan 1983 Fragmente aus Flugblättern, Aussagen und Briefen der Widerstandsgruppe Weiße Rose vertont hat. "Flammenzeichen" setzt aber nicht auf Larmoyanz, sondern auf Stärke und Aufbegehren. Sie seien "Licht für das deutsche Volk" gewesen, sagte Pagh-Paan im Gespräch mit Ewald Liska über die jungen Widerstandskämpfer der Weißen Rose. Klagen, Anklagen, Flüstern, atemloses Skandieren sind die stimmlichen Ausdrucksmittel in "Flammenzeichen". Aber auch kleine Schlaginstrumente brachte Sopranistin Barbara Stein während ihres aufwühlenden Vortrags zum Klingen. Ein Mittel, das der koreanischen Tradition der epischen Pansori-Gesänge entstammt, in denen die Solosänger von einem Trommelspieler begleitet werden. Sie wolle koreanische Musik aber keinesfalls nachahmen, erklärte Pagh-Paan, wenngleich der "lange Atemzug der asiatischen Musik" alle ihre Kompositionen präge.

Dass ihre Musik vor allem aus einer großen emotionalen Tiefe schöpft, brachte das klangmagische "NE MA-UM" (Mein Herz) für Akkordeon solo von 1996 an den Tag, fantastisch interpretiert von Katjana Sedelmayr, die neben den virtuosen Aufgaben ebenfalls kleine Schlaginstrumente einzusetzen hatte. Dasselbe Stück erfuhr dann in der Bearbeitung "Bleibt in mir und ich in euch" von 2007 für Orgel (Jörg-Hannes Hahn) und Schlagzeug (Klaus Sebastian Dreher) eine immense räumliche Weitung. Die an- und abschwellende feine Klanglichkeit des Akkordeons wurde jetzt in ein mächtiges, sakrales Universum überführt. "Hin-Nun II/Weißer Schnee" von 2005 für sechs Vokalsolisten (Leitung: Johannes Knecht) schließlich offenbarte Pagh-Paans Affinität auch zu satter, farbig-vibrierender Vokalpolyphonie.

Besprechung für www.nmz.de. Das Konzert fand statt am 13.2.2010.

EDUARDAS UNIVERSUM

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