Mittwoch, 14. Dezember 2011

Die Liebe ist kein Zuckerschlecken

Das Stuttgarter Theater Rampe macht Georges Bizets Oper „Carmen“ zum wilden Kammerspiel

Valerie Oberhof (l.), Martin Gerke und Ulrike Schwab in Alvaro Schoecks „Carmen“-Inszenierung. (Foto: Dreher/Rampe)

Stuttgart - So wie der Stierkampf als Gemetzel zweier Geschöpfe auf Leben und Tod enden kann, so ist es auch in der Liebe. Zumindest wenn man sich den Inhalt von Georges Bizets „Carmen“-Oper vergegenwärtigt. Am Ende meuchelt der eifersüchtige Don José seine in Beziehungsfragen recht freizügige Ex-Geliebte Carmen, während sein Konkurrent Escamillo in der Arena von Sevilla einen Stier niederstreckt.

Schon der große Peter Brook hat 1981 „Carmen“ von jeglicher „Zigeuner“-Romantik, großen Chortableaus und Balletts, von Zigarettenfabrik, Taverne und Schmugglern befreit, um zum Kern des Stückes vorzustoßen - auf sein intimes Beziehungsdrama zwischen den vier Protagonisten: der unabhängigen Carmen, dem Sergeanten Don José, dem Bauernmädel Micaëla und dem Torero Escamillo. Und ganz im Sinne von Jerzy Grotowskis „Armem Theater“ verzichtete Brook dabei auf den großen Theaterapparat, verwandelte die Dreistunden-Oper in ein intimes 80-Minuten-Kammerspiel. Er tastete dabei allerdings nicht die Sphäre des Schöngesangs an.

Anarchische Freude am Experiment

80 Minuten lang ist auch die „Carmen“-Version von Alvaro Schoeck (Text) und Nadezda Tseluykina (Musik), die man jetzt im Stuttgarter Theater Rampe sehen kann. Auch sie reduziert die Personage auf die vier Hauptcharaktere. Sie geht in ihrer Freilegung des im Werk schlummernden emotionalen Realismus und in der Verstärkung der ironisierten Personencharakterisierung, die schon bei Bizet angelegt ist, allerdings so weit, dass sie das Herz dieses Kunstwerks, seine Musik, stark beschädigt. Sie tut dies wiederum mit einer derart anarchischen Freude am Experiment und so konsequent, dass man sich von dieser Inszenierung des Schweizer Regisseurs Alvaro Schoeck­ nach anfänglichem Bedenken am Ende doch überwältigen lässt - vor allem natürlich dank des ungemein vital und enthemmt agierenden Darstellerquartetts.

Schoeck lässt Carmen und Don José von zwei Schauspielern singen. Micaëla und Escamillo dagegen werden von Opernsängern dargestellt. Nadezda Tseluykina spielt den Orchesterpart am Flügel unterstützt von Saxofonist Andrej Lakisov. Der Regisseur hat seinen Sigmund Freud gelesen, für den Aggression ein Trieb war, der durch das Gleichgewicht zwischen zerstörerischem Todes- und harmonisierendem Liebestrieb in Schach gehalten wird. In der Rampe läuft er völlig aus dem Ruder. Valerie Oberhof als Carmen und Yannick Zürcher als Don José brüllen sich beständig an und gehen sich an die Gurgel. Ihre Dialoge laufen im Hamsterrad: Endlos etwa wechseln die Phrasen „Ich bin ein Mörder“ (Don José), „Ich liebe Mörder“ (Carmen), ins Absurde steigert sich auch der Streit um Carmens Kastagnetten: „Wo sind sie schon wieder, ich hasse es, wenn sie nicht daliegen, wo sie hingehören.“

Immer wieder geht die Musik unter in orgiastischem Gebrüll. Zwischen Dauerknutschen und schrillem Pfeifen auf zwei Fingern singt Oberhof die berühmte „Habanera“, als sei Carmen die Seeräuber-Jenny, während Don José sein Liebeslied einleitet mit „Schnauze halten, Ohren spitzen und zuhören“, um es dann brüchig und sehr leise zum Besten zu geben. Man kann nicht sagen, dass das Unvollkommene weniger nahegeht als die Vollversion - wenn man sich darauf einlässt. Glänzend inszeniert ist der finale Mord an Carmen: Don José ersticht sie nicht, sondern erdrückt sie in der Umarmung.

Die Bühne von Merle Vierck und Christina Schmitt gibt Einblicke in zwei ländliche Behausungen. Don Josés Reich: eine Scheune voller Orangenkisten. Martin Gerke als Torero liegt meist lethargisch auf dem Boden eines Stalls, dessen Wände Stierkämpferutensilien und ein Altärchen schmücken. Steht er auf, schauen seine Augen misstrauisch und leicht wahnsinnig in die Welt. Ein in sich Gefangener, der sich während seines Toreroliedes auf dem Boden windet, während Carmen über ihn herfällt. Ulrike Schwab alias Micaëla, die Don José nicht kriegen kann, wandelt zwischen den Paarungen herum wie ein Bote aus einer anderen Welt - in Wanderschuhen, die ein Motiv der Romantik zitieren ebenso wie die eingangs gespielte Schumann'sche „Träumerei“.

Nadezda Tseluykinas Bearbeitung zieht ihre Kraft aus der rhythmischen Gewalt der Musik, die sie gelegentlich ins völlige Chaos münden lässt. Ein großer, magischer Theatermoment ist, wenn sie am Klavier den „Dance Bohéme“ intoniert, dann wie in Trance aufsteht und sich jetzt offenbart, dass die Musik eigentlich vom Band kommt: Und sich nun zu diesem Tanz, der sich von schnippisch-koketter Flöterei langsam in die wild-peitschende Raserei steigert, ein völlig enthemmter Hüpf-Reigen ums Bühnenbild entlädt, in dem sich alle Darsteller in den verrücktesten Verkleidungen zeigen - im Baströckchen, als Tannenbaum, mit dem Teufel im Gepäck. Die Liebe ist eben ein „rebellischer Vogel“, der nicht zu zähmen ist.

Wer die Schönheit in Bizets Musik sucht, mag diese Produktion meiden. Wer die draufgängerische Lust am Experiment liebt, sollte sie auf keinen Fall verpassen.

Weitere Aufführungen: 14. bis 17. und 27. bis 30. Dezember sowie 3. bis 7. Januar 2012, jeweils 20 Uhr. Am 26. Dezember findet eine Vorstellung um 18 Uhr statt, an Silvester gibt es zwei Aufführungen (16 und 20.30 Uhr).

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 13.12.2011 und die Zeitschrift "Kultur", Premiere war am 9.12.

Samstag, 10. Dezember 2011

Meerschweinchen und Rampensau

Manuel Soubeyrand inszeniert Peter Shaffers „Amadeus“ an der Esslinger Landesbühne

Das Genie unter Beobachtung: (von links) Ulf Deutscher (Salieri), Susanne Weckerle (Lüftchen), Matthias Zajgier (Mozart), Frank Ehrhardt (Lüftchen). (Foto: WLB, Zauner)

Esslingen - Eigentlich müsste „Amadeus“, das Erfolgsstück des britischen Broadway-Autors Peter Shaffer von 1979, „Salieri“ heißen. Denn Antonio Salieri, der Wiener Hofkompositeur, der es zu Lebzeiten zu großem Ruhm und auch als Lehrer zu großer Beliebtheit brachte, ist als Erzähler des Abends nicht nur die Hauptperson, er nimmt von Anfang an subtil Einfluss auf das Publikum. Macht es zum Mitwisser am Mord am armen Mozart. Im Irrenhaus erzählt der alte Salieri seine Geschichte im Rückblick: Er, der Minderbegabte, meuchelte das Genie aus Konkurrenzneid, weil er es nicht ertragen konnte, dass jemand Melodien von so „makelloser Schönheit“ aus dem Ärmel schütteln kann. Der eigene Erfolg ist ihm nichts wert. Salieris Beichte funktioniert. Am Ende, bevor er sich umbringt, hat er jeden im Saal in der Tasche, hat sich zum „Patron aller Mittelmäßigen“ ernannt, sich dadurch gemein gemacht mit den Zuschauern - nachdem er Mozart als ein gutgläubiges, albernes, fäkalerotisierendes „Geschöpf“ bloßgestellt hat, das seine frühkindliche Analphase niemals abgeschlossen hat. Mozart habe es gar nicht verdient, von Gott mit solcher Begabung beschenkt worden zu sein.

Schon bei der Oscarpreisverleihung 1985, die die prominente Verfilmung durch Milos Forman reichlich bedachte, konnte der Salieri-Darsteller F. Murray Abraham von seiner Fieslingsrolle profitieren: Er bekam den Oscar als bester Hauptdarsteller, nicht etwa der süße Sympathieträger Tom Hulce alias Mozart.

Wie der Film, so unterstreicht auch Manuel Soubeyrands Inszenierung des „Amadeus“, die jetzt an der Esslinger Landesbühne Premiere hatte, Shaffers Charakterisierung Mozarts als albernes Meerschweinchen und bei aller Naivität und Lüsternheit auch ziemlich arrogante Rampensau, die sich auf Kosten des Konkurrenten seine musikalischen Späße erlaubt. Aspekte eines intellektuell denkenden Künstlers entfallen. Ein Tribut, das Peter Shaffer in seinem boulevardisierenden Künstlerdrama an die Geschichte zollte, die er mit Leidenschaft für die gute Unterhaltung grandios verfälschte und mit den althergebrachten Klischees vom Genie und seinem Wahnsinn garnierte. Salieri, der Berühmte, hätte es gar nicht nötig gehabt, gegen Mozart zu intrigieren und ihn am Ende gar zu vergiften.

Bei aller fehlenden historischen Korrektheit ist Shaffers „Amadeus“ aber ein gutes Theaterstück: eine Krimitragikomödie, die wie jede gute Komödie menschliche Schwächen aufs Korn nimmt und analysiert. Die Qualität des Stückes zeigt sich auch an der Esslinger Bühne: drei Stunden Theater ohne Längen oder Langeweile und eines, das an den Spieltrieb der Darsteller appelliert, der von allen Beteiligten denn auch leidenschaftlich ausgelebt wurde.

Soubeyrand setzt auf die Intimität des Kammerspiels. Die Bühne ist karg-praktikabel: verschiebbare Wände mit ein paar Türen, ein stummes altes Klavier an der Seite. Das Budget für die Ausstattung steckte Barbara Fumian vor allem in ihre Kostüme, die der adligen Galakleidung und dem bürgerlichen Sonntagsrock der Mozartzeit nachempfunden sind. Puder-Perücken weichen im Laufe des Abends dem Naturhaarzopf. Schrill dagegen Mozarts und Constanzes Klamotten, pink und paradiesvogelartig aufgeplustert. Mit seinem Verfall wird Mozart auch die Farben ablegen, seine Kleidung wird immer erdiger, fällt dennoch aus der Zeit, wenn er hippe Leinenturnschuhe trägt.

Ulf Deutscher spielt den Salieri als sehr modernen Charakter: kein gehässiger Racheengel oder vergrämter Versager, sondern ein agiler, raffiniert agierender Mobber, der das Publikum auf seine Seite ziehen will. Selbst sein Leiden an der Großartigkeit der Mozart‘schen Musik wirkt cool-analytisch, fast innerlich unbeteiligt.

Matthias Zajgier interpretiert den Mozart zunächst schrill-extrovertiert, mit dem Misserfolg durch Salieris Intrigen vergeht ihm sein kehliges Hape-Kerkeling-Pumuckel-Lachen. Überzeugend spielt Zajgier den allmählichen Verfall, zeigt hinter dem grell Verrückten bald die sensiblen Seiten. Berührend sind die letzten Liebesszenen mit Ehefrau Constanze, die von Lara Beckmann gut getroffen wird in ihrer Mischung aus jugendlicher Unbekümmertheit, Bodenständigkeit, ihrem pragmatischen Sinn für die geschäftlichen Dinge, in ihrer wahrhaftigen Liebe zum Gatten. Komödiantisch mitreißend die Nebenrollen: Nils Hillebrand als tumber Joseph II., Nikolaos Eleftheriadis als tuntiger Kammerherr, Dietrich Schulz als unbarmherziger Direktor der Nationaloper, Jonas Martin Schmid als Buchstabenfetischist van Swieten. Die beiden „Lüftchen“ (Frank Ehrhardt, Susanne Weckerle), die von Salieri ausgesandten Spione, wirken eher wie „Lüfte“, recht bodenständig als schickes Liebespaar inszeniert, das seine Erkundigungen nicht gerade heimlich einholt.

Einzig der Umgang mit der Musik ist einfallslos. Schade, dass keiner der Darsteller ein Instrument spielt. Mozarts Hits kommen vom Band. Und während Mozart dahinsiecht, dröhnt das Lacrimosa seines Requiems pathetisch aus den Boxen.

Weitere Vorstellungen: 10., 15., 27. Dezember, 24., 25. und 27. Januar, jeweils 19.30 Uhr.

Rezension für die Eßlinger Zeitung von heute. Die Premiere war am 8. Dezember.

Dienstag, 6. Dezember 2011

Vom Wetten um die Gunst der Muse

„attacca“-Festival für Neue Musik des SWR im Stuttgarter Theaterhaus

A cappella im Foyer: die Neuen Vocalsolisten als Performer im Stuttgarter Theaterhaus (Foto: Sigmund)

Stuttgart - Es ist wohl der Groove und die würzige Kürze, die das etwas kryptisch nach einer Technoparty-Modedroge benannte Orchesterstück „GHB / tanzaggregat für Orchester“ von Marko Nikodijevic beim „attacca“-Festival in der Beliebtheitsskala ganz nach oben switchen ließ. Das SWR-Eintagesfestival für Neue Musik, das am Samstag im Stuttgarter Theaterhaus stattfand, präsentierte dieses vitale Stück innerhalb des frühabendlichen Orchesterkonzerts des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart als eine der drei Uraufführungen. Es dirigierte Jonathan Stockhammer.

„GHB“ hat dabei nichts mit dem regelmäßigen Bassgestampfe der Technomusik zu tun, sondern arbeitet sehr agil und subtil mit Rhythmen und Metren. Von Computertechnik und Dancebeats lässt sich der serbische, 1980 geborene Komponist inspirieren, verwendet auch Material aus bereits existierender Musik. Von der „Tonhöhen-Zelle am Anfang, die mit einem Fraktalalgorithmus den Tonhöhen-Vorrat durch Intervall-Multiplikation erzeugt“, schreibt er im Programmheft. Was kompliziert klingt, hörte sich dann aber ganz einfach an: Fetzige Rhythmen, kleingliedriges Melos, alles steigert sich bis zur Ekstase. Und über allem liegt der Schein des Bekannten: ein bisschen Ravel, Bernstein, Gershwin, Orient und Musical hört man heraus.
Kontraste und Kurzweil

Der Schein des Bekannten lag auch auf Oliver Schnellers „WuXing / Metal“, das zwar nicht in der Harmonik, aber im Gestus von der Spätromantik inspiriert scheint. Ziemlich monochrom und dick der Streichersound, dem immer wieder Bläsereinwürfe gegenübergestellt werden. Musik, die in sich kreist, sich weniger vorwärts bewegt als langsam nach allen Seiten ausbreitet, dann verharrt. Schöne Musik, die dem Gedächtnis aber schon bald wieder entschwindet. Dennoch ergiebiger als Matthias Schneider-Holleks „betting on the muse“, ein etwas pädagogisch wirkendes Werk, in dem gut 30 Orchestermusiker zur Improvisation aufgefordert sind. Animateure sind drei Laptop-Spieler und ein Instrumentalist, der unterschiedlichste Blasinstrumente spielt. Dirigent Stockhammer saß selbst am Laptop und tippte dort Befehle ein, die auf einem Monitor sichtbar wurden: „In 28 Sekunden beginnt die Violine mit einer kurzen Melodie“, „der Kontrabass spielt tiefe Töne im pppppppp“, „still bleiben und nur den Moment genießen“. Das Ergebnis: viel Klangflächen, viel Zeit, wenig Konstruktives - und nur eine Pseudo-Befreiung aus den Zwängen der Partitur.

Abwechslung, Kontraste, Kurzweiligkeit: Auf dieses wohltuende Konzept baute „attacca“ in diesem Jahr. Für das Orchesterkonzert hieß das, dem aufwendig produzierten Klang Akkordeon-Solostücke gegenüberzustellen: Denis Patkovic spielte Adriana Hölszkys kompakt-komplexes „High way for one“ von 2000 - ein hochvirtuoses wildes Stück, in dem der Spieler rasend schnell Cluster, Perkussives, explosiv schnelle Läufe und Doppeltriller bewältigen muss. Patkovic, ein Musiker-Darsteller, der hochangespannt, mit schmerzverzogenem Gesicht und zuckendem Körper sein Instrument attackierte, zog das Publikum auch in Keiko Haradas uraufgeführtem „Deadline für Akkordeon“ in Bann, dem es gelingt, das kaum Hörbare ins Ekstatische zu überführen.

Tanztheater konzertant


Gestartet war „attacca“ nachmittags mit dem SWR Vokalensemble unter Leitung von Kaspars Putnins. Acht der „14 unbemalten Bilder“ von Alvaro Carlevaro wurden konzertant uraufgeführt. Musik, die beim nächsten Stuttgarter Eclat-Festival im Februar einem Tanztheater als Folie dienen soll. Sie funktioniert aber auch ohne Choreographie recht gut. Rhythmisch und harmonisch komplexe Musik für 28 Stimmen, die sich ständig auffächert und sich neben dem gewöhnlichen Singen vor allem sämtlicher zeitgenössischer Vokal-Techniken wie Schnalzen, Flüstern, Atmen, Sprechen, Ploppen, Hauchen oder Glissando bedient. Nicht alle Stücke sind von gleicher Qualität, aber in ihren besten Augenblicken entfaltet diese Musik ungeahnte räumliche Weiten oder lässt plastische Formen entstehen: etwa wenn die Stimmen durch Klanglandschaften gleiten, aufblühende Klangwolken hin- und herwabern oder Klangsäulen sich aufrichten in einem Meer aus Wisperlauten. Exzellent, wie das Vokalensemble die Farben der Stimmen änderte, sie klingen ließ wie Instrumente oder gar elektronisch erzeugte Töne.

Eingerahmt und verbunden wurde „attacca“ durch 19 kurze A-cappella-Stücke von elf Komponisten. Die auch komödiantisch ambitionierten Stuttgarter Neuen Vocalsolisten führten sie größtenteils in den Pausen im Foyer des Theaterhauses als kleine Performances auf. Eine gute und unterhaltende Idee, die dem Festival eine klare Struktur und einen roten Faden verpasste. Keine Uraufführungen freilich, sondern eine Wiederholung des Großprojekts „Escalier du chant“ des Künstlers Olaf Nicolai, mit dem die Neuen Vocalsolisten 2011 an zwölf Sonntagen die Treppe der Münchner Pinakothek der Moderne bespielt hatten. Inmitten des Publikumverkehrs sollten die Lieder auf aktuelle politische Ereignisse Bezug nehmen.

Kurz, aber wirkungsvoll

Dank der Vielzahl der beteiligten Komponisten eine abwechslungsreiches Unterfangen - mal pointiert witzig, mal zu lang, um pointiert zu sein. Die politischen Ambitionen gingen im Theaterhaus im allgemeinen Eventcharakter unter, die vertonten Texte waren meist kaum zu verstehen. Gerade die besonders kurzen und einfach strukturierten Liedchen entpuppten sich als die wirkungsvollsten: Mika Vainios „Purex“ etwa, in dem drei Frauen lediglich verschachtelte Liegetöne zu singen haben. Oder Tony Conrads „Middle class“, in dem sich die Vocalsolisten unters Sekt trinkende Volk mischten und dem einen oder der anderen „Do corporations hate the middle class?“ ins Gesicht sangen. Zumindest visuell attraktiv auch die Performance „3 Angels + an Enigma“ von Liza Lim. Die Komposition floss als lange Papierbahn die Treppe des Foyers hinunter, während vier Vocalsolisten zwischen Gesang und geräuschhaft artikulierten Emotionen changierten. Das zog sich ein bisschen in die Länge. Ebenso wie Enno Poppes eher langatmig-virtuose Solo-Stücke. Dafür setzte Elliott Sharps „Nakba Day“ mit dreistimmigen Lala-Schreien einen schrillen und pointierten Festival-Schlusspunkt.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute und nmz-online.

Montag, 5. Dezember 2011

Tanz des Stahls

Nacht-Gesichte: Das Stuttgarter Staatsorchester spielt in der Leitung von Kazushi Ono Werke von Dvorák, Sciarrino, Berg und Prokofjew

Stuttgart - Sergei Prokofjews stampfende Maschinenwelt versus Salvatore Sciarrinos fragil-knisternde Nachtschatten-Musik: Solcherlei Kontraste bot das Stuttgarter Staatsorchester in seinem Abo-Konzert „Nacht-Gesichte“ am Sonntagmorgen im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle. In der Leitung des japanischen Dirigenten Kazushi Ono, zurzeit Chef der Opéra de Lyon und versiert in der Musik des 20. Jahrhunderts, überzeugte der Klangkörper vor allem in diesen beiden Werken. Der zu Beginn gespielten sinfonischen Dichtung „Die Waldtaube“ des Romantikers Antonín Dvorák - einer schaurig-schönen Geschichte um eine Taube, die durch ihr vorwurfsvolles Gurren eine Gattenmörderin in den Wahnsinn und den Selbstmord treibt - fehlte es dagegen ein wenig an dramatischem Sog und letztem Feinschliff im Zusammenspiel. Dennoch auch hier Klangmomente von großer Schönheit wie etwa der Chor der Blechbläser, der innerhalb des Orchesterverbandes gelegentlich ins Schweben zu geraten schien.

Sciarrinos flüsterndes „Autoritratto nella notte“ evoziert flüchtige Visio­nen, die jeder kennt, der einmal im Wald von der Dunkelheit überrascht wurde: vorbeihuschende Schatten, geheimnisvolle Geräusche, Knacken, Pfeifen, Flattern - ein Glanzstück vor allem für die Streicher und den Soloflötisten. Auch in Alban Bergs fünf Orchesterliedern nach Ansichtskartentexten baute das Staatsorchester stringent das dichte, dynamisch fein austarierte Klanggeflecht auf, das die schöne, gut geerdete Sopranstimme von Rebecca von Lipinski sicher trug.

Die grelle Klangwelt von Prokofjews dritter Sinfonie von 1928 dürfte dann jeden im Saal aufgerüttelt haben. Hier ackert das Orchester immer auf mehreren Ebenen: Gegensätzliches fügt sich in lärmenden Klangballungen zusammen - dunkel, gewalttätig, eruptiv. Minimalistisch-monoton weitet sich der Klangraum, romantische Streicherkantilenen werden überlagert von sprudelnden Läufen der Holzbläser, Blechbläserstaccato, im Untergrund pulsierender, maschinenhafter Motorik. Atmosphärisch steht die Dritte ganz im Lichte des „Tanzes des Stahls“, wie ein kurz zuvor entstandenes Ballett Prokofjews heißt. Das Staatsorchester blieb hier bei aller komplexen Verdichtung immer noch so transparent, dass alle Schichten stets gut hörbar waren, während Ono für den großen Bogen und die formale Bändigung des polyphonen Donnerwetters sorgte. Ein grandios modernes Werk, dessen große Gesten niemals pathetisch wirken, weil sie sich im Missklang suhlen.

Rezension für dei Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 5.12. Das Konzert fand statt am 4.12.

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Russische Seele mal ganz klassisch

Die Stuttgarter Philharmoniker und der Trompeter Reinhold Friedrich musizieren im Beethovensaal in der Leitung von John Axelrod

Stuttgart - „Gefährliche Liebschaften“ war das Motto des jüngsten Abokonzerts der Stuttgarter Philharmoniker. Aber der Titel „Gefährliche Viren und Toxine“ hätte auch nicht schlecht gepasst. Denn am Beginn stand die Ansage, dass der Dirigent des Abends grippekrank und der Solist einer Lebensmittelvergiftung zum Opfer gefallen sei. Beide traten zur Erleichterung des mittelprächtig gefüllten Beethovensaals allerdings trotzdem auf. Von Viren und Toxinen war dann auch gar nichts zu hören.

In zwei Sätzen aus der Konzertsuite „Medea“, die Samuel Barber in den 1950er-Jahren aus seinem Ballett über die rachsüchtige mythologische Mörderin zusammengestellt hat, zeigten die Philharmoniker in der Leitung des texanischen Dirigenten John Axelrod eine brillante Bläserfraktion und farbig wie rhythmisch stringent agierende Streicher. Dank transparentem Klangbild konnte sich der gestische Duktus dieser Musik kraftvoll entfalten - ob in der melancholischen Meditation oder im wild-dramatischen Rachetanz.

Ein besonders vielschichtiger Leckerbissen für die Ohren erklang dann mit dem Trompetenkonzert „miramondo multiplo“ von Olga Neuwirth, komponiert 2006. Der Titel, der soviel bedeutet wie vielfach aufgefächerte Betrachtung der Welt, schlägt sich eins zu eins in der Partitur nieder: Vielstimmig, kleingliedrig, wuselig, mal dicht, mal locker gefügt verändert das Klanggewebe des Orchesters ständig seine Farben und Helligkeitsgrade. Die grelle Stimme der Trompete - trotz Erkrankung sicher, brillant und exakt gespielt von Reinhold Friedrich - tönt in diese Welt hinein, wird reflektiert, vervielfacht oder weiterverarbeitet. Zitiertes taucht auf und verschwindet wieder. Als erwecke die hier fast durchweg martialische Stimme der Trompete - die im 20. Jahrhundert besonders im Jazz ja auch sensiblere Töne gelernt hat - die alten barocken Geister wieder, scheint plötzlich im langsamen Satz Händels Arie „Lascia ch‘io pianga“ auf, wird überschrieben, versinkt in mikrointervallischem Klangnebel.

In Tschaikowskys „Manfred“-Sinfonie - einer sinfonischen Dichtung nach Lord Byrons dramatischem Gedicht über eine Geschwisterliebe - verzichtete Axelrod auf das sonst übliche schwerblütige und aufgewühlte Pathos. Er setzte auf epische Breite und wohldosierte Lautstärken, die selbst in der finalen Höllenfahrt des Titelhelden und dem schmetternden Einsatz des Orgelwerks kaum bombastisch zu nennen waren. Dafür baute er bedächtig eine innere Dramatik auf, die mehr und mehr zur zwingenden Logik wurde. Natur- und Seelengemälde wirkten so zwar eher klassisch abstrakt als finster oder fantastisch, das Pastorale-Andante weniger süffig dahinschmelzend und das Finale weniger gewalttätig. Aber das stand dem Werk nicht schlecht, wenn man vom Klischee der russischen Seele und ihrer Lust am Leiden einmal Abstand nimmt.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 1.12. Das Konzert fand statt am 29.11.

Dienstag, 29. November 2011

Die Fantasie ist stärker

Michael Endes „Unendliche Geschichte“ als gelungene Bühnenadaption der Jungen WLB Esslingen auf der Studiobühne am Zollberg

Esslingen - Mensch, sind die traurig. Echte Jammerlappen eben, diese Acharai. Bemitleiden sich selbst, was das Zeug hält. Schließlich droht der Untergang, zumindest der von Phantásien, jenem Traumland, in das sich der kleine Bastian aus der realen Welt geflüchtet hat. Die Acharai sind in der „Unendlichen Geschichte“, die die Junge WLB Esslingen jetzt als Bearbeitung von Michael Endes Bestsellerroman aus dem Jahr 1979 auf die Studiobühne am Zollberg gebracht hat, aus schwarzen Mülltüten und grauen kleinen Filzgesichtern gebaut: formlose Körper, die sich flach auf den Boden drücken, aber auch in die Höhe schießen können, so dass sie einen einzigen großen Schluchzer zu verkörpern scheinen.

Die Studierenden des Fachs Figurentheater der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, mit denen die Junge WLB bei dieser Produk­tion zusammenarbeitet, haben das witzig gelöst. Vor allem auch die anschließende Verwandlung der Acharai in die quietschfidelen Schlamuffen: echte Nervensägen, die die ganze Zeit albern herumkichern. Auf dem Zollberg sind‘s kleine, vogelartige Wesen, zusammengesetzt aus bunten Einkaufstüten mit Papierschnäbeln und Glubschaugen.

Eindrucksvolles Puppenspiel

Noch so einiges andere, was Phantásien bevölkert und das die Studierenden Franziska Pietsch, Oliver Klauser und Oliver Köhler entworfen und zusammen mit der WLB-Kostümbildnerin Katrin Bu­sching umgesetzt haben, wird eindrucksvoll als Puppenspiel, kombiniert mit Material- und Objekttheater, in Szene gesetzt: etwa die Kindliche Kaiserin, eine kleine Figur mit leicht asymmetrischem Gesicht und langen filzigen Haaren. Und wenn Artax, das Pferd des jungen Helden Atréju (Hanif Jeremy Idris), in den Sümpfen der Traurigkeit versinkt, dann lassen die Figurenspieler (Franziska Pietsch, Oliver Klauser und als Gast Yana Novakova) braun-grün angeleuchtete Stoffschläuche rollen, die das Tier immer mehr eindecken und darin ertrinken lassen.

Aus diesem Schlangenkuddelmuddel kriecht dann später Morla (Stela M. Katic), hier keine freundliche Sumpfschildkröte, sondern vielmehr eine unheimliche Moorhexe mit gar schrecklicher Maske. Wirkungsvoll auch die vielen Reittiere - ob Glücksdrache Fuchur oder Mauleselin Jicha, die Katrin Busching als aufwendig gemachte Steckenpferde mit ausdrucksstarken Köpfen präsentiert.

Regisseur Marco Süß hat sich in seiner Bühnenbearbeitung des motivreichen Fantasyromanes offenbar auf den Aspekt der Trauerarbeit konzentriert.

Bastian, der gerade seine Mutter verloren hat, von seinen Mitschülern gemobbt und vom sprachlosen, in der eigenen Trauer erstarrten Vater (Martin Frolowitz) alleine gelassen wird, flüchtet sich in die irreale Welt eines Buches, die mehr und mehr zu seiner eigenen Wirklichkeit wird, aber immer auch sein tieftrauriges Inneres widerspiegelt und seinen Wunsch, dieses zu besiegen. Hier mutiert er zum taffen Helden, der die Vernichtung Phantásiens verhindert, indem er die kranke Kindliche Kaiserin heilt. Als Dank dafür wird nun jeder seiner Wünsche in Phantásien wahr, auch die bösen. Doch im Kampf gegen das Vergessen lernt er mehr und mehr, seinen wahren Willen zu erkennen, der ihn aus der wahnsinnsnahen Fantasiewelt wieder heraus- und in die echte hineinkatapultiert: in die Arme seines Vaters. Eine Reise der Selbstfindung liegt dann hinter ihm. Ein schönes Bild hat Süß für den Augenblick der entscheidenden Erkenntnis gefunden: Bastian bricht die Alufolie, die den Vater bedeckt, an der Stelle des Mundes auf, der nun zum ersten Mal spricht: Er brauche den Sohn, er schaffe das nicht alleine.

Kalte Welt draußen

Atmosphärisch und funktional vielseitig ist die Bühnenkonstruktion von Katrin Busching: ein Metallgestell aus Stangen, Gittern und runden Formen. Futuristisch sieht das aus, mal wirkt es irreal abstrakt, mal steht es für die Kälte der realen Welt. Es lässt sich auch prima musikalisch nutzen, wenn man mit einem Hammer draufhaut, und überall hängen zusätzlich noch Glöckchen, goldene Blumentöpfe und Trömmelchen, die vom Ensemble für bedrohlich dumpf-monotone Rhythmen oder zum Geräuschemachen genutzt werden (Musik: Jan Paul Werge).

Wie immer kann sich Marco Süß auf sein engagiert und spielfreudiges Ensemble verlassen. Sabine Christiane Dotzer spielt den Bastian so einfühlsam, dass ihre finalen Tränen, wenn Bastian in die Arme des Vaters zurückfindet, wohl echt sind. Viel Applaus gab es am Ende für diese wunderbare Produktion.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 29.11. Die Premiere fand statt am 26.11.

Mittwoch, 23. November 2011

Wie warmer Sommerregen

Die Prager Kammerphilharmonie trifft in Stuttgart auf Marimba und Trompete

Stuttgart - Bachs berühmtes „Air“: gespielt von einer Marimba und einer Trompete? Man kann sich das eigentlich kaum vorstellen, aber im Konzert des Prager Kammerorchesters in der Leitung von Matthias Kuhn im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle setzten die beiden Solisten des Abends mit der Zugabe dieses barocken Evergreens ein berührendes Highlight. So innig und gefühlvoll übersetzte Katarzyny Myccka den ursprünglichen Streichersatz mit seinen imitierenden Stimmen und dem gleichmäßig pochenden Bass auf ihr Instrument und in seine dunkel und warm tröpfelnde Klangwelt, so sanft und sensibel brachte Gábor Boldoczki seine Trompete zum Singen, dass atemlose Stille herrschte im ansonsten ziemlich verhüstelten Beethovensaal.

Boldoczki hatte an diesem Abend sein Können schon in einer Bearbeitung des Bach‘schen A-Dur-Cembalokonzertes für moderne Trompete demonstriert. Fröhlich und entspannt hüpften die Töne durch die Register, geschliffen und glasklar sprudelten die schnellen Läufe - ein Anachronismus freilich, war die Barocktrompete doch vor allem im Schmettern von Fanfaren gut, weil ihr noch die Ventile fehlten und so Tonleitern nur in der hohen Lage spielbar waren. Neben dem eher lapidaren Virtuosenzauber in den Außensätzen offenbarte Boldoczki dann vor allem im langsamen Mittelsatz seine außergewöhnlichen Qualitäten: in einem wunderbaren, tief beseelten, traurigen Gesang, der ebenso ein Tonfall ist, den erst das 20. Jahrhundert für die Trompete entdeckt hat.

Die exotische Stimme der Marimba, eines großen afrikanischen Xylophon-Instruments, dessen Holzklangstäbe verantwortlich sind für einen dunklen, vollen Sound, durchzog dann den Saal wie ein warmer Sommerregen. In zwei Kompositionen neuesten Datums - beides auf die Marimba zugeschnittene Schmankerl, die auch gut als Filmmusik funktionieren würden - präsentierte Katarzyny Mycka ihr Instrument als einen Garanten für vielfältigste Klangfarben und Schattierungen. In Emmanuel Séjournés Konzert für Marimba und Streichorchester entlockte sie der Holzstab-Klaviatur - mit zwei mal zwei Schlegeln bewaffnet - sprudelnde Kaskaden und sonores Melos, melancholischen Tangoschimmer und gläserne Zerbrechlichkeit. In Anna Ignatowicz-Glinskas Doppelkonzert für Marimba, Trompete und Streicher kam im Zusammenspiel mit Boldoczki vor allem ihre perkussive Brillanz zur Entfaltung.

Mitreißend gelang dann der Prager Kammerphilharmonie, die bis dahin nur wenig gefordert worden war, Dvoráks Streicherserenade. Transparent im Zusammenspiel, fein gezeichnet in den Einzelstimmen und mit liebevoller Akribie in der Detailausarbeitung machten sie wirklich jede kompositorische Raffinesse hörbar, die ihr genialer Landsmann dieser Suite aus expressiv-berührenden und quirlig-tänzerischen Sätzen einst angedeihen ließ.

Viel Applaus gab es am Ende für ein Konzert, dem man entspannt und glücklich hatte lauschen können, weil auf der Bühne so hervorragende Musiker in Aktion gewesen waren.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 23.11. Das Konzert fand statt am 21.11.

Montag, 21. November 2011

Kleist!

Heute vor 200 Jahren nahm sich der Dichter Heinrich von Kleist das Leben. Lesen Sie hier meinen Beitrag zum Gedenktag.

Montag, 14. November 2011

Das Sein im Schein suchen

Thomas Dannemann inszeniert Jean Genets ehemaliges Skandalstück „Der Balkon“ am Stuttgarter Staatsschauspiel

Stuttgart - Theaterblut rinnt von der Decke auf den Bühnenboden, bis der Eimer fast voll ist. Getroffen von einer irrlaufenden Kugel der Revolutionäre hat es Arthur, Irmas gefügigen Zuhälter, im Puff dahingerafft. Spiel oder Realität? Madame Irma ist die Königinmutter eines Bordells mit Spezialisierung. Im „Haus der Illusionen“ darf jeder kleine Mann sich zum Sex in staatstragende Rollen und Kostüme werfen: als Richter eine vermeintliche Diebin foltern, als Bischof sich von rosa blinkenden Dildos befriedigen lassen, als General die „stolze Stute“ reiten. Die hat in Thomas Dannemanns Stuttgarter Staatsschauspiel-Inszenierung von Jean Genets „Der Balkon“ in einer von der Dramaturgin Beate Seidel leicht bearbeiteten Fassung pink illuminierte Hufe angeschnallt (Kostüme: Regine Standfuss) und scheint durch den Raum zu schweben, ohne je wirklich Körperkontakt zu ihrem Kunden zu haben.

Meistens bleiben die Hosen an

Der Spielcharakter der Sexszenen wird im Kammertheater stets zur Schau gestellt: „Kannst du mal einen Augenblick weiterwürgen?“, bittet der Richter seinen Gehilfen Arthur (Dino Scandariato), als ihn beim Kopf-ins-Waschbecken-Drücken seiner Gespielin ein Krampf im Arm elektrisiert. Zumindest dürfen die Akteure meist ihre Hosen anbehalten. Das Freudenhaus wird umtobt von einer blutigen Revolution, die der vermeintlich sicheren Traumwelt da drinnen immer mehr auf den Leib rückt, bis die Mauern durch Explosionen erschüttert werden. Zerstören kann sie das Bordell freilich nicht. Die Revolution, deren Anführer die Hure Carmen (Dorothea Arnold) zu ihrer Gallionsfigur erheben, mündet im Chaos. Traumwandlerisch werden die Rollenspieler des Bordells zur neuen Staatsmacht, mutieren zum echten General, Richter (Lutz Salzmann), Bischof - und Madame Irma zur neuen Königin. Es ist kein bestimmter Aufstand gemeint, obwohl einmal „Lügenpack“-Skandieren hörbar wird.

Genets Skandalstück von 1957, das das Theater seinerzeit in eine amoralische Anstalt verwandelte, kann heute nicht mehr wirklich schockieren. Sein Spiel mit Sein und Schein, mit Realität und Rolle, Bild und Spiegelbild aber ist gerade in Zeiten des Internets und seiner virtuellen Parallelwelten wieder hochaktuell. Doch solcherlei Querverweise vermeidet Thomas Dannemann. Sein Bischof (Rainer Philippi) ist nicht Mixa, und es gibt keine Videoprojektionen. Dannemanns Übertragung des Stücks in die heutige Zeit ist subtiler. Er vertraut ganz auf die Mittel des Theaters. Sein Zugriff ist spielerisch-komödiantisch, bezieht die Theatersituation in das Vexierspiel um die Wirklichkeit mit ein.

Es geht dem Regisseur offenbar um die allgemeine Verunsicherung eines hermetisch abgeschlossenen Raums. Das Publikum wird zu potenziellen Kunden im Bordell, sitzt mit auf der Bühne, muss einmal gar die Stühle selbst umstellen, um neuen Platz in der Mitte zu schaffen. Zuvor saß man zur komplett verspiegelten Wand gerichtet. Die Zuschauer sahen sich selbst, die Darsteller lösten sich aus ihren Reihen, spielten hinter ihnen und dazwischen.

Publikum und Spielende, Theater und Realität verschmelzen in der Spiegelung. Eine Frau in der ersten Reihe wird vom sonst eher uncharmanten, latent gewalttätigen Polizeipräsidenten (Boris Koneczny) zum Tanz aufgefordert und legt eine flotte Sohle aufs Parkett. Die Kumpanei zwischen doppelten Rollenspielern und Zuschauern scheint zu funktionieren. Die Bühne auf der Bühne (Bühnenbild: Cary Gayler) tut ihr übriges.

Trefflich besetzt


Durchweg trefflich besetzt ist diese bemerkenswerte Produktion. Lisa Bitter gibt das Objekt der diversen Begierden genauso spielfreudig wie Jan Krauter den zwielichtigen Gesandten der Königin oder Rahel Ohm die Travestie des morbiden, wuchtig-direkten Generals. Differenzierend verleiht Astrid Meyerfeldt der Irma die unterschiedlichsten Gesichter - revolutionsdiffamierende Spießerin, bürgerliche Geschäftsfrau oder ängstliche Geliebte. Durch feine Komik zeichnet Boris Burgstaller seiner Minirolle des (fast) nackten Masochisten Kontur ein: Etwa wenn er der Geisha schüchtern eine paar Blümchen hinhält, sie diese mit einem Handkantenschlag köpft und er sich leise weinend verzieht.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 14.11. Die Premiere war am 12.11.

Im Tuttigetöse gen Himmel

Elgars Oratorium "The Apostles" in der Stuttgarter Stiftskirche

Stuttgart - Edward Elgars Oratorium "The Apostles" ist ganz großes Kino. Alle Möglichkeiten theatral sich gebärdender Musik kommen hier zum Einsatz: Eine wild tobende Sturmmusik geht der Wasserbegehung Jesu voraus, und der Gottessohn fährt am Ende zu pompös jubilierendem Tuttigetöse gen Himmel. Hier wollte einer erschüttern und aufrütteln – bis zum Trommelfellplatzen.

Hierzulande hört man diese spätromantische Vertonung der Apostel- und Passionsgeschichte nur selten. Ein großer Verdienst also, dass sich ihr nun Kay Johannsen im Rahmen seiner Stiftsmusik widmete. Es wurde eine mitreißende Aufführung am Freitag in der Stiftskirche. Ob kontemplative Schilderung, sensible Seelengemälde oder Hochdramatik: Johannsen am Dirigierpult vereinte diese gegensätzlichen Ebenen bruchlos im weiten Spannungsbogen und arbeitete die Schönheiten dieser harmonisch und instrumentatorisch so reichen Partitur glänzend heraus. Die Stiftsphilharmonie in Riesenbesetzung zog sofort in den Sog der Klänge, farbenreich und fein differenziert im Ausdruck sang die Stuttgarter Kantorei, ließ mal bodenständig Volkszorn aufflackern, mal ätherisch die Engel säuseln. Berührend entrückt die Frauenstimmen, wenn Petrus bitterlich weint. Wunderbar!

Unter den sechs Solisten fiel vor allem Mark Adlers höhensichere und warm timbrierte Tenorstimme auf. Dagegen versank Mezzosopran Ruth Sandhoff gelegentlich im Klangmeer, während Bass Krzysztof Borysiewicz als Jesus sich etwas zu einseitig auf einen weihevollen Predigertonfall verließ. Überzeugend gestaltete dagegen Sopran Andrea Lauren Brown sowie die Bassbaritone Martin Busen und Dominik Wörner als Judas – bei Elgar ein zerrissener, moderner Charakter.

Besprechung für die Stuttgarter Nachrichten vom 14.11. Das Konzert fand statt am 11.11.

Freitag, 11. November 2011

Licht und Freude

Uraufführung von Georg Wötzers „Stuttgarter Schabbat-Liedern“

Stuttgart - Eigentlich beschäftigt sich der Esslinger Komponist Georg ­Wötzer mit der experimentellen Musik, etwa der algorithmischen; mit jenem kompositorischen Verfahren ­also, bei dem die Töne eines Werks durch einen mathematischen Prozess berechnet werden - eine künstlerische Arbeit, die auch mit der Entwicklung von neuen Programmiersprachen verbunden ist.

Im voll besetzten Kammermusiksaal der Stuttgarter Musikhochschule konnte man jetzt aber eine andere Seite Wötzers kennenlernen. Uraufgeführt wurden seine „Stuttgarter Schabbat-Lieder“ für Stimme, Klarinette und Akkordeon - ein Zyklus in schönstem Moll und Dur.
Erinnerung ans jüdische Galizien

Wötzer hatte sich dafür mit dem Stuttgarter Martin Widerker zusammengetan, der ihm die Melodien für seinen Zyklus lieferte. Die hat Widerker in Erinnerung an die volksmusikalischen Schabbat-Lieder seiner chassidisch-jüdischen Vorfahren, die er als Kind im alten Lemberg in Galizien selbst gehört hat, wiedererfunden. Die hebräischen Texte dieser „Nigunim“ sind jedem frommen Juden bekannt als geistliche Dichtungen und Gebete. Sie handeln von den Verhaltensregeln am Schabbat, von leiblichen und geistigen Genüssen, die jedem winken, der die Gesetze einhält, besingen den Schöpfer und drücken die Freude aus über diesen schönen Tag. Schließlich schafft er durch sein Arbeitsverbot ja Zeit fürs Thora-Studium, für den Gesang und den Verzehr leckerer Speisen und Getränke.

Wötzer hat sich in seinem Zyklus aus zehn Liedern - inspiriert von den zugrundeliegenden Melodien - offenbar am Tonfall des Klezmers, der jiddischen Volksmusik, orientiert: an seiner modal ausgerichteten Harmonik, seinen Gegensätzen von Melancholie und Freude, seinen Rhythmen. Aber er hat etwas ganz eigenes daraus geschaffen. In seinen Schabbat-Liedern ist die Harmonik reicher und exotischer, der Tonsatz kunstvoll verwoben, Metrik und Rhythmik sind oft vertrackt und die Melodien und ihre Gegenstimmen von klassischer Geschmeidigkeit. Auf die klezmertypische Verzierungstechnik, die die Musik schluchzen, hicksen und lachen lässt, wird verzichtet.
Rasende Steigerungen

Stefanie Faber an der Klarinette und Katjana Sedelmayr am Akkordeon stürzten sich konzentriert und energiegeladen in diese hochvirtuose Musik, meisterten die plötzlichen rasenden Steigerungen und Verdich­tungen und setzten perfekt getimt die subtilen finalen Pointen. Selten nur bestand ihr Part in bloßer Begleitung, vielmehr umtanzten, umsprudelten und umgarnten ihre Stimmen den wohltimbrierten, sonoren Gesang von Bariton Frank Wörner.

Man hätte diesen Zyklus gerne am Stück gehört. Konzertdramaturgisch ungeschickt wurde aber nach jedem Lied unterbrochen, und der Reli­gionswissenschaftler Joseph Rothschild kommentierte langatmig, wiederholungsreich und mit salbungsvoller Stimme die Textherkunft jeder einzelnen Nummer. Das hätte man gewiss auch kürzer machen ­können.

Besprechung für nmz-online und die Eßlinger Zeitung vom 10.11. Das Konzert fand statt am 7.11.

Dienstag, 8. November 2011

Ungefährliche Liebschaften

"Madame Bovary" als Bühnenadaption am Stuttgarter Staatstheater

Stuttgart – Schon wieder ein weltberühmter Roman auf der Bühne. Diesmal Gustave Flauberts "Madame Bovary". Ein Skandalroman, der den Autor 1856 wegen "Verherrlichung des Ehebruchs" vor Gericht brachte. Auf der Bühne der "Box" in der Türlenstraße, der Interimsspielstätte des Stuttgarter Staatstheaters, hockt Emma Bovary auf einem weißen Dreisitzersofa zwischen Ikea-Regalen und greller Blumentapete, zappt durch TV-Schnulzen und schluchzt laut: "Ach, ist das traurig". Es ist die zweite Premiere. Die erste fand kürzlich in Berlin statt, als Kooperation der Produktionsfirma des Regisseurs Christian Weise mit dem Berliner Ballhaus Ost.

Christian Weise, der zusammen mit Daniela Dröscher auch Texter der Bühnenadaption ist, hat dieses "Sittenbild aus der Provinz", wie Flaubert seinen Roman nannte, recht frei in unsere Zeit übertragen. Epische Breite schnurrt zusammen auf pointengespicktes Sitcom-Niveau. Nur Bruchstücke des Originaltextes sind wiederzuerkennen.

"Provinz" ist nun nicht Dorf, sondern das hypothekenbelastete Eigenheim einer Reihenhaussiedlung (Bühne: Constanze Kümmel). Weise unterzieht Emma einer gewissen Proletarisierung. Bei Flaubert ist sie eine aus reichem Hause stammende schöngeistige, gebildete Dame, die sich von ihrer Heirat mit dem Landarzt Bovary gesellschaftlichen Aufstieg und ein aufregendes Leben erhofft, aber stattdessen die gähnende Langweile auf dem Land bekommt. Bei Weise wird sie zur Groschenroman verschlingenden, tv-süchtigen Sofakartoffel, ausgeliefert ihren unbestimmten Gefühlen und unkontrolliert in ihrem Tun. Inga Busch, in rosa Miniröckchen, Strickjäckchen und roten Pumps (Kostüme: Andy Besuch), spielt das brillant: diese zwischen Rührseligkeit und Sehnsucht, Kotzanfällen und Cholerik, Depression und Geilheit hin- und hergeworfene Frustrierte: die mal ihren Ehemann zusammenscheißt, mal gefährlich aggressiv ihren Säugling ins Körbchen schleudert und mit nervender Penetranz fast jedem männlichen Besucher an die Wäsche geht.

Die Personage drumherum wird zur Karikatur: Der Ehemann (Alexander Maria Schmidt) ist ein tumbes, trotteliges Muttersöhnchen, einer der blind ist vor Liebe und weder die Affären noch die Verschwendungssucht seiner Frau erkennen will. Gleich drei I-Phones bringt die DHL. Das befreundete Apothekerehepaar Homais mutiert zum spießigen Ökopärchen: Er (Cornelius Schwalm) der langhaarige Gründer eines Geburtshauses namens "Ringelblume", sie (Verena Unbehaun) dauerschwanger und in den Fängen ihres quäkenden Babyphones – ein Hieb dieser Berliner Produktion gegen die Prenzlberg-Schickeria.

Emma Bovarys Sehnsüchte finden in ihren banalen Affären – Quickis auf der Sonnenbank oder hinterm Sofas – keine Befriedigung. Weder die mit dem Nachbarn Leon (Johannes Benecke), einem verklemmten Jurastudenten in beigen Bügelfaltenhosen, der sich später zum coolen Yogi-Mann wandelt, noch jene mit dem schönen Latino-Popstar Rodolphe (Sebastian Arranz) aus dem Fernsehen, der plötzlich beim Doktor auftaucht wegen Burnout. Der "Chicachicalinda" singt und so furchtbar "unglücklich" ist und dagegen Tabletten nehmen muss. Der in der verliebten Emma nur einen schönen Zeitvertreib sieht. Seine Gesangseinlagen sind fetzig (Musik: Jens Dohle), Arranz hat Charisma und kann sexy die Hüften schwingen. Seine Songs kommen allerdings ein wenig inflationär zum Einsatz. Auch wenn sie gelegentlich die eigentlichen Botschaften der Inszenierung verkünden: "Du brauchst keinen Background, du brauchst auch kein Projekt, du brauchst nur ein Macbook – la dolce vita ist geleckt."

Nötig hat die Theaterwelt diese boulevardisierende Adaption von Weltliteratur nicht, die ihr nichts an die Seite stellt als zwei unterhaltsame, mitreißend gespielte Stunden. Boulevard freilich mit einem bösen Ende: Auch bei Weise bringt sich Emma am Ende um. Ihre Verschwendungssucht hat die Kleinfamilie in den Ruin gestürzt. Und schließlich ist der Tod ja "keine große Sache", wie Emma final feststellt. "Will noch einer ein Schlückchen Cassis?", fragt die Mutter des Doktors die Trauergemeinde am Schluss. Achja, die Mutter. Eine witzige Kopie der Sophia aus der TV-Serie "Golden Girls". Catherine Stoyan, eine grandiose Komödiantin, bringt die Brüller des Abends: Wenn sie versucht, den Kinderwagen durch die zu schmale Haustür zu stemmen oder wenn sie torkelnd die gut ausgestattete Hausbar verlässt oder sarkastische Pointen setzt. Es sollte Männer- und Frauenplaneten geben, frotzelt sie. "Einmal im Jahr trifft man sich, es wird gevögelt und damit hat's sich."

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 7.11. Die Premiere fand statt am 5.11.

Montag, 7. November 2011

Kohlhäschen goes Stuttgart

Volkmar Kamms "Michael Kohlhaas"-Adaption im Alten Schauspielhaus in Stuttgart

Stuttgart – Was für ein Mann, dieser Michael Kohlhaas. Eigentlich "das Muster eines guten Staatsbürgers", schreibt Heinrich von Kleist 1810 in seiner berühmten Novelle. Einer der "rechtschaffensten", aber zugleich auch einer der "entsetzlichsten Menschen seiner Zeit". Diese Unheil andeutende Ambivalenz meißelt Kleist gleich mit dem ersten Satz heraus. Denn Kohlhaas' Gerechtigkeitssinn wandelt sich, als er sein Recht vor Gericht nicht bekommt, zum Fanatismus. Der Rosshändler mutiert zum prinzipienreitenden Machtmenschen, zum mordenden, ganze Städte niederbrennenden Racheengel. Sein Kampf gegen die absolutistische Willkürherrschaft endet in der Selbstzerstörung. Auf einen Deal mit dem sächsischen Kurfürsten lässt er sich nicht ein. Er nimmt die eigene Hinrichtung in Kauf. Dabei ging's zunächst nur um zwei wohlgenährte Rappen, die ihm an der brandenburg-sächsischen Grenze unrechtmäßig abgenommen und als dürre Klepper zurückgegeben wurden.

Kohlhaas ist beheimatet im 16. Jahrhundert, aber er ist ein zeitloser Charakter. Solche Gerechtigkeitsfanatiker ohne Sinn für die Angemessenheit ihres Handelns gibt es immer wieder. Auch Fragen um das Widerstandsrecht bleiben – das zeigen auch Stuttgart-21-Demos oder die Occupy-Bewegung – hochaktuell. Und dann ist 2011 auch noch Kleist-Jahr. Der Dichter suchte vor 200 Jahren den Freitod. Kleist hat viele Dramen geschrieben. Aber weil die heutigen Theater im Zusammenstutzen von Prosawerken für die Bühne ganz groß sind, landet jetzt auch Kohlhaas wieder einmal im Guckkasten.

Warum muss man Episches dramatisieren? Die Bühnenbearbeitung von Volkmar Kamm, die jetzt als "Kohlhaas 21" in Stuttgarts Altem Schauspielhaus uraufgeführt wurde, beweist ein weiteres Mal: Man sollte es lassen. Gerade im Falle Kleists. Die ungeheure Kraft, der Sog, die Wucht, das Atemlose seiner Prosa wird in Kamms Inszenierung mit einem Schlag zerstört – durch langweilende Dialogisierung, durch alberne Modernisierungen und durch das unreflektierte Vermischen von Zeitebenen. Wie in einer Schlagwortsammlung zum Thema Widerstand wurde hier assoziativ viel zusammengetragen, aber nur wenig differenziert.

Da steht nun der stattliche Ralf Stech als Kohlhaas auf einer runden Blech-Plattform, mit einer Fußfessel an langer, rasselnder Kette (Ausstattung: Konrad Kulke). Drumherum sitzt ein modernes Gericht, mit Staatsanwalt (Andreas Klaue), Vorsitzendem (Reinhart von Stolzmann) und Laptop – an einem Tag im Jahr 1540. Kohlhaas soll sich erklären zu seinen Taten, derweil von draußen gelegentlich Skandier- und Pfeifkonzerte einer Demonstration im heutigen Berlin oder Stuttgart oder sonst wo durchs Fenster dringen.

Das Todesurteil droht. Kohlhaas' hippelige Rechtsanwältin (Mirjam Woggon) ist ihm kaum eine Hilfe. Stech als Kohlhaas bleibt ohne psychologische Schärfe. Sympathisch ist er, ein bisschen verzweifelt, zeigt aber nur Spurenelemente von innerem Feuer, Hass oder seiner Verletzlichkeit.

Das Gericht schlüpft immer wieder in die historischen Rollen: Mal gibt Klaue den Luther, mal von Stolzmann den Kurfürsten, mal Woggon den Abdecker von Döbbeln. Aber Erzählungen nachzuspielen ist langweilig. Und die Live-Band, die in der roten Röhre im Hintergrund die Handlung immer wieder mit "Ton Steine Scherben"-Songs garniert, tut dies ohne Biss, Charisma und Aggression. Wenn dann Kohlhaas selbst zum Mikrofon greift und "Macht kaputt, was euch kaputt macht" singt, klingt das so, als markiere ein Lämmchen den Löwen.

Aus Kohlhaas wird in Stuttgart ein Kohlhäschen, dem es die Sprache verschlägt, als zwei junge Demonstranten, Tom und Suse (André Flemming und Helena Daehler), auf der Flucht vor Wasserwerfern sich ins Gericht flüchten: zwei nervige Spaßgesellschaftler. Tom macht sich lustig über "Mike, den Tierschützer aus der Ex-DDR", und Suse, die Lehramtsstudentin für Deutsch, findet Kohlhaas total sexy, verschwindet mit ihm unter der Blechplattform. Flugblätter fallen von der Galerie (gar eine Anspielung auf die Geschwister Scholl?) mit Parolen aus der Schrift "Empört euch" des ehemaligen Résistance-Kämpfers Stéphane Hessel: gegen die Herrschaft der Banken, gegen Sozialabbau, für Pazifismus, für zivilen Ungehorsam.

Doch beides bleiben zwei disparate Ebenen: hier der Prinzipienreiter und Einzelkämpfer Kohlhaas, zum Tode verurteilt, mit einer klaren Zielrichtung, dort friedlich gegen jedwede Ungerechtigkeit demonstrierende Massen, auf die die Polizisten draufhauen. So oder so: kein Gewinn für den "Kohlhaas" und umgekehrt. Am Ende wird der Titelheld aus Versehen von einem Polizisten auf dem Stuttgarter Schlossplatz erschossen. Wieder einmal steht das dumpfe Gefühl einer Vereinahmung im Raum – diesmal auf Kosten der nahezu perfekten literarischen Form. Darauf gibt es nur eine Antwort: Das Original lesen!

Weitere Vorstellungen: bis zum 10. Dezember 2011, täglich 20 Uhr, außer Sonntags.


Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 5./6.11. Die Premiere fand statt am 3.11.

Dienstag, 25. Oktober 2011

Leuchtende Schönheit

Frieder Bernius und der Stuttgarter Kammerchor in der Markuskirche

Stuttgart - Alle Musik sei in ihrem Innersten religiös, sagte Arvo Pärt einmal. Die beiden tiefgläubigen Komponisten Sofia Gubaidulina und Krzysztof Penderecki würden dem wohl nicht widersprechen. Geistliche Musik für gemischten Chor von allen drei Tonkünstlern stand auf dem Programm des Sonntagnachmittagskonzerts von Frieder Bernius und seinem Kammerchor in der Markuskirche. Musik, die außerordentlich gut miteinander harmonierte, wie sich zeigte.

Zunächst offenbarte das Ensemble aber seine in diversen Mendelssohn-Einspielungen dokumentierte Affinität zur romantischen Chorästhetik. Otto Nicolais Psalmvertonungen erblühten in dynamisch und farblich fein austariertem Schönklang – von den sehr reinen Sopranstimmen bis zu den sonor vibrierenden Bässen.

Dazu kontrastierend Pendereckis kraftvoll-dramatisches "Agnus Dei" von 1981, Bekenntnismusik, in der der Komponist um seinen Freund Kardinal Stefan Wyszynski trauerte. In Pärts streng strukturiertem "Nunc dimittis", geschrieben 2001 auf die biblischen Worte Simeons beim Anblick des kleinen Jesus, fügten sich die Stimmen der zwölf Choristen und dreizehn Choristinnen in wohliger Homogenität zusammen und brachten das fassliche und unaufgeregte Werk zu spirituellem Leuchten.

Interessantestes Stück war aber Gubaidulinas "Sonnengesang" von 1997 auf Franz von Assisis berühmten Hymnus auf die Wunder der Schöpfung. Zusammen mit den Perkussionisten Brian Archinal und Ryan Nestor sowie Juris Teichmanis am Solocello gelang Bernius und dem Kammerchor eine in allen Details spannende Aufführung. Seinen Reiz gewinnt das Werk in der Gegenüberstellung von Chor – der zwischen rituell-meditativer Gleichförmigkeit und theatral-malender Textausdeutung wechselt – und Solocello, das gleichsam als emotional bewegtes Ich des Sonnenbesingers die Grenzen seines Instruments auslotet: inklusive absichtlichem Verstimmen der Saiten und dem Traktieren des Korpus mit einem chinesischen Essstäbchen. Derweil setzten die Perkussionisten effektvolle Akzente, etwa indem sie Weingläser zum Singen brachten. Ein standesgemäßer Glückwunsch an die Komponistin, die am 24. Oktober 80 Jahre alt wurde.

Rezension für die Eßlinger Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten vom 25.10. Das Konzert fand statt am 23.10.

Mittwoch, 19. Oktober 2011

Traumgesichter

Die Sopranistin Diana Damrau und der Pianist Helmut Deutsch in der Stuttgarter Staatsgalerie

Stuttgart – Lieder seien wie Opern en miniature, hat die Sopranistin Diana Damrau einmal gesagt, winzig kleine Geschichten, Shortstories. Sie seien in der Lage, in zwei Minuten das ganze Leben abzubilden. Der hohe Anspruch an die Differenzierung des Ausdrucks macht wohl die Faszination aus, die die berühmten Stimmen der Opernbühne immer wieder in die intime, ja gläserne Situation eines Liederrecitals treibt, die ein Opernorgan, das größere Dimensionen gewohnt ist, schnell sprengen kann.

Aber die vielseitige Diana Damrau, international gefeierte Mozart- und Belcanto-Interpretin, die gelegentlich auch in Richard Strauss' Orchesterliedern zu hören ist, hat ihre Stimme in dieser Hinsicht gut unter Kontrolle. Das stellte sie in der Matinee, welche die Stuttgarter Hugo-Wolf-Akademie am Sonntag in Kooperation mit der Staatsgalerie im dortigen Vortragssaal veranstaltete, eindrücklich unter Beweis – in bester Harmonie mit Helmut Deutsch, dem Mann am Klavier.

Lieder von Franz Liszt standen auf dem Programm, der in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag gefeiert hätte, wäre das Unsterblichkeitselixier schon erfunden. Lieder, in denen Damrau die enorme theatrale Wandlungsfähigkeit ihrer Stimme voll zur Entfaltung bringen konnte, die auch im fahlen mezza voce immer noch ein wenig schimmert. Was die Brillanz ihres Soprans und dessen Anschwellen bis ins Fortissimo angeht, kann die 40-Jährige ihre Opernherkunft nicht verleugnen. Aber das volle Volumen setzt sie sehr sparsam und mit Bedacht ein. Farbtiefe gibt sie den Tönen in allen Registern, auch im Pianissmo.

So formt sie die Liszt'sche zerklüftete Gefühlswelt plastisch und trifft direkt in die Herzen der Zuhörer. Sie lässt die überbordende Energie in "Vergiftet sind meine Lieder" schlagartig schmelzen, um in "Freudvoll und leidvoll" sanft schwere Wolken aufziehen zu lassen und in "Über allen Gipfeln ist Ruh" bleiche Farben tödlicher Ermattung hörbar zu machen. Immer ist der Text gut verständlich: Damrau artikuliert perfekt.

Die ambivalente Sprache der Emotionen, wie sie Liszts' Vertonungen von Petrarca-Sonetten prägt, beherrscht Damrau auch in Sergei Rachmaninows wohlig melancholischen, sehnsuchtsvoll träumenden Liedern – oft überwältigt, aber niemals übertrieben, immer getragen von Helmut Deutschs formidablem Einfühlungsvermögen in Tempi und Farben. Faszinierend etwa, wie sich die Melodien des Klaviers und der Stimme in Liszts "Glocken von Marling" oder Rachmaninows "Die Nacht ist traurig" zart umtanzen, wie Deutschs Spiel zum Seelenspiegel der Sängerin wird, ob in aufregenden Sturmmusiken oder aquarellierten Nebelschleiern.
des Konzerts küssen sich die Künstler gegenseitig die Hand – und das Publikum im voll besetzten Saal bedankt sich mit Standing ovations.

Rezension für die Eßlinger Zeitung und die Stuttgarter Nachchrichten vom 18. bzw. 19.10. Das Konzert fand statt am 16.10.

EDUARDAS UNIVERSUM

weblog für ernste kultur von verena großkreutz

Wer ist Eduarda?

Eduarda bin natürlich ich! Diesen Spitznamen verpasste mir ein Freund in meiner Anfangszeit als Musikkritikerin in Erinnerung an den berühmten Eduard Hanslick.

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