Frieder Bernius dirigiert Burgmüller und Mendelssohn
Stuttgart - Man könnte es als eine symbolische Geste deuten, dass der Pianist Tobias Koch zwischen den Sätzen ein wenig Staub vom Notenständer des Bösendorfer-Hammerflügels pustete, als seien es Sandkörnchen, die von den musikalischen Ausgrabungen des Dirigenten Frieder Bernius liegengeblieben sind. Den Namen des frühverstorbenen Norbert Burgmüller und dessen Klavierkonzert in fis-Moll, das Bernius an diesem Abend zur Aufführung brachte, dürften jedenfalls nicht viele Zuhörer im voll besetzten Konzertsaal der Stuttgarter Musikhochschule schon mal gehört haben.
Was der 19-jährige Burgmüller 1828/29 komponierte, ist kein Virtuosenschmankerl, sondern ein sinfonisch ambitioniertes Konzert. In hörbarer Kenntnis des 5. Klavierkonzerts Beethovens und lange vor Brahms lässt er hier den Solopart eng mit dem Orchester zusammenarbeiten und verzichtet auf Solo-Kadenzen. Alles ist auf motivisch-thematische Vernetzung und Kommunikation ausgerichtet: Der wilde eruptive Kopfsatz und seine Verschachtelung von pianistischer Seufzermotivik und nervös drängenden Orchestereinwürfen, der Mittelsatz und sein elegischer Zwiegesang von Solo-Cello und Klavier, vor allem aber das ausladende Finale, das das solistische Tiraden- und Kaskadenwerk kunstvoll mit dem Orchestersatz verflechtet. Ein Werk, dem man einen festen Platz im Konzertrepertoire wünscht.
Die Zusammenarbeit zwischen dem Hammerklavierexperten Tobias Koch und der historisch informierten Hofkapelle Stuttgart glückte auch in den metrisch heiklen Abschnitten. Besondere Klangeffekte ergaben sich aus der ungewohnt weitgehenden Verschmelzung von Klavier- und Orchesterklang – einer der wenigen Vorteile, die der Hammerflügel gegenüber einem modernen Instrument hat.
Dass das Orchester mit der oft fein gesplitteten Instrumentation Burgmüllers nicht ganz zurechtkam, klanglich gelegentlich etwas auseinanderdriftete und auch nicht jedes Solo lupenrein gelang, war nach der Pause schnell vergessen. Jetzt offenbarte Bernius wieder einmal seine besondere Affinität zu Mendelssohn: Ein frischer Wind zog durch den Saal, als dessen Schottische Sinfonie für stürmische Wechsel von Schatten und Licht, krasse und intensive Klanglichkeit sorgte. Nicht zu schön, mehr naturhaft rau und wild, dabei leicht und luftig spielte die Hofkapelle. Das ist Romantik!
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten von heute. Das Konzert fand statt am 5. Februar 2010.
Martin Stadtfeld und das Philharmonische Kammerorchester München in der Stuttgarter Liederhalle
Stuttgart - Man solle Bach zwar nicht "romantisch" spielen, aber "schon ein bisschen poetisch", sagte der Pianist Martin Stadtfeld einmal in einem Interview. Das ist einige Jahre her. Der damals 23-Jährige hatte gerade mit seiner Einspielung der Bach'schen Goldbergvariationen international Aufsehen erregt. Heute ist Stadtfelds Bach mehr als nur ein bisschen poetisch. Er ist sehr romantisch.
Davon konnte man sich jetzt im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle überzeugen, wo der schöne Tastenlöwe zusammen mit dem Philharmonischen Kammerorchester München Bachs Klavierkonzerten in g-Moll, D-Dur und A-Dur das Mäntelchen der klassisch-romantischen Sonatenspielkultur überzog: mal lyrisch kantabel, mal dramatisch zupackend, setzte der 31-Jährige immer wieder markante Kontraste. Das war keineswegs langweilig. Nur vernebelte das die polyphonen Strukturen, die nun mal eben Bachs Geist ausmachen. Vor allem in den melancholischen Mittelsätzen weichte Stadtfeld die Töne ein in süße Pedalmarinade. Schön klang das, hochmusikalisch und farblich fein durchgehört. Aber mit barocker Klangästhetik hatte das nichts zu tun.
Dank Stadtfelds fein nuancierter Anschlagskultur blieb allerdings das Lautstärkenverhältnis zwischen klangmächtigem Konzertflügel und den 16 Streichern des Kammerorchesters – alle Mitglieder der Münchner Philharmoniker – bemerkenswert ausgewogen. Flexibel und musizierfreudig entgegneten die Münchner Stadtfelds Klangfarbenzaubereien.
Und unter Leitung ihres Konzertmeisters Lorenz Nasturica-Herschcovici sorgten sie mit Mendelssohns Jugendsinfonie Nr. 9 für den eigentlichen Höhepunkt des Abends: Inspiriert, energiegeladen, transparent im Zusammenklang und liebevoll im Detail machten sie die Qualitäten dieses Werks hörbar, in dem ein 14-Jähriger zwar noch Orientierung suchte in altbewährten Kompositionsmustern, aber doch schon unverkennbar eigene Tonfälle vorzuweisen hatte wie etwa Elfenflirren und folkloristischen Melos. Ein Ohrenschmaus!
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 30. Januar 2012. Das Konzert fand statt am 27.1.
Anne-Sophie Mutter mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart
Stuttgart – Rasend schnelle Läufe und Doppelgriffakkumulationen, wie sie Max Bruchs erstes Violinkonzert fordert, bewältigt Anne-Sophie Mutter traumwandlerisch. So auch in ihrer jüngsten Darbietung des Werks im voll besetzten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle, wo sie gemeinsam mit dem Radio-Sinfonieorchester (RSO) und dem britischen Dirigenten Michael Francis das Auftaktkonzert zu einer kleiner Tournee durch Deutschland und die Schweiz gab.
Mit souveräner Fingerfertigkeit und einem schlackenfreien, farblich fein abschattierten Ton gelang ihr eher eine intellektuelle Durchdringung des virtuosen Materials als eine aufgewühlte Präsentation eines Schmachtfetzens. Das Adagio spielte Mutter ernst und nachdenklich, weniger schmerzerfüllt und dunkel verträumt, oft auch mit großem, beinahe heroischen Ton, der schon auf das wütende Finale vorausdeutete.
Aber Bruchs Evergreen, mit dem der Abend endete, war keineswegs der Höhepunkt des Konzerts, das im zweiten Teil eher schwächer wurde. Auch weil das RSO hier über das bloße Begleiten nicht wirklich herauskam und wenig an der Differenzierung der Stimmungen mitarbeitete. Auch in Felix Mendelssohns Konzertouvertüre "Die Hebriden", in der sich des Komponisten Natureindrücke während einer Schottlandreise widerspiegeln, wirkten das RSO und sein Gastdirigent nicht wirklich inspiriert. Unsicherheiten in der Bläserfraktion und eine maue Farbgestaltung von Seiten der Streicher deuteten darauf hin, dass in dieses Stück wohl nur wenig der Probezeit investiert worden war.
Spannend und dramaturgisch klug aufgebaut dagegen war der Abend vor der Pause. Dafür sorgten nicht nur Charles Ives' sinfonische Dichtungen "Three Places in New England", die angesichts ihrer frühen Entstehung zwischen 1903 bis 14 geradezu avantgardistisch anmuten, sondern vor allem Zeitgenössisches.
Denn Anne-Sophie Mutter hatte sich ungewöhnlicherweise für zwei Auftritte entschieden. Mit "Time Machines" für Violine und Orchester des US-amerikanischen Komponisten Sebastian Currier, das sie selbst 2011 zur Uraufführung gebracht hatte, offenbarte Mutter ihr feines Gespür für neue Klänge und ihre vielen Stimmungs- und Farbfacetten. Wenn "Time Machines" auch nicht gerade das ist, was auf einem Spezialistenfestival als Avantgarde durchginge, so ist es dank seiner vielen überraschenden Klangmomente doch ein echter Ohrenputzer für ein klassisches Sinfoniekonzert und dessen Publikum. Die unterschiedlichen Kategorien musikalischer Zeit, die Currier in den sieben Sätzen dargestellt wissen will, erklären sich durch Überschriften von selbst. Nervös tarantellahaft gibt sich etwa "fragmented time", flächig und träge dagegen "delay time". Gehetzter Leerlauf prägt "compressed time" und aphoristisch und nachhallend ist die Wirkung von "backwards time". In diesem Werk funktionierte die Kommunikation zwischen Solistin und Orchester perfekt, konnten dank Michael Francis' vorausschauendem Dirigat die vielen, auch witzigen Echowirkungen zwischen Solo und Tutti sowie die ständigen Impulse von Seiten der Solistin, die vom Orchester dann fortgesponnen werden, zu ihrem Recht kommen. Ein Werk, das man zweifelsohne gerne noch mal hören würde.
Rezension für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 20. Januar.
Christian Brey inszeniert Nicky Silvers "Die Altruisten" am Stuttgarter Staatsschauspiel
Stuttgart – Drei Schüsse feuert Sydney auf ihr Liebeslager ab. Die Daunendecke spuckt Gänsefedern. Sydney hat sich in ihrer zehnminütigen Gardinenpredigt, mit der sie ihren Geliebten Ethan bombardiert, derart in Rage und Selbstmitleid gebrüllt, dass ein theatralischer Schlusspunkt gar nicht ausbleiben kann. Solcherart Auftritte beherrscht sie perfekt. Schließlich ist sie ein TV-Seifenopern-Star. Dass sie bald erkennen muss, dass der Tote unter der Bettdecke gar nicht Ethan ist, sondern irgendein Typ, der vom nächtlichen Besäufnis in ihrem schicken Loft übriggeblieben ist, entlockt ihr gerade mal ein lakonisches "Shit!". Dumm gelaufen: Drei Schüsse lassen sich nicht mehr als Selbstmord kaschieren. Grandios spielt Minna Wündrich diese tumbe, selbstverliebte, ignorante Nervensäge.
Egomanisch ohne Scham
In Christian Breys Staatstheater-Inszenierung der schwarzhumorigen Komödie "Die Altruisten", die jetzt im Stuttgarter Kammertheater in einer Übersetzung von René Pollesch Premiere hatte, laufen die Protagonisten bei allem Klamauk durch die Welt wie offene Rasiermesser. Natürlich ist der Titel des Stücks des US-amerikanischen Bühnenautors Nicky Silver ironisch gemeint. Niemand der fünf Personen auf der Bühne kümmert sich selbstlos um andere. In ihrem nur dem Moment geschuldeten Gebaren frönen sie offen und ohne Scham egomanisch ausschließlich den eigenen Bedürfnissen. So Sydneys Bruder, der Sozialarbeiter Ronald (gefährlich verständnisvoll: Benjamin Grüter), der sich den süßen Callboy Lance mit nach Hause nimmt, ihm geil die Liebe und wortreich eine rosige Zukunft verspricht. Genauso die lesbische Aktivistin Cybil (schön aufgedreht: Dorothea Arnold), die ein derart mieses Gedächtnis hat, dass sie weder weiß, wogegen sie an diesem Tag demonstrieren will, noch dass sie mit Männern, die sie alle für "patriarchalische Borderline-Muschis" hält, eigentlich gar nicht ins Bett geht. So kriegt Ethan (sehr athletisch: Claudius von Stolzmann), der sich mit Sydneys Geld sein Casanovatum finanziert, von seiner vermeintlichen Ermordung gar nichts mit, weil er unter der Bettdecke Cybils nächtigte. Und der Stricher Lance (sympathisch und sexy: Jan Jaroszek) lässt sich selbstverständlich jede Minute von Ronald bezahlen. Er arbeite aber auf keinen Fall montags oder an Feiertagen.
"Die Altruisten" schrieb Nicky Silver 1998. Sie spielen also im New York der Zeit vor Nine-Eleven, als das Schlagwort Spaßgesellschaft aufkam, um die herrschende Lebenseinstellungsmixtur aus Hedonismus, Konsumgeilheit und fehlendem gesellschaftlichen Engagement zu kritisieren. Aufs Korn nimmt Silver hier die Mittdreißiger, die verzogenen Mittelsstandsprösslinge, deren Lebensrhythmus von Sex und Drugs bestimmt wird. Die Demonstrationskultur ist Zeitvertreib, befeuert von einer "Ich bin gegen alles"-Mentalität. Cybil, Ronald und Ethan treffen sich regelmäßig im Park, um an Demos teilzunehmen: "Fick den Yuppie-Abschaum und ihre französische Küche und Grundstückspreise und den Geburtenrückgang und die Kinoeintrittspreise und Starbucks!", schreit Cybil aggressiv und vergisst beim "Befreit Nelson Mandela"-Skandieren, dass der Mann längs Präsident Südafrikas gewesen ist.
Die Patina, die "Die Altruisten" gerade angesichts der wutbürgerlichen Stuttgart-21-Proteste und der Occupy-Bewegung angesetzt hat, treibt Christian Brey ihnen wieder aus. Durch Tempo, Slapsticks, Überspitzung und hervorragende Darsteller. Brey ließ sich vom Comedy-Boom der 90er Jahre inspirieren, vom Soap-Diva-Dasein Sydneys und von der scharfen Schnitttechnik des Stücks. Die Protagonisten agieren unter Hochdruck, verbraten ungeheuer textsicher Unmengen an Wortmaterial, setzen die Pointen perfekt, schmeißen sich rücklings in die Tiefe, hüpfen und tanzen durchs Publikum.
Das Bühnenbild von Anette Hachmann gibt den Blick frei auf drei chillige Lofts, zwischen denen hin und her gezappt wird. Im Zentrum eine rote Leuchtreklame, die im Laufe des Abends Buchstaben verliert und so vom "Hello there" zum "Hell here" mutiert. Drumherum ein graziles, hohes Holzgerüst, hinter dem sich ein Prospekt mit allerlei amerikanischen Symbolen in die Höhe räkelt: Gozilla, Wolkenkratzer und Freiheitsstatue.
Der Mensch hat per se keine Moral. Das ist die traurige Botschaft des Stücks. Denn das dicke Ende kommt: Das herzlose Quartett opfert den jungen Stricher, lockt ihn in Sydneys Appartement, wo Leiche und Waffe warten, und meldet der Polizei einen Einbrecher. Später geht man auf die Antitodesstrafen-Demo: Ein junger Mann wurde wegen Mordes unschuldig zum Tode verurteilt. "Morgen werden sie seinen süßen Arsch grillen", witzelt Sydney, und Ronald sucht sich einen neuen Lover.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 17. Januar 2012. Premiere war am 14.1.
Cannstatter Reihe "Musik am 13." mit einem Geburtstagskonzert für John Cage
Stuttgart – Am Ende wurden einige Zuhörer in der gut gefüllten Stutgart-Bad Cannstatter Stadtkirche doch ein bisschen ungeduldig und verließen frühzeitig das Gotteshaus. Nach 25 Minuten organistischem "ASLSP" von John Cage (Abkürzung für zu deutsch: so langsam wie möglich) befürchteten sie wohl ähnliche Zeitverhältnisse wie in der Halberstädter Sankt-Burchardi-Kirche, wo die achtseitige Partitur von "ASLSP" seit 2001 gedehnt auf 639 Jahre erklingt. Man nimmt den Titel dort eben sehr ernst, weswegen der nächste Klangwechsel erst am 5. Juli dieses Jahres zu erwarten ist.
Das Publikum in Bad Cannstatt hätte dagegen nur noch ein paar Minütchen ausharren müssen. Denn Marco Bidin an der Orgel, der zuvor schon mit Oliver Messiaens "Offrande et Alleluja final" eine hochvirtuose Kostprobe seines Könnens gegeben hatte, hielt sich bei seiner meditativen Gestaltung von Liegetönen, Pausen und gehaltenen Akkorde ziemlich genau an die Uraufführungsdauer.
Auch dieses Konzert der Reihe "Musik am 13." anlässlich Cages 100. Geburtstag offenbarte wieder einmal, dass Cages Ideen die Erwartungshaltung der Zuhörer noch immer prächtig konterkarieren. So auch "Child of Tree" für einen Schlagzeuger, in dem der Solist die zehn Instrumente aus Pflanzen oder pflanzlichem Material weitgehend selbst aussuchen darf: Raphael Sbrzesny – mit Rockabilly-Tolle und schwarzem Anzug – hatte sich neben den vorgeschriebenen Kaktussen für Birkenäste, hölzernes Strandgut, Stroh und Bambusrohre entschieden, um die etwas mystisch wirkende Performance aus Hämmern, Ploppen, Kruscheln und gläsernem Kaktusstachelvibrieren gekonnt zu bewältigen.
Auch das Knacken der Holzbänke, das das Konzert begleitete, weil die Zuschauer permanent und neugierig die Köpfe streckten, um zu erkennen, was der junge Mann denn wohl gerade für ein "Instrument" betätige, fügten sich prima in Cages Konzept. Glücklich war, wer am Ende eines der Primelchen mit nach Hause nehmen dürfte, die als Auffang rieselnden Strohs gedient hatten und die der Perkussionist als Finale seiner Darbietung im Publikum verteilte.
Besprechung für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 16. bzw. 17. Januar 2012. Das Konzert fand statt am 13.1.
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart mit dem Pianisten Fazil Say und dem Dirigenten Gerd Albrecht
Stuttgart – Dass eine solistische Zugabe das Highlight eines großen Sinfoniekonzerts werden kann, ist kurios. So war's aber im jüngsten Abo-Konzert des Stuttgarter Radio-Sinfonieorchesters (RSO) im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle. Der Pianist Fazil Say demonstrierte in Mozarts "Ah! vous dirai-je, Maman"-Variationen seine besondere Begabung im variativen und lyrischen Spiel. Mit leichtem, perlendem Anschlag, mit einfallsreicher Akzentuierung, mit Spielwitz und Innigkeit modellierte er unterschiedlichste Gesichter, die Mozarts variatives Gelegenheitswerk in eine Folge anrührender und extravaganter Charakterstücke verwandelte.
Sein eigentlicher Beitrag zum Programm, Mozarts A-Dur-Klavierkonzert KV 488, wirkte indes wie eine vom Augenblick inspirierte Stegreif-Interpretation – mit manch einem wunderbaren Klangmoment freilich, der utopische Ferne suggerierte, doch insgesamt ohne klares Konzept.
Es ist Says Personalstil geworden, sich während des Spiels zu winden, zu verdrehen, mitzusingen und die Stimme der rechten Hand, wenn es der Klavierpart zulässt, mit der linken Hand zu segnen, als sei jeder Ton, der dem Flügel entschwebt, eine süß ersehnte Offenbarung. Solcherlei Verhaltensauffälligkeiten mögen in einem Solo-Recital noch in Ordnung sein, in der Zusammenarbeit mit einem erstklassigen Orchester stört das außerordentlich. Wenn Says Körper, statt sich dem Flügel zuzuwenden, im Orchester hing, als erbitte er von der Konzertmeisterin Streicheleinheiten, wie er dem Orchester pädagogisch deutlich zu machen schien, wie es zu spielen habe, lenkte von der Musik ab, wegen der man ja eigentlich da war.
Zumal das Solokonzert eine Gattung ist, die über Jahrhunderte deshalb nichts von ihrer Faszination verloren hat, weil sie so viel mitzuteilen hat über das Verhältnis von Individuum und Kollektiv. An diesem Abend jedoch drohte das RSO Spielball des Solisten zu werden.
Der Rest des Abends fiel der völligen Bedeutungslosigkeit anheim. Gerd Albrecht, der für den erkrankten Neeme Järvi eingesprungen war, zeigte, was geschieht, wenn ein Dirigent mit seinem Orchester so gut wie nichts anzufangen weiß. Dabei war das Programm geändert und Albrechts Bedürfnissen angepasst worden. In Erwin Schulhoffs neoklassizistischer 2. Sinfonie von 1932 machte das RSO Dienst nach Vorschrift, korrekt und transparent im Klang, aber scheinbar ohne innere Beteiligung. Das Finale geriet gar so spannungslos, dass das Publikum am Ende irritiert reagierte, weil es nicht so recht wusste, ob das jetzt der Schlusspunkt oder nur eine Binnenpause war.
Und was hatte Albrecht dem RSO bloß in den Proben zu Smetanas sinfonischen Dichtungen aus dem Zyklus "Mein Vaterland", die er als ehemaliger Chef der Tschechischen Philharmonie wohl unzählige Male zur Aufführung gebracht hat, befohlen? Dass sie sich bitte mit den Klangfarben zurückhalten, dass sie den Anfang der "Moldau" ganz besonders laut spielen und insgesamt ordentlich viel Pathos aufschäumen lassen sollen? Die "Moldau" geriet so zu einem draufgängerischen Beitrag zu einem "Best of Smetana"-Potpourri, und nicht zu einem geheimnisvoll schillernden Fluss. Es ist die Aufgabe des Dirigenten, das Kleine ins Große zu integrieren, Zusammenhang herzustellen, die besonderen Qualitäten eines Klangkörpers auszureizen. Das ist Albrecht an diesem Abend deutlich misslungen.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 14./15. Januar 2012. Das Konzert fand statt am 12.1.
Der Schriftsteller Martin Walser gibt ein "Wunschkonzert" im Stuttgarter Literaturhaus
Stuttgart – "Mein Alfred" und "mein Held" sagt Martin Walser jedes Mal liebevoll, wenn er von der Hauptfigur seines 1991 erschienenen Romans „Die Verteidigung der Kindheit“ spricht. Walser, der gerne als "großer Dichter der kleinen Leute" bezeichnet wird, als scharfer Beobachter und Chronist deutscher Befindlichkeit, war am Montagabend mal wieder zu Gast im Stuttgarter Literaturhaus. Es war diesmal keine gewöhnliche Lesung, sondern ein "Literarisches Wunschkonzert". Das Publikum durfte Textstellen wählen, die Walser dann aus dem Stegreif lesen musste – nicht ohne zwischendurch immer mal wieder genüsslich an seinem Glas Weißwein zu nippen. Es gab einen Flyer, auf dem die 20 Bände der gerade erscheinenden Walser-Gesamtausgabe – die die alte Werke-Sammlung von 1997 um acht Bände erweitert – aufgelistet waren inklusive ihres Seitenumfangs. Die Werktitel waren leider nicht verzeichnet, weswegen die Wahl der Zuschauer dann recht willkürlich ausfiel.
Im eigenen literarischen Labyrinth
Das hatte allerdings den Vorteil, den Dichter, der am 24. März 85 Jahre alt wird, bei der Orientierung in völlig aus dem Zusammenhang gerissenen Textfetzen zu beobachten. Wenn es auch nicht die Unterhaltungserwartungen eines jeden im Saal traf: Es war wirklich faszinierend mitzuerleben, wie der Mann mit den buschigen Augenbrauen im eigenen Satzgeflecht nach Anhaltspunkten suchte, an welchem Ort seines riesigen literarischen Kosmos er sich wohl gerade befinde, und wie er sich gelegentlich über die eine oder andere eigene Wortfindung wunderte. Etwa über "spillerig" für hager: Er habe dieses seltsame Wort tatsächlich nur einmal, eben an dieser Stelle in der "Verteidigung", verwendet, erklärte Walser.
"Band 14, Nummer 1, Seite 320 bitte", ruft ein Mann. Und flugs landet Walser im "Lebenslauf der Liebe" von 2001, muss blitzschnell die "komplizierten Familienverhältnisse" des Romans durchschauen. "Ich weiß jetzt auch nicht genau, worum es geht, das ist so lange her", muss er zugeben. Er tastet sich aber weiter mutig durch die Worte, bevor es ihm bei "Wenn sie Edmund zu Bett brachte" schlagartig klar wird: "Ah, Edmund muss Susis Mann sein". Jetzt rezitiert er flüssiger.
Moderatorin Thea Dorn hat nicht viel zu tun an diesem Abend. "Band 18, Seite 460", fordert eine Dame, und Walser sieht sich mit seinem neuesten Roman "Muttersohn" konfrontiert: "Fred sagte, daran müsse Percy sich gewöhnen", liest der greise Dichter, das königsblau eingeschlagene Buch dicht vor dem Gesicht. "Ah, das fängt in einem Auto an", als trage das jetzt allgemein zum Verständnis bei. Tut es nicht wirklich. Walser skandiert mal weich stockend, dann ganz entspannt stolperfrei, immer aber stark akzentuiert, mit rollendem R und vielen Hebungen.
Vom "Muttersohn" geht’s in die "Halbzeit" (1960), in die "Brandung" (1985), in "Ein springender Brunnen" (1998). Kurzer Halt in seiner Dankesrede zum Hermann-Hesse-Preis, den er 1957 verliehen bekam. Darin echauffierte er sich über die Tatsache, dass die Feuilletons seinerzeit von den Schriftstellern beständig Gesellschaftskritik forderten. Dabei seien die Autoren doch selbst Teil der Gesellschaft. Heute scheinen ihn seine damaligen Statements zu amüsieren.
Etwas schöner sagen, als es ist
Elfmal schlägt Martin Walser an diesem Abend ein Buch auf. Zweimal trifft er auf Alfred. Ein Zuschauer möchte das Ende der "Verteidigung der Kindheit" hören. "Das ist der Schluss eines ganzen Romans", sagt Walser, als wolle er um Verzeihung bitten. Romanschlüsse seien unschuldig. Der Autor sei ab der Hälfte der Romans nur noch Erfüllungsgehilfe des Gewordenen. Und dann sagt er überraschend: "Ich ertrage keine negativen Schlüsse". Ein Roman müsse gut ausgehen. Ein Roman habe einen Nachhall, werfe "weiße Schatten". Anders als die Wirklichkeit, in der alles "tonlos" oder "katastrophal" ende. Schreiben bedeute für ihn, etwas so schön zu sagen, wie es nicht ist.
Ausschnitte aus der Lesung kann man in der 90-minütigen Dokumentation "Martin Walser – ein Leben für Alle und Keinen" sehen, die 3sat am 24. März um 21.45 Uhr anlässlich des 85. Geburtstags des Dichters sendet.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Die Lesung fand statt am 9.1.
Erste Folge der Theaternovela "Praxis Löwentorbogen" am Stuttgarter Staatstheater
Stuttgart – Am Programmzettel heftet ein Tempotaschentuch. Es darf geheult werden – so wie auf der Bühne: Bitterlich weinend bricht Doktor Felix Becker, Urologe aus Leidenschaft, im Sprechzimmer zusammen, nachdem seine werte Gattin gedroht hat, ihn zu verlassen. Sie erträgt die Zweizimmerwohnung nicht mehr, in der das Paar mit den vier Kindern leben muss. Die zierliche, kräftig keifende Gundula (Maya Maria Drücker) haut ihrem Felix (Alexander Zieschank) derart eins vor den Latz, dass der auf den Stuhl donnert und mit ihm nach hinten wegkippt. Entweder kauft der Doktor die Villa auf dem Killesberg, oder Gundula packt die Koffer. Felix ist verzweifelt. Geld ist keines da. Ein Kredit wurde ihm von der Bank gerade verwehrt.
Es ist die völlige Übertreibung, die das Taschentuch bald zum ironischen Wink macht. Natürlich braucht es niemand im ausverkauften "Nord", in dem das Staatstheater jetzt mit dem Start ihrer Theaternovela "Praxis Löwentorbogen – Schicksale im freien Fall" mit einem neuen Format experimentiert: Fortsetzungstheater, das Krankenhaus-Seifenopern wie "Praxis Bülowbogen", "Schwarzwaldklinik" oder "In aller Freundschaft" auf die Schippe nimmt und mit den Bedingungen der Telenova mischt. Vier Folgen sind zunächst geplant, aufgeführt wird jede nur einmal. In Folge 1 "Mineralquelle des Todes" spielen drei Ensemblemitglieder und dreizehn Laiendarsteller. Geworben wurde mit "spektakulär niedrig dosierten Probezeiten".
Kann das gutgehen? Na klar: Der Low-Budget-Abend bietet eine gelungene, heiter-skurrile Parodie der populären TV-Soaps. Und er lebt eben auch vom Charme eines gekonnt und leidenschaftlich ausgestellten Dilettantismus. Der erhält etwa in der Figur der ökologisch inspirierten OB-Kandidatin Ricarda Schaffer, die dafür kämpfen will, dass sich "Kommerz und Krötenwanderung auf der Königstraße nicht mehr ausschließen", geradezu eine zeitkritische Komponente. Im Spiel der Laiendarstellerin Eva Konrad kann man durchaus eine Spiegelung des dilettantischen Agierens des Bundespräsidenten entdecken. Ansonsten setzt das "Drehbuch" von Regisseurin Catja Baumann – der künstlerischen Leiterin des "Nord" – und Dramaturgin Katrin Spira auf schrille Überzeichnung, absurde Dialoge und verwirrende Handlungsstränge.
In Stuttgart bricht ein fieser Virus aus, dessen Ursprung niemand kennt. Blutspuckende, fiebernde Patienten werden eingeliefert. Chefarzt Dr. Eugen Lacoste (Boris Burgstaller) ist hilflos, und der zynische Oberarzt Dr. Paul Schöller (Fridolin Y. Sandmeyer) legt lieber Schwestern flach oder drückt Assistenzärztin Mia-Maria Svensson (Vanessa Nebenführ) einen 3-Minuten-Knutscher auf den Mund, als sich um die Kranken zu kümmern. Hobbymalerin und Chefarztgattin Gräfin Victoria Wagenburg-Lacoste (Birgit Filzek) bereitet derweil ihre Vernissage im Mineralbad vor zum Thema "Vier Schanzen am Rosensee – eine Hommage an das Klima " und spannt dafür die gesamte Klinik ein, als sei's ihre private Produktionsfirma. Mit ihrem "bescheidenen Oeuvre" will sie Claude Monet "ein Denkmal setzen".
Im dreigeteilten, Film-Sets nachahmenden Bühnenbild von Daniel Unger lässt sich flugs zwischen Rezeptionsbereich, Sprechzimmer und Zweibettenraum hin- und herzappen. Kitschmusikeinspieler und Farblichtwechsel kommentieren in tv-artiger Manier emotionale und erotische Ereignisse oder leiten Werbepausen ein, die hier selbstverständlich ausschließlich für Staatstheater-Produktionen gemacht werden. Tanzeinlagen in witzigen Kostümen von Johanna Kaelcke sorgen immer wieder für Lacher. Vor allem im furios-spektakulären Finale, wenn auf der Vernissage der Gräfin die gesamte Personnage aufeinandertrifft und das Klinikpersonal unter Anleitung von Oberschwester Olga (Jutta Conrad) ein wunderbar groteskes Ballet auf Vivaldis "Winter" vollführt: mit riesigen weißen Papierblumendrappagen auf dem Kopf, sich Rosen an den Kopf hauend und skurrile Worthülsen in die Luft blubbernd. Am Ende brechen sämtliche Krankenschwestern blutspuckend zusammen. Nun muss Dr. Lacoste Stärke zeigen. Er schickt Dr. Schöller in den Urwald. Wird der arrogante Zyniker dort jene geheimnisvolle Pflanze finden, die dem grauenhaften Virus Einhalt gebieten kann? Fortsetzung folgt am Dienstag, 7. Februar, um 20 im "Nord".
Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Premiere war am 6.1.
Neujahrskonzert des Staatsorchesters mit Gabriele Ferro in der Stuttgarter Staatsoper
Stuttgart – Mit seinem am Ende umjubelten Konzert läutete das Stuttgarter Staatsorchester am frühen Sonntagabend das Neue Jahr ein – diesmal nicht im Orchestergraben, sondern als Protagonist auf der Bühne der ausverkauften Staatsoper. Der begeisterte, sehr lange Schlussapplaus darf wohl vor allem als eine warme Zuneigungsbekundung für den italienischen Dirigenten Gabriele Ferro gedeutet werden, der von 1992 bis 1997 Musikchef des Hauses am Eckensee war. Die Dramaturgie des Abends, die sich durch das eher schwammige Motto "Neujahrsnacht – und -Frühstücke" ergeben sollte, stellte derweil nur schwache Zusammenhänge her.
Zunächst standen zwei Opern-Ouvertüren Gioachino Rossinis auf dem Programm. Rossini-Ouvertüren gehören zu den Lieblingen des Konzertsaals. Das liegt an ihren brillanten, eingängigen Melodien, den mitreißenden Orchestercrescendi, der witzigen Rhythmik, der raffinierten Instrumentierung. Einfach zu spielen ist das nicht. Dass sie an diesem Abend nicht wirklich zünden wollten, lag am fehlenden Spannungsbogen, den Ferro nicht straff genug hielt.
Gut geprobt wirkte weder die Ouvertüre zu "La scala di seta" noch jene zu "Semiramide". Beiden mangelte es an geschmeidiger Dynamik, genauer Artikulation und pointiertem Rossini-Witz. Verwirrung stiftete die Semiramide-Ouvertüre bei ihrem zweiten Auftreten als Zugabe. Sie klang nun so anders, dass manch einer im Raum dachte, er höre ein drittes Beispiel Rossini'scher Ouvertüren-Kultur.
Als Vorgeschmack auf die bevorstehende Premiere am 22. Januar, die Gabriele Ferro derzeit am Haus einstudiert, gab's einen Ausschnitt aus Vincenzo Bellinis "La Sonnambula". Ana Durlovski, seit dieser Spielzeit Ensemblemitglied, sang die finale Szene und Arie der Hauptperson Amida, der in dieser Oper Liebesgram widerfährt, weil sie schlafwandelnd ungewollt im Bett des falschen Mannes landete. Die Koloratursopranistin gestaltete mit sicherer Höhe und großem Gefühl, derweil sich das Probestadium in ihrer gelegentlich noch zu vorsichtigen Zurückhaltung zeigte. Vom eigentlichen Potential des Orchesters war am Ende des ersten Teils noch nicht viel zu hören gewesen.
Das änderte sich nach der Pause. In Maurice Ravels "Alborada del Gracioso" und Igor Strawinskys "Feuervogel"-Suite offenbarte das Staatsorchester Farbkraft und rhythmische Flexibilität, doch auch hier sackte die Spannungskurve immer wieder ab. Vor allem in den langsamen Tempi löste sich die vorher sorgsam erspielte Energie in Luft auf, Schläfrigkeit breitete sich aus. Das kann das Staatsorchester eigentlich viel, viel besser.
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 1.1.
Inspirierte Harmonie: Die argentinische Cellistin Sol Gabetta und die Cappella Gabetta im Stuttgarter Beethovensaal
Stuttgart - Da klapperten einem beinahe die Zähne: So klirrend kalt und scharfkantig, wie ihn die Cappella Gabetta spielte, hat man den Beginn von Vivaldis „Winter“ aus den „Vier Jahreszeiten“ wohl noch nie gehört. Und auch nicht so extrem leise beginnend und dann bedrohlich immer wieder an- und abschwellend, dass einem eisiger Wind vom Podium entgegen zu blasen schien.
Klangexperimente gab es viele zu hören an diesem Abend im gut gefüllten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle, an dem sich die Cellistin Sol Gabetta gemeinsam mit dem nur 14-köpfigen Alte-Musik-Ensemble Virtuosenmusik und Concerti grossi italienischer Barockmeister widmete.
Vivaldis „Winter“ klang frisch und aufregend, keine Spur von trägem Ohrwurmdasein. Nicht nur, weil es exzellent und fantasiereich musiziert war, sondern sicher auch, weil es eine Bearbeitung für Cello war, die das Original für Violine kräftig eindunkelte.
Originalwerke für Cello gab es aber natürlich auch zu hören, darunter eine Rarität: ein Konzert von Giovanni Benedetto Platti, das sich vor allem durch eine gezähmtere Virtuosität von denen Vivaldis unterschied. Kurios die Anmerkung im Programmheft, es handele sich hier um die „Welterstaufführung in der Neuzeit“, als gehöre Platti, geboren 1697, noch dem Mittelalter an.
Vor allem aber in zwei Cellokonzerten Vivaldis bewies Sol Gabetta, dass sie, die Vielseitige, auch dem Barock überraschende Klangergebnisse entlocken kann: Faszinierend, wie sich die 30-Jährige mit wild fliegender Mähne und Barockbogen durch rasende Läufe arbeitete und sie mit einem derart trockenen Staccato-Sound versah, dass diese mehr perkussiv-geräuschhaft zu Gehör kamen denn als eine Kette unterschiedlicher Töne. Kein Schönklang-Barock, aber ein äußerst elektrifizierender. Im Kontrast zu den extrovertierten Experimenten in den Außensätzen gestaltete die schöne Argentinierin die langsamen Mittelsätze als völlig verinnerlichte Meditationen - und das mit einer geradezu improvisatorisch anmutenden Tempofreiheit.
Die Cappella Gabetta, die von Sols Bruder Andrés als Konzermeister geleitet wird, ging die agogischen Freiheiten geschmeidig und flexibel mit und bewies dann auch „solistisch“ ihre besondere Klasse. Dass dieses Ensemble erst im letzten Jahr gegründet wurde, mag man gar nicht glauben, so inspiriert und kommunikativ ist das Zusammenspiel der Musiker. Nicht nur Corellis Concerto grosso „Fatto per la notte di natale“ bezauberte und erwärmte durch delikat herausgearbeitete harmonische Farbspiele, durch eine emotional durchgeformte Mehrstimmigkeit und Dynamik, die mit Extremen zu überraschen weiß, die oft genug den kaum hörbaren Bereich berühren. Man würde das Konzert gerne noch einmal in einer akustisch angemesseneren Umgebung als dem Beethovensaal hören, der für diese kleine Besetzung sowie für Barockbögen, Cembalo und Gitarre viel zu groß ist.
Rezension für die Eßlinger Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten vom 23.12.2011. Das Konzert war am 21.12.
„Südseite nachts“ mit dem ensemble mosaik im Theaterhaus
Stuttgart - „Südseite nachts“ heißt eine Konzertreihe im Stuttgarter Theaterhaus. Dort bringt Musik der Jahrhunderte seit einem Jahr aktuellste Kompositionen in entspannter Lounge-Atmosphäre zum Erklingen. Am Eingang gibt’s einen Begrüßungsdrink, im Salon stehen Sessel und Sofa zum entspannten Hören bereit, und nach dem Konzert kann man dann an der Bar weiter relaxen.
Im vierten „Südseite“-Konzert gab es jetzt Kammermusik für zwei bis fünf Instrumente zu hören - geschrieben wurde sie in den letzten vier Jahren von acht Komponisten unterschiedlicher Nationalität. Dementsprechend kontrastreich war der Abend, der von kaum hörbarer Flüstermusik bis zu schrillster Ohrenbetäubung reichte.
Zu Gast war das Berliner ensemble mosaik - eine jener engagierten Spezialisten-Truppen, ohne die eine so professionelle Aufführung Neuester Musik aufgrund der Verwendung von vorwiegend nichtklassischen Spieltechniken nicht möglich wäre. Das ensemble mosaik versteht sich als „Forschungslabor“ und hat sich als solches dem klanglichen Experiment und der Eroberung musikalischen Neulandes verschrieben. Es arbeitet eng mit Komponisten zusammen, so etwa mit Chatschatur Kanajan, der im Ensemble auch die Violine streicht.
Duell mit dem Pianisten
Harald Muenz‘ vitales „fein ... auflösend“ mutete noch vergleichsweise neoklassizistisch an, ließ zwischendurch gar Weihnachtslieder aufscheinen und arbeitete mit Moll-Dur-Wechseln, trieb die Verfremdung aber soweit, dass jede Klarheit verwischt war. Während sich in Evan Johnsons „L‘art de toucher le clavecin“ die Kommunikation zwischen zart wispernden Violin-Flageoletts und verhalten vibrierenden Flötenhauchen intim gestaltete, ging es in Samir Odeh-Tamimi „Jabsurr“ hart zur Sache: Jetzt lieferte sich das Cello mit heulenden Glissandi ein instrumentengefährdendes Duell mit dem Pianisten, der mit Fäusten, Ellenbogen und Handrücken Tontrauben in den Flügel hämmerte.
„Verschwinden einer Landschaft“
Chatschatur Kanajans Werk „AC/Taqsim/DC“, das klangliche Erkenntnisse aus der Stromwechselspannung mit dem orientalischen Gebetsgesang zusammenbringt, gefiel dagegen durch seine perfekte Dauer. Es war keine Sekunde zu lang, was man von einigen Stücken an diesem Abend nicht sagen kann, etwa von Sergej Newskis „Glissade“, das den Gleitflug eines Flugzeugs nachzeichnen will und in seiner schleppenden Aneinanderreihung von mehrstimmigen Flöten- und Klarinetten-Klängen schnell ermüdet. SukJu Nas „< >“, ein kunstvoll vertracktes, eruptives Netz aus Tönen und Geräuschen, auffahrenden und schreienden Gesten, setzte dagegen einen denkbar großen Kontrast zum fein komponierten und zerbrechlichen „Verschwinden einer Landschaft“ für Streicher und Klavier von Joanna Wozny.
Das Finale gehörte dann Clinton McCallums „in a hall of mirrors waiting to die“, in dem das virtuose Gewusel des Pianisten immer wieder von einem hohen, extrem schrillen Ton des Sopransaxophons überlagert wird. Danach waren die Ohren aber wirklich satt.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten vom 22.12.2011. Das Konzert war am 20.12.
Katja Schmidt-Oehm spielt im Stuttgarter Theaterhaus „Mondscheintarif“
Stuttgart - Ildikó von Kürthy produziert einen Bestsellerroman nach dem anderen. Sieben sind bisher erschienen. Die Gesamtauflage ihrer Bücher beträgt mittlerweile über sechs Millionen. Dass die Frau Kolumnistin der Zeitschrift „Brigitte“ ist und im Interview Geblubbere wie „Ich stehe dazu, dass ich mich für meine Oberschenkel mehr interessiere als für Weltpolitik“ freisetzen darf, hat ihr dabei nicht geschadet. Ohnehin geht es in ihren Texten vor allem um Frauen um die 40, die nichts anderes im Kopf haben als den Umfang ihrer Brüste und ihres Arsches und das Befolgen von Tipps aus „Wie angle ich mir einen Millionär“-Ratgebern.
Auf der verspäteten Suche nach dem Mann fürs Leben gehen sie vermeintlich strategisch vor. Das entpuppt sich aber immer wieder rasch als die berühmte Fahrt des Karren gegen die Wand. Fürs strategische Handeln ist das Heimchen am Herd eben nicht geboren. Es fühlt sich emanzipiert, weil es vor allem eines fordert: Sex, wobei das Selbstbewusstsein ausschließlich aus der Anerkennung durch den Mann bezogen wird. Ergo dreht sich auch der Alltag von Cora Hübsch, der Protagonistin in Kürthys Erfolgserstling „Mondscheintarif“ von 1999, ausschließlich um „Fettverbrennung“ und Traummann Dr. med. Daniel Hoffmann, den sie auf einer Münchner Schickimicki-Filmpreisverleihung kennengelernt hat.
Das Stuttgarter Theaterhaus hat nun in einer Eigenproduktion die Theatermonologfassung dieses Romans von Britta Focht und Neidhardt Nordmann in Szene gesetzt. Man muss sich fragen, warum das nötig ist. Andererseits ist der Abend besser als das Buch. Denn es spielt Katja Schmidt-Oehm, eine tolle Schauspielerin, vor deren Leistung, ganz alleine anderthalb Stunden lang das Publikum im Theaterhaus zu unterhalten, man den Hut ziehen muss. Die Inszenierung des chilenischen Regisseurs Alvaro Solar ist schnell, leicht und kurzweilig. Bei allen Plattitüden und Klischees, die Kürthy in ihrem Text verwurstet, schafft Schmidt-Oehm Sympathie für dieses seltsam antiquierte Frauenwesen, das gemäß ihrem Motto „Verliebtsein ist Marketing“ schlau vorzugehen meint, dabei aber ein Eigentor nach dem anderen schießt. Durch ihre tragikomische Verfeinerung der Figur erregt die Darstellerin Mitleid für dieses verzweifelte, spätpubertäre Huhn, das lieber stundenlang auf den Anruf des Angebeteten wartet, als selbst aktiv zu werden; das zwar trotzdem ratzfatz in Doktors Bett landet, es aber etwas zu fix wieder verlässt, weil es sich doch rar und interessant machen will, damit dem blauäugigen Daniel aber kräftig auf den Schlips tritt.
Schmidt-Oehm macht aus Cora keine nervige Wohlstandsschnepfe - in ihrer hellgrünen, schlecht sitzenden Hose, dem hässlichen türkisen Jäckchen und den Tigerfellpumps (Kostüm: Gudrun Schretzmeier) versprüht sie eher prolligen Charme. Vital stürzt sich Schmidt-Oehm in Heulanfälle, Selbstzweifel und haut die Pointen gut sitzend heraus, etwa ihre Freude darüber, dass Hoffmann nach dem teuren gemeinsamen Menü die Rechnung als Visitenkarte benutzt und Cora dies als besonderen Liebesbeweis deutet: „Oh, wie süß. Er will mich nicht von der Steuer absetzen!“.
Zudem spielt die Mimin mit recht schönem Ton immer wieder dieselbe kitschige Melodie auf dem Klavier im Zentrum des Bühnenbildes von Alvaro Solar und David Fitzgerald. Am Ende schafft es gerade diese schöne Weise, die Cora ihrem Daniel übers Handy live überträgt, ihm den heißersehnten Satz zu entlocken: „Oh, Cora, meine Liebste“.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 20.12.2011. Premiere war am 17.12.
Jan Neumann inszeniert sein neues Stück "Frey!" am Staatstheater Stuttgart
Stuttgart – Das waren noch Zeiten, als die feministisch ambitionierte Rockröhre Gianna Nannini 1979 auf dem Cover ihrer "California"-LP die Fackel der amerikanischen Freiheitsstatue durch einen Vibrator ersetzte und damit im katholischen Italien einen Skandal landen konnte. Zumal sich auf der Scheibe auch der Song "America" befand, der die sexuelle Befreiung der Frau durch die Genüsse der Selbstbefriedigung hochleben lässt.
Wie sich Freiheit definiert, wie und ob sie sich wirklich erfüllen kann, welche Lebensbereiche sie objektiv oder subjektiv umfassen darf oder muss, ist einer der komplexesten theoretischen und praktischen Fragen, mit denen sich die Menschheit auseinanderzusetzen hat. Nicht erst seit der Aufklärung und Kants Forderung der Befreiung des Menschen "aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Von daher trifft Jan Neumanns neuestes Stück "Frey!", das jetzt in der kleinen Spielstätte "Nord" im Probenzentrum des Stuttgarter Staatsschauspiels in Bad Cannstatt uraufgeführt wurde, ein so gut wie immer aktuelles Thema.
Simplicissimus auf Schelmenreise
Wie so oft bei Neumann entwickelte und schrieb der Regisseur auch dieses Stück erst im Probenprozess mit den Darstellern. Man ging dabei spielerisch und assoziativ zur Sache. Gemäß den Worten Schillers, die zitiert werden: "Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Spielen bedeutet Freiheit. Das "als ob" wird zum Programm. Perücken und Schnauzer kommen an diesem Abend bewusst dilettantisch zum Einsatz, die perfekte Maskerade erspart man sich, Travestie ist dennoch Pflicht.
In "Frey!" lässt Neumann den Schelmenroman aufleben – episodenhaft und prosaisch sind seine Texte ohnehin, es wird viel und in rasantem Tempo erzählt. Hier schickt er seine kaspernde und chaplineske Hauptfigur "Friedemann Frey, Verwaltungsangestellter einer namhaften deutschen Versicherungsgesellschaft" auf Reisen, als wär's der Simplicissimus: In der Daseinsfalle zwischen Versicherungsbüro, Durchschnittsfamilie und Kegelbahn packt Frey (Gabriele Hintermaier) eines Tages die Torschlusspanik.
Ein Traum, was sonst
Er macht sich aus dem Staub, taumelt ziellos, passiv und staunend durch die Welt wie Alice im Wunderland. Sucht die Abgeschiedenheit der Berge, lebt bei einem Einsiedler (Jens Winterstein), der sich erst durch den Tod seiner lange Jahre schwerkranken Frau befreit fühlte. Landet auf einem Kreuzfahrtschiff, wo er in die Ernährungsgewohnheiten von Wohlstandsschnepfen und in die Missbrauchsgeschichte von Jutta (Sebastian Röhrle) eingeführt wird und nebenbei noch einiges über sadomasochistische Lustbefriedigung erfährt. Trifft in New York auf den Biker Zotti (Matthias Kelle), einen Heidegger zitierenden Ex-Knacki, um dann in einem Hotel in Las Vegas an eine recht morbide Rezeptionistin (Silja Bächli) zu geraten, die ihm den Selbstmord schmackhaft machen will. Sie selbst stamme aus einer Familie, in der "der Freitod eine große Tradition" habe. "Warum soll man dieses Leben wollen", fragt sie Frey, "das einem gegeben wurde, ohne dass man es wollte, und das man sowieso längst nicht mehr selbst lebt."
Um ein Ende zu finden in der schier überbordenden Thematik, bedient sich Neumann eines alten Theatertricks: Frey erwacht, sitzt vor seinem Computer, und "vor ihm schimmern Statistiken und Tabellen". Alles nur erträumt, nichts gelebt. Der Kreis schließt sich. Die Sinnsuche kann von vorne beginnen.
Anarchische Freude an Zungenzerbrechern
In Matthias Werners Bühnenbild – unter einem weißen Gazezelt, von dessen Decke tropfenförmig sich ausbeulende weiße Säcke herunterbaumeln, aus denen leise Sand und mit ihm die Zeit rieselt – entwickeln sich witzig-absurde Szenen: Etwa wenn Frey auf dem Boden liegende Büroangestellte an ihren rosa Krawatten – Symbole der Unfreiheit – durch die Gegend schleift. Oder wenn der Sturm in den Bergen, der Frey beim Aufstieg zu schaffen macht, von den Darstellerkollegen hör- und sichtbar gemacht wird, indem sie ins Mikro pusten, ihm die Haare zerzausen und seine Krawatte zittern lassen, während sie selbst ihre Häupter in der Anzugsjacke verstecken, jetzt kopflos sind.
Gegenüber solch lustvoll komödiantischen Szenen wirkt so manch andere Episode, wenn sie im Stehtheater verharrt, blass. Lange Monologe bringen den Abend dann in die Nähe zum Hörspiel. Nichtsdestotrotz begeistert das comedyhafte Rollen-Hopping, in das sich das fünfköpfige Ensemble spielsüchtig stürzt. Es bewältigt auch recht sicher die Unmengen von Text, der mit einer anarchischen Freude an Zungenbrechern, am Absurden und am sinnfreien Klang auftrumpfen kann – wenn auch der Zwang zur Alliteration und zum Reim gelegentlich die Grenze des Erträglichen überschreitet, etwa als Frey sinniert: "Wann hab ich denn zuletzt gewichst? Das ist ja nun auch schon was her. Ich weiß gar nicht mehr. Wann hab ich gewichst ohne Witz! Ich mach öfter Witze, als dass ich wichse. Und auch noch schlechte."
Rezension für nachtkritik.de. Premiere war am 17.12.2011.
Eduarda bin natürlich ich! Diesen Spitznamen verpasste mir ein Freund in meiner Anfangszeit als Musikkritikerin in Erinnerung an den berühmten Eduard Hanslick.