Stuttgart - Mit Anekdötchen bringt der David Garrett sein Publikum gerne zum Lachen: Von flugsicherheitgefährdenden Handyanrufen oder handtellergroßen Spinnen auf Flügeltasten parliert er, bevor er sich der nächsten Nummer widmet. An diesem Abend tritt er ohne Orchester und ohne bonbonfarbene Crossover-Ambitionen auf. Er gibt ein pures „Klassik“-Recital, nur in Begleitung des Pianisten Julien Quentin und des Gitarristen Marcus Wolf. Bis auf den letzten Platz besetzt ist der Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle.
Alle freuen sich über David Garretts flinke Finger, wie sie über die Saiten huschen, mit Leichtigkeit und Spielwitz. Immerhin stand er einmal im Guinessbuch der Rekorde als „schnellster Geiger der Welt“. Die virtuosen Schmankerl von Fritz Kreisler schüttelt der Schöne aus dem Ärmel: „Liebesleid“, „Chinesisches Tambourin“, „Wiener Caprice“. Garrett ist ein Showmensch. Vom hohen Leistungsdruck der Klassikbranche hat er sich schon als Wunderkind verabschiedet. Jetzt will er Spaß haben. Das kann man verstehen.
Sein legeres Outfit aus T-Shirt, Jackett, Schlabberhose und Stiefeln und auch der Gitarrist mit Käppi an seiner Seite lassen ihn aussehen wie einen flotten Straßenmusiker. Er sitzt auf einem Barhocker. Und wenn er bei den „Schneller, höher, weiter“-Stücken bliebe, wäre auch alles in Ordnung.
Aber so richtig verabschieden will sich Garrett offenbar doch nicht von der wirklich Ernsten Musik. Deshalb hat er an diesem Abend Violinsonaten von Brahms und Beethoven im Gepäck. Er spielt auswendig. Und bleibt doch an der Oberfläche. Seinem Ton fehlen Farbe und Gefühl. Mit bloßem Laut- und Leisespiel, Dauervibrato und Saitenrutschen lässt sich weder Ausdruck noch Zusammenhang herstellen. Der Kopfsatz von Beethovens Kreutzersonate etwa zerfällt in kleine virtuose Einheiten. Und Garretts schwerer Stiefel stampft den Rhythmus mit. Garrett beherrscht Beethovens Sprache nicht mehr. Das Spiel im Augenblick, das Kleinteilige, auch die Improvisation mögen ihm liegen. Den Blick fürs Ganze hat er längst verloren.
Kritik für die Stuttgarter Nachrichten vom 9. Mai. Das Konzert fand statt am 7. Mai.
Der Dirigent Herbert Blomstedt und der Geiger Sergey Khachatryan mit den Bamberger Symphonikern in der Stuttgarter Liederhalle
Stuttgart – Ein wenig erinnert Herbert Blomstedt an einen Kapitän auf der Kommandobrücke eines großen Ozeanschiffs, wie er da auf dem Dirigentenpodest mit bedächtigen, unaufgeregten und klaren Gesten die riesig besetzten Bamberger Symphoniker sicher durch die stürmisch aufgewühlte Klangwelt der Neunten Sinfonie Anton Bruckners führt. Im ausverkauften Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle, wo die Franken jetzt in der Meisterkonzert-Reihe zu hören waren, zeigte Blomstedt, der bedeutende Bruckner-Interpret, wieder einmal seine gelassene Größe. Eine Größe, die notwendig ist, um das an Bruckners Unvollendeter fühl- und hörbar zu machen, was Nikolaus Harnoncourt einmal „Antenne ins zwanzigste Jahrhundert“ genannt hat.
Deutlich arbeiteten die Bamberger in Blomstedts Leitung die krasse Harmonik des ersten Satzes heraus, beschönigten oder überspielten nichts. Und sie zeigten sich in den gewaltigen, unaufhaltsamen klanglichen Steigerungswellen als perfekt aufeinander eingespieltes Kollektiv, das Bruckners rhythmisch-metrische Arbeit exakt und wirkungskräftig zur Entfaltung bringt. Ob fundamentale Katastrophe oder tödliche Stille, ob Fluss oder Fläche: Alles fügte sich organisch ein in den architektonisch riesigen Spannungsbogen. Wie auch das Scherzo mit seinem brutal-bruitistischen Stampfen, das mit einer grotesk tapsenden Elfenmusik kontrastiert wird. Und das hinführt zum wenig melancholischen und überhaupt nicht trauernden, sondern vielmehr kämpfenden, gelegentlich auch mal singenden Adagio.
Selbst in den erschütternsten, aufdringlichsten Klangkulminationen blieb das Orchester und seine unterschiedlichen Instrumentengruppen perfekt ausbalanciert, wodurch die typische Bruckner’sche Instrumentation zur prachtvollen Entfaltung kommen konnte – eine Klanglichkeit, aus der man immer wieder das volle Orgelwerk herauszuhören meint: das Spiel mit allen Registern, das Bruckner als Organist offenbar besonders geliebt hat. Wie der vitale, agile 84-jährige Blomstedt die ungeheure Spannungsentwicklung der Neunten aufbaut, wie er dadurch Bruckners finallose und damit unvollendete Sinfonie zur Vollendung bringt, das war einfach grandios.
Zum nicht minder beeindruckenden Ereignis geriet Felix Mendelssohn Bartholdys zuvor aufgeführtes Violinkonzert. Dem jungen, phänomenalen Geiger Sergey Khachatryan gelang eine durch und durch poetisch durchleuchtete und damit eine wahrhaft romantische Interpretation. Nachdenklich, fragil, bedeutungsvoll der erste Satz, mit innigstem, ausdruckstarkem Ton das Andante, von berückender Leichtigkeit das filigran-flirrende Finale.
Die technischen Schwierigkeiten nahm der Armenier mit Leichtigkeit. Seine Stradivari malträtiert er nicht durch Dauervibrato, sondern bringt sie mit einem extrem feinfühligen, oft beinahe streichelnden Zugriff zum Singen, befragt jeden Ton auf seine emotionale Facette und Farbe hin. Selbst im leisesten Piano schwingt und singt der Ton und trägt weit. Es scheint oft, als spiele Khachatryan in Trance oder als müsse er aus seiner traumwandelnden Solokadenz vom Orchester im wahrsten Sinne des Wortes zurückgeholt werden. Doch er bleibt bei aller Versunkenheit hellhörig und dem Orchester zugewandt. So tief empfunden und von so euphorisierender Schönheit hört man Mendelssohns Violinkonzert nur ganz, ganz selten.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 7. Mai. Das Konzert fand statt am 4. Mai.
Heute habe ich für nachtkritik.de den Heidelberger Stückemarkt besucht. Das kleine, aber feine Theaterfestival besticht nicht nur durch das wunderbare Heidelberger Ambiente, sondern vor allem durch sein ambitioniertes, spannendes Programm, dass dank seines Dramatikerwettbewerbs eine Menge neuer Stücke zu bieten hat. Hier kann man meine Besprechungen von Atiha Sen Guptas Jugendstück Fatima und Rebekka Kricheldorfs Villa Dolorosa lesen.
Christiane Oelzes Liederabend in der Stuttgarter Staatsgalerie
Stuttgart - Zumindest in Clara Schumanns Lied „Sie liebten sich beide“ konnte man die Gesangsweise, die Christiane Oelze ihrem von der Internationalen Hugo-Wolf-Akademie veranstalteten Liederabend in der Staatsgalerie angedeihen ließ, noch als etwaig implizierte böse Ironie verstehen. Schließlich ist darin ein Gedicht von Heinrich Heine vertont, das von zwei Menschen handelt, die sich ihre Liebe nicht gestehen können und dann als Fremde auseinander gehen. Unschön angeschliffene Töne, das fahle Absacken der Stimme, die grauen, matten Farben hätte man durchaus einem gewollt sarkastischen Ton zuschreiben können, der sich über diesen unnötig verursachten Gram ungelebter Liebe lustig machte.
Aber je weiter der Abend fortschritt, desto offensichtlicher wurde es, dass die Sopranistin mit stimmlichen Problemen zu kämpfen hatte. In Clara und Robert Schumanns Liedern über die Höhen und Tiefen der Liebe wurde noch so manches stimmliche Defizit vom dichten Klaviersatz aufgefangen, den der wunderbare Eric Schneider differenziert und farbig in unterschiedliche Stimmungen und Gefühlszustände verwandelte.
Aber spätestens in Richard Wagners Wesendonck-Liedern, in denen die Stimme sich sehr deutlich vom Klavier abhebt, war es nicht mehr überhörbar: die belegte, gepresste Höhe, die Intonationsprobleme, die gelegentliche Heiserkeit. Die Sopranistin schien das aber gar nicht zu bemerken, stürzte sich zum Schluss gar voller Elan in „Isoldes Liebestod“. Dem kam sie gestalterisch vor allem durch Lautstärke bei. Vom Text verstand man nichts, und die Intonation blieb grenzwertig.
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 23. April. Das Konzert fand statt am 20. April.
Der Schriftsteller Christian Kracht liest im Stuttgarter Literaturhaus aus seinem Roman „Imperium“
Stuttgart - Keine Diskussion zum Skandal um seine vermeintlich rassistische Weltsicht, „nur“ eine Lesung gab es jetzt beim Auftritt des Schriftstellers Christian Kracht im ausverkauften Stuttgarter Literaturhaus. Kracht las die ersten drei Kapitel seines kürzlich erschienenen vierten Romans „Imperium“, auf dessen Grundlage Spiegel-Autor Georg Diez den Schriftsteller im letzten Februar zum „Türsteher der rechten Gedanken“ degradiert hatte. Kracht selbst war zunächst schwer beleidigt und versicherte, dass er sich außerstande sehe, für Lesungen nach Deutschland zu kommen. Sein Gram ist jetzt aber offenbar verflogen. Schließlich haben die meisten deutschen Feuilletons Diez’ Vorwürfe als nicht haltbar eingestuft.
Prolog des Verlegers
Auch wenn der 45-jährige Schweizer, der sich seit seinem 1998 erschienenen Erstlingsroman „Faserland“ zum Fürsten der deutschen Popliteratur hochgearbeitet hat, in Stuttgart selbst nicht Stellung nahm zur prekären Angelegenheit, schickte er dennoch zu Beginn des Abends seinen Verleger Helge Malchow von Kiepenheuer & Witsch vor, der ordentlich gegen den Spiegel-Autor stichelte: Der habe aus „niedrigen Motiven“ gehandelt - aus welchen, wurde freilich nicht beleuchtet -, keineswegs habe Diez mit seinem Artikel eine „Literaturdebatte“ angestoßen und keineswegs handele es sich bei „Imperium“ um einen „umstrittenen“ Roman, wie man es häufig lese, sondern vor allem um eines: ein „sprachliches Kunstwerk“.
Aber dieser Worte hätte es gar nicht bedurft, um Kracht zu entlasten. Schon nach wenigen Sätzen offenbarte sich die gediegene ironische Distanz, mit welcher der Autor seinen (Anti)-„Helden“ auf seinem skurrilen Lebensweg begleitet. Als Vorlage diente Kracht die wahre Geschichte des 1875 in Nürnberg geborenen August Engelhardt, der als 27-Jähriger dem wilhelminischen Deutschland den Rücken Richtung Südsee kehrte und sich in Deutsch-Guinea eine kleine Insel namens Kabakon kaufte. Der Nudist, Vegetarier und Lebensreformer ernährte sich nun nur noch von Kokosnüssen, die er für göttlich hielt und die ihm als Grundlage seiner neuen Heilslehre namens „Kokovorismus“ dienten. Er versammelte zeitweise eine Gemeinschaft Gleichgesinnter um sich, starb aber 1919 einsam, krank und verrückt geworden.
Unter dem hellen Firmament
Wer beim Lesen von Krachts Kolonialroman den Fehler macht, Autor und Erzähler mit dem Bewusstsein der Figuren und ihrem Jargon zu verwechseln, kann schnell fündig werden an zweifelhaften Gedankengängen, die sich auch Begriffen wie „Negermädchen“ und „Kanakenkinder“ bedienen. Wer die Ironie heraushört, weiß bald, dass selbst der Titel „Imperium“ ein Witz ist, meint er doch Engelhardts „fruktivorisches“ Weltreich auf Basis der Kokosnuss.
„Unter den langen weißen Wolken, unter der prächtigen Sonne, unter dem hellen Firmament“, liest Kracht mit sanfter, sonorer Stimme, das Buch in der rechten Hand, mit der linken meist nervös mit einem Kuli spielend, „da war erst ein langgedehntes Tuten zu hören, dann rief die Schiffsglocke eindringlich zum Mittag, und ein malaysischer Boy schritt sanftfüßig und leise das Oberdeck ab, um jene Passagiere mit behutsamem Schulterdruck aufzuwecken, die gleich nach dem üppigen Frühstück wieder eingeschlafen waren.“ Während des Lesens schaut Kracht gelegentlich über die Lese-Hornbrille hinweg skeptisch ins Publikum. Er liest nicht sehr differenziert, aber verwandelt sinnvoll die verschachtelte Syntax - orientiert am weit ausholenden Erzählstil des 19. Jahrhunderts - in ein klangvoll plätscherndes, einlullendes Auf und Ab.
Das passt gut zum ersten Kapitel, das von Engelhardts Fahrt auf dem Luxusdampfer „Prinz Waldemar“ handelt. Kracht ist intelligent, die Welt kennt er gut - zumindest äußerlich. Virtuose, genaue, oft witzige Beschreibungen, die lupenartig aus Mücken Elefanten machen und Menschen bis auf die „rotgeäderten Nasenflügel“ heranzoomen, können jedoch nicht über die inhaltliche und formale Belanglosigkeit hinwegtäuschen, die Krachts spielerisch arbeitende Sprache produziert. Wer bloße Unterhaltung sucht, dem wird das aber genügen.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 20. April. Die Lesung fand statt am 18.April.
Nuran David Calis kreuzt in Stuttgart Heiner Müllers Revolutionsdrama "Der Auftrag" mit Mathias Énards Roman "Zone"
Stuttgart - "Man versteht überhaupt nichts mehr. Diejenigen, die gegeneinander kämpfen müssten, kämpfen nicht mehr. Niemand weiß, an wen die Stadt fällt", sagt Habib. "Schatila 1982" heißt die Szene, in die gerade "hineingezappt" wurde. Schatila: das palästinensische Flüchtlingslager in Beirut, wo eines der vielen furchtbaren Massaker stattfand, die an diesem Abend thematisiert werden. Und wie Habib, der nichts mehr versteht, ging es wohl vielen Zuschauern bei der gestrigen Premiere im Schauspielhaus des Staatstheaters Stuttgart, wo eine Bühnenadaption von Mathias Énards Roman "Zone" zur Aufführung kam.
Dabei wäre doch eigentlich alles so einfach, wenn man es so sehen würde wie Francis Mirkovic, die Hauptperson des Abends, die am Ende konstatiert: "Alles hängt zusammen" – ob Napoleonische Kriege, Nazi-Gräuel oder Balkankriege. Egal wo man hinschaut in der Geschichte der "Zone", mit der Énard den Mittelmeerraum meint: Überall aufgeschlitzte Neugeborene, vergewaltigte Frauen und verbrannte Männer, gespaltene Schädel und abgeschlagene Hände. Und alles ist am Ende irgendwie dasselbe und der Zuschauer erledigt: vom theatralen Bombardement mit ständig wechselnden Kriegsschauplätzen, Wortkaskaden, unzusammenhängenden Episoden und Ereignissen.
Die Selbstvergewisserung des Kriegsverbrechers
Regisseur Nuran David Calis hat den 2008 erschienenen französischen Roman zusammen mit der Dramaturgin Beate Seidel für die Bühne eingerichtet. Es muss eine Heidenarbeit gewesen sein, aus diesem Textmonument theatertaugliche Szenen für zwei Stunden herauszukristallisieren. Hut ab! Aber sind diese 600 Seiten Suada, diese im Bewusstseinsstrom mäandernden Lebenserinnerungen des Ex-Soldaten und Geheimdienstlers Francis Mirkovic, wirklich als Stoff fürs Theater geeignet?
Um das Textmonstrum zu bändigen hat man sich eine Hilfskonstruktion ausgedacht: Mirkovic wird als Kriegsverbrecher angeklagt. Der Prozess stellt sich mit der Zeit aber als eine Kopfgeburt des Protagonisten heraus – zwecks Selbstvergewisserung seiner Vergangenheit. Er sitzt im schusssicheren Glaskasten und muss – freilich mit Unterstützung zweier Anwälte – Rede und Antwort stehen. Ins Gerichtsszenarium hinein drängen weitere Erinnerungen: per Video zugespielt oder live. Chetniks stürmen die Bühne, israelische Soldaten, eine makabre Nazi-Party mündet in die Erschießung Gefangener – nur so zum Spaß –, Mirkovics Vater foltert im Algerienkrieg, seine Mutter gibt ein Konzert vor den Faschisten der kroatischen Ustascha.
"Irgendeiner muss sich die Hände schmutzig machen"
Dazwischen wichst, fickt, säuft, raucht Mirkovic, schubst seine Liebesgespielinnen herum. Till Wonka spielt das gut: den gewaltsüchtigen Choleriker, den einsamen eiskalten Engel und die selbstmitleidige Labertasche. "Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde", sagt Mirkovic, der kriegerische Jobhopper, der zunächst als seitenwechselnder Soldat im Jugoslawienkrieg das Töten lernt, dann zum Diener diverser Geheimdienste avanciert, getragen von der Einsicht, alles sei austauschbar und "Freiheit" und "Vaterland" nur Phantome. Ein Schuldiger ist er, der sich selbst – wie sollte es anders sein – als Opfer fühlt: "Irgendeiner muss sich in dieser Welt die Hände schmutzig machen, damit sich die andern moralisch entrüsten können", sagt er.
Das ausufernde, dennoch um sich selbst kreisende Mitteilungsbedürfnis auf der Bühne wird durch die Rahmenhandlung noch verkompliziert, denn dafür hat man ausgerechnet Heiner Müllers noch aus DDR-Zeiten stammenden dramatischen Revolutionsdiskurs "Der Auftrag" gewählt und auf eine halbe Stunde eingeschmolzen. Darin sollen drei Abgesandte des nachrevolutionären Frankreichs auf Jamaika einen Sklavenaufstand gegen die herrschenden Briten in Gang bringen. Der Auftrag wird aber, nachdem Napoleon in Paris die Macht übernommen hat, zurückgenommen. Wofür jetzt noch kämpfen?
Freiheit und Jamaika-Rum
"Was du heute nicht verrätst, wird dich morgen töten. Vom Standpunkt der Humanmedizin ist die Revolution eine Totgeburt", lautet das resignative Resümee Debuissons, eines der drei Revolutionäre. Calis hat aus Bruchstücken des "Auftrags" eine Art Lehrstück geformt, von dem allerdings einzig die Parodie auf Delacroix' berühmtes Bild "Die Freiheit führt das Volk" in Erinnerung bleiben wird – eine bühnenbildnerische und beleuchtungstechnische Glanzleistung: Die französischen Abgesandten frieren zum Gemälde ein: mit gezückten Waffen und wehender Frankreichfahne – vor ihnen keine Toten, sondern Jamaika-Rum-Flaschen.
Am Ende sind die Schauspieler erschöpft und das Publikum eingelullt vom Wortschwall und von der Bilderflut. Virtuos gelingt zwar das schnelle Switchen zwischen den Zeitebenen. Indes: Das Geschehen auf der Bühne lässt kalt. Es packt einen nicht. Das siebenköpfige Ensemble rackert sich ab, aber die Charaktere bleiben blass. Liegt es am Umgang des Regisseurs mit dem Stimmmaterial? Lautes, speichelversprühendes Skandieren dominierte vor differenziertem Sprechen. Das wirkt zunächst eindringlich, aber auf Dauer gleichförmig. In die Seele schauen lassen sich die Protagonisten auf diese Weise nicht. Das wäre aber gerade im Falle des Francis Mirkovic die Rechtfertigung gewesen, ihn zur Bühnenfigur zu machen.
Besprechung für www.nachtkritik.de. Premiere war am 15. April 2012.
Nina Mattenklotz inszeniert Horváths „Kasimir und Karoline“ am Stuttgarter Staatsschauspiel
Stuttgart – "Abgebaut" sei er, sagt Kasimir, "abgebaut": Eine Vokabel für den Verlust der Arbeit, die man, als die soziale Marktwirtschaft noch funktionierte, in Spezialwörterbüchern nachschauen musste, wenn man Horváth-Stücke las. Heute, da das "Soziale" der Marktwirtschaft verblasst ist, weiß jeder, was das bedeutet, "abgebaut" zu sein. Der "Abbau" hängt wie ein Damoklesschwert über unserer Arbeitswelt, es kann so gut wie jeden treffen. Insofern ist Kasimir einer von uns, obwohl er die Hauptperson eines Stückes ist, das 1932, während der Weltwirtschaftskrise und kurz vor Beginn der NS-Barbarei, uraufgeführt wurde.
Ödön von Horváths "Kasimir und Karoline" ist auch sonst ein genial zeitloses Stück, weil es die Schwierigkeit des Menschen, sich durch Worte wirklich verständlich zu machen und dadurch Nähe zum anderen zu schaffen, so genau auf den Punkt bringt, dass es einem beständig kalt den Rücken hinunterläuft. Wie auch immer sich sein Bühnenpersonal syntaktisch verrenkt, mit den Fremdwörtern ringt und Pseudoweisheiten von sich gibt: Am Ende steht die Einsamkeit, denn der Selbstschutz im Panzer geliehener Worte führt stets zum Scheitern aller Kommunikation.
Brodelnde Stille
Von daher ging Nina Mattenklotz in ihrer Inszenierung, die jetzt in der kleinen Spielstätte Nord des Stuttgarter Staatstheaters Premiere hatte, einen geerdeten Weg, wenn sie sich bei ihrer Arbeit auf die besonderen sprachlichen Qualitäten des Stücks konzentrierte. Äußerlich betrachtet ist ihre Inszenierung unspektakulär. Die Kostüme von Lena Hiebel sind heutig, das Bühnenbild von Silke Rudolph erinnert an ein Varietétheater: Vorhänge im Hintergrund dienen den Figuren zum Auf- und Abtauchen, kleine Glühlämpchen fügen sich zu dekorativen Formen, überdimensional große bunte Kugeln baumeln von der Decke wie Weihnachtsbaumschmuck. Die kleine Drehbühne schafft äußere Bewegung, wo innere Starre herrscht. Die von Horváth geforderten Volksmusikeinlagen werden mit Technobeats unterlegt oder elektronisch verfremdet (Musik: Tobias Gronau). Der Text bleibt weitgehend unberührt, hier und da wurden nur kleine Kürzungen vorgenommen.
Alles unspektakulär, denkt man zunächst. Aber im Innern brodelt es gewaltig. Denn Nina Mattenklotz hat sehr genau in die explosive Horváthsche "Stille" hineingehört, die als Regieanweisung die Dialoge durchatmet und einen beständig das Gruseln lehrt: "Tut es dir leid?", fragt Erna, nachdem ihr Franz ein Bier ins Gesicht geschüttet hat. Es folgt "Stille". "Nein", sagt Franz. Woraus Erna später folgert: "Der Merkl hat doch eine komische Natur. Zuerst bringt er einen um, und dann tut es ihm leid."
Eisige Körperstarre
Mattenklotz hat "Kasimir und Karoline" als einen räumlich fein auf Nähe und Distanz hin choreographierten, in den Charakteren scharf gezeichneten Reigen einsamer Menschen inszeniert, der ganz vom Ensemblespiel lebt. Vereinzelte, die auf dem Münchner Oktoberfest aufeinandertreffen und umeinander herschleichen: Im Mittelpunkt die lebensgierige Karoline, die keine Lust mehr hat auf ihren schlecht gelaunten Verlobten Kasimir und lieber mit anderen Männern schäkert: mit dem taffen Kleider-Zuschneider Schürzinger und zwei alten geilen, grantelnden Böcken, dem Kommerzienrat Rauch und Landgerichtsdirektor Speer (herrlich: Boris Burgstaller und Rainer Philippi). Und dann sind da noch Erna und ihr Freund, der Ganove Merkl Franz, der beständig Kasimir auf den Leib rückt. Außerdem Elli und Maria (Fridolin Y. Sandmeyer und Eléna Weiß), die hier zu seltsamen Zwittern aus Zirkuspersonal und Prostituierten mutieren. Und nicht zuletzt das melancholische Gorillamädchen Juanita (Gabriele Hintermaier).
Sie ist stimmig, die eisige Körperstarre, in der Florian von Manteuffel als Kasimir verharrt, wenn er sich nicht gerade prügelt oder den Riesenhammer auf den Lukas haut. Sie drückt seine ganze stumme Verzweiflung und Hilflosigkeit angesichts seiner desolaten Situation aus. Dagegen scheint die Büroangestellte Karoline (Dorothea Arnold) vor von außen nicht steuerbarer Lebenslust fast zu zerplatzen: exaltiert, frech, berechnend. Ungewöhnlich legt Mattenklotz vor allem den Schürzinger aus: Der Karoline-Verehrer ist kein verklemmter Spießer, sondern Benjamin Grüter spielt ihn als einen starken, charismatischen Typen. Ein Ästhet zwar, doch sein Asketentum entpuppt sich am Ende als trockengelegter Alkoholismus: Plötzlich lässt er sich gierig eine halbe Flasche Schnaps in den Rachen fließen. Das ist keiner, der von Natur aus abstinent ist.
Verstörtheit und Empathie
Speisereste spuckt der prollige Merkl Franz, wenn er mal ausnahmsweise nur brüllt, statt handgreiflich zu werden. Erst quetscht er mit zwei Fingern seiner Freundin die Nase ein, dann ruft er ihr kindlich "Erna, guck mal!" zu und startet eine dilettantische Breakdance-Performance, bis er hechelnd-hustend zusammenbricht. Christian Schmidt setzt diesen ambivalenten Charakter, dessen draufgängerische Kommunikation immer auf eine Prügelei zielt, mit einem gehörigen Maß an polternder Übertreibung in Szene. Umso stärker, weil still und zerbrechlich, wirkt die phänomenale Sarah Sophia Meyer als Erna, die fein zwischen Verstörtheit, Schüchternheit, Empathie zu differenzieren weiß.
Horváth lässt am Ende Schürzinger mit Karoline verschwinden, Mattenklotz nicht. Dafür rücken Erna und Kasimir bei ihr ein bisschen enger zusammen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer in diesem traurigen Stück? "Solange wir uns nicht aufhängen, werden wir nicht verhungern", sagt Erna und singt das Lied von den blühenden Rosen.
Besprechung für www.nachtkritik.de und die Eßlinger Zeitung vom 16. April 2012. Premiere war am 13. April.
Die Musikkomödianten Igudesman und Joo in der Stuttgarter Liederhalle
Stuttgart – Das sind vielleicht die stärksten Augenblicke in ihrer Show: Wenn die beiden Komödianten Igudesman und Joo alles verschwitzte Witzekloppen plötzlich sein lassen und einfach nur Musik machen. Gerade weil das Publikum beständig auf der Kalauer liegt, wirkt die Musik umso stärker, wenn sie mal nicht gleich wieder anarchisch-lustvoll zerstört wird. Etwa wenn Joo am Flügel Skriabins Des-Dur-Nocturne für die linke Hand intoniert, nicht mehr kasperlt, stattdessen den mondsüchtigen Klängen nachspürt, ja, und es tatsächlich zu Ende spielt! Das Ironiesignal – Joos abgebundener rechter Arm, den Igudesman zuvor durch einen harten Tastendeckelschlag von seiner Hand befreite – war da schnell vergessen: im gut besuchten Hegelsaal der Stuttgarter Liederhalle, wo die beiden jetzt ihre Show „A little Nightmare Music“ zum Besten gaben. Andächtig und atemlos lauschte das Publikum der Skriabin’schen Träumerei, und das vermeintliche Kunststückchen mutierte zur Meditation. Viele junge Leute waren gekommen, und es ist nicht ausgeschlossen, dass sich an diesem Abend der eine oder andere neue Klassikfan gefunden hat.
Dass sie die Gratwanderung zwischen reinem Klamauk und guter Musik brillant meistern, ist ein Markenzeichen des Duos, das mit Leidenschaft die Klassik-Branche verulkt. Der russisch-deutsch-englische Geiger Aleksey Igudesman und der koreanisch-englische Pianist Richard Hyung-ki Joo sind fantastische Musiker. Für Igudesman ist es ein leichtes, innerhalb weniger Sekunden Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, Mendelssohns Violinkonzert und Beethovens Fünfte zu zitieren. Er beherrscht sämtliche Folkstile, ihm gelingt es mühelos, Mozarts „Alla turca“-Thema mal schnell in der Manier eines Klezmermusikers, eines ungarischen Teufelgeigers oder eines irischen Fiddlers zu bringen. Das brillante Switchen zwischen den Stilen und die immens virtuose Beherrschung seines Instruments garniert er dann noch mit Grimassen und den absurdesten Hüftschwüngen, Sprüngen und Körperverdrehungen.
Joo dagegen ist ein Pianist der nuancierten Klangfarben. Er singt auch recht gut und spielt gerne den Diktator. Klar durfte an diesem Abend die Nummer „Rachminow had big hands“ nicht fehlen, die als Youtube-Video weltweite Verbreitung gefunden und die beiden erst so richtig bekannt gemacht hat. Ein Kabarett-Stückchen, das längst schon kultiger Klassiker geworden ist: Joo spielt Rachmaninows Prelude „Die Glocken von Moskau“ und bändigt die enormen Anforderungen an die Handspanne nur mit Hilfe seines Adjutanten, der ihm von hinten an den entscheidenden Stellen unterschiedlich präparierte Holzkonstruktionen anreicht, mit denen sich mehrere Tasten gleichzeitig drücken lassen. So sind selbst riesige Akkorde für den Kleinhändigen („But only hands are small!“) zu bewältigen. Die Kunst dabei, die sperrigen Dinger immer wieder in den Fluss des Spiels zu integrieren, ohne es zu unterbrechen, und sie dann mit einem großen Schwung wieder nach hinten zu schleudern, wo der Kollege sie auffängt, meistert Joo mit der Konzentration eines Seiltänzers. Eine Glanznummer, die das Virtuosentum grandios auf die Schippe nimmt.
Sieht man einmal ab von wenigen allzu albernen Nummern – wenn etwa Joos „Nobody loves me“-Gegreine Rachmaninows berühmteste "schöne Stelle" aus dem 2. Klavierkonzert massakriert –, macht der Abend durchweg Spaß. Ob Variationen über eine berühmte Handy-Melodie, ob in Kung-Fu-Manier ins Klavier gehämmerte Kleine Nachtmusik, ob schnarchende Geige oder Saitenspiel mit Milchschäumer, ob irische Volksmusik, die sich langsam aus barocken Strukturen herausschält oder ein Mozart-Thema, das sich mit James Bond vereint: Igudesman und Joo verbinden musikalische Fantasie und anarchischen Humor stets mit hohem technischen Können. Bewundernswert auch, wie es ihnen bei allem Pointenstress und aller Slapstickhektik immer wieder gelingt, eine gewisse Ruhe ins Programm zu bringen: Etwa wenn Joo „Für Elise“ durch Endlos-Tonrepetitionen zum Stillstand bringt, einschläft und dann vom Boden aus eine Satie’sche Gnynopädie ertastet.
Und dass sie im Schwabenland auftraten, verlor das Duo auch nie aus den Augen. Etwa als Joo Igudesman befahl, Mozarts „Alla turca“ nicht in Moll, sondern in Dur zu spielen: Das klänge irgendwie schwäbischer. Eine Verbeugung vor den „überdurchschnittlich kultürlichen“ Schwaben!
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 30. März 2012.
City of Birmingham Symphony Orchestra mit dem Pianisten Rudolf Buchbinder in der Stuttgarter Liederhalle
Stuttgart – Dynamische Agilität und Transparenz im Zusammenspiel scheint nicht die Spezialität des City of Birmingham Symphony Orchestra (BSO) zu sein. Zumindest im Meisterkonzert im Stuttgarter Beethovensaal baute der groß besetzte britische Klangkörper in der Leitung ihres Musikdirektors Andris Nelsons eher auf einen fetten, süffigen Streichersound, eine überdimensionale Bassgrundierung und auf eine kräftig-grelle Blechbläserfraktion. Dass bei einer solchen Klangästhetik so manch eine Feinheit im sinfonischen Nervensystem untergeht, dass die Farbauffächerung grob bleibt und überhaupt der Gesamtklang eher monochrom wirkt, offenbarte sich schon zu Beginn des Konzerts in Benjamin Brittens „Meeres-Zwischenspielen“ aus der Oper „Peter Grimes“. Diese vier Klanggemälde leben von ihrer kontrastierenden Atmosphäre, die das BSO eigentlich nur im Getöse des „Sturm“-Finales wirklich traf. Laut und volltönend können die Briten spielen – keine Frage. Aber den Sätzen „Dämmerung“ und „Mondlicht“ tat das nicht gut. Zu deftig, konkret und geheimnislos geriet hier die Stimmung, und es fehlte genauso wie im „Sonntagmorgen“ deutlich an Klangfarbendifferenzierung.
Auch in der Zusammenarbeit mit dem Pianisten Rudolf Buchbinder änderte sich das zunächst noch nicht. Im ersten Satz von Beethovens viertem Klavierkonzert gelang es Andris Nelsons nicht, für eine perfekte Balance zwischen Flügel und Orchester-Klangmasse zu sorgen. Etliche Feinheiten, die Buchbinder filigran herausarbeitete, gingen im dickflüssigen Streichersaft unter. Erst der Zwang zur Kommunikation, den der Mittelsatz einfordert, ließ das BSO endlich einmal leise spielen. Wunderbar entwickelte sich jetzt das merkwürdig fremdelnde Gegeneinander von Orchester und Solist, das diesen Satz zu dem vielleicht ungewöhnlichsten im Oeuvre Beethovens macht: Die Streicher spielen unisono kräftige, drohend punktierte Staccatofiguren, der Pianist reagiert darauf mit melancholisch-kantabel dahinfließenden Akkorden und bringt damit das Orchester mehr und mehr zum Schweigen. Lyrischer, entrückter und sanfter als Buchbinder kann man diesen Part gar nicht spielen. Wunderbar! Ebenso sein witzig-spritziger und brillanter Zugriff im unbeschwerten Rondofinale, in dem die Kommunikation mit dem Orchester jetzt glänzend gelang.
Leider hatte dieses Intermezzo keine Folgen für den Rest des Abends. Nach der Pause frönte das Orchester wieder seiner Ästhetik der dynamisch und farblich viel zu wenig differenzierten Dauerbeschallung. Jean Sibelius’ spätromantische Zweite Sinfonie kleidete Andris Nelsons in Wagner-Bombast, was die im Werk latent vorhandene Brüchigkeit zukleisterte. Sibelius’ zerklüftete Seelenlandschaft mit ihren Gegensätzen von ungeduldiger Infragestellung, euphorischer Klangschönheit und brodelnder Unruhe und das sich beständig feinnervig wandelnde motivische Material ersoffen in der Klangmasse, in der ein unangenehmer Gast es sich mehr und mehr gemütlich machte: jene Sorte von Pathos, die jegliche innere Dramatik zur Schicksalssinfonik degradiert.
Kritik für die Eßlinger Zeitung vom 21. März 2012. Das Konzert fand statt am 19. März.
Schwäbische Version eines fränkischen Volksstück-Klassikers: „’S Konfirmandefescht“ in der Komödie im Marquardt
Stuttgart – „Jetzt erscht emol a Schnaps“, lauten Onkel Willis erste Worte nach dem Festgottesdienst. Großneffe Markus wurde konfirmiert, und die Flädlesupp’ steht schon dampfend bereit auf dem festlich geschmückten Tisch im Wohnzimmer des Reihenhauses. Mutti hat seit fünf Uhr in der Frühe in der Küche gestanden, um die liebe Verwandtschaft angemessen zu verköstigen. „Schnaps“, bestimmt sie, „gibt’s später“. So nimmt Willi erst einmal ein Bier.
Im „Konfirmandefescht“, das jetzt in der Komödie im Marquardt als schwäbische Version des fränkischen Volksstück-Klassikers „Schweig, Bub!“ von Fitzgerald Kusz Premiere hatte, geht es zwei Stunden lang um die Ödnis eines Familienfestes – und das auf sehr unterhaltsame Weise. Eigentlich hat man sich gar nichts zu sagen, aber davon sehr viel. An der langen Essenstafel (Bühne: Alexander Roy) frotzelt man und lästert und blubbert Banalitäten. Tante Anna nimmt die Qualität des Kartoffelsalats unter die Lupe: „Isch der schee schlonzich“, Nachbarin Birgit quasselt von Schönheitspflege und regelmäßiger Gewichtskontrolle: „Normalerweise esse ich keine Teigwaren“, und Kusine Michaela würde zu „frittierten Känguruh-Hoden“ nicht Nein sagen: „Wenn sie rasiert sind.“ Onkel Willi ist scharf auf Kusine Michaela und brüstet sich damit, ein „Draufgänger“ zu sein. Woraufhin Ehefrau Anna süffisant bemerkt: „Da henn i nix von g’merkt“. „I bin ja au koi Alpinist“, kontert Willi. Tante Annas Kokettieren mit ihrem faltenarmen Gesicht wird von Michaela sofort bestraft: „Du bisch ja au ausgepolstert“, was Anna mit „du dürre Geiß“ quittiert. Birgits Schwärmen über thailändische „Tiger-Prawns“ wird von Anna abgewatscht: „Kannst net Deutsch schwätze?“ Und so geht es munter weiter, derweil ordentlich Rotwein, Bier, Obstler und Cognac gepichelt und sich vom „Roschtbrata“ mit Spätzle über Sahnetorte bis zu den Saiten mit Kartoffelsalat durchgefuttert wird.
Im großen Fressen geht die Hauptperson freilich unter: der Konfirmant Markus (sympathisch: Jan Wezel). Der wird zwar ab und zu von Mutti geknuddelt, aber ansonsten zur Sprachlosigkeit verdammt. Er wird vom Vater geschurigelt, wenn er einmal auflacht, und sofort unterbrochen, als er noch einmal seinen Konfirmantenspruch aufsagen möchte. Entgegen seinen Hoffnungen auf einen wahren Mäusesegen hat er zu seinem Ehrentag vor allem Blumen geschenkt bekommen. Und dann wird er auch noch zu früh ins Bett geschickt. Dabei wird’s gerade so spannend: Die angeschickerte Kusine Michaela legt für ’nen Hunni von Willi einen Striptease aufs Parkett – freilich nur bis zur Spitzenunterwäsche (Kostüme: Petra Kupfernagel).
Und dann ist da noch der Pfarrer, der eingeladen ist, aber nicht kommt, weil er wohl den „Rehbrota der Neumeiers“ bevorzugt hat, wie Onkel Willi mutmaßt.
„’S Konfirmandefescht“ lebt von seinem hohen Wiedererkennungsfaktor. Es liegt stets in der Luft, dass das Publikum gleich wohlig stöhnt: „Ja, genau so isch’s!“ Und gelegentlich glaubt man das auch flüsternd zu vernehmen. Etwa als Willi, Vati und Birgits Thorsten „Schnaps, das war sein letztes Wort“ grölen oder mal wieder über Darminfektionen, vom Abort und von Rizinusöl gebabbelt wird und Tante Anna säuselt „Wenn ich doch mal wieder von selbst könnte“ – bis Mutti verzweifelt ausruft: „Könnte ihr immer nur von Scheiße reden?“ Das Publikum ist amüsiert: Grölendes Gelächter. Solche Familienfeste kennt jeder, in denen es immer nur um drei Dinge geht: „G’schwätz, G’fresse und G’sauf“, wie es Mutti treffend formuliert.
Regisseur Ulf Dietrich hat mit seinem quirligen achtköpfigen Schauspielerteam einen lustigen Abend auf die Bühne gebracht. Peter Jochen Kemmer und Birke Bruck als grantelndes Ehepaar Willi und Anna sind wohl die Sympathieträger des Abends. Selbst über die plattesten Witze lacht das Publikum, wenn sie sie bringen. Etwa wenn Willi auf Vater Franks „Wenn i Kaffee trink, kann i nachts net schlofa“ antwortet: „Wenn i nachts schlofe, kann i koi Kaffee trinke.“ Authentischer als Monika Hirschle kann man die schwäbische Hausfrau Jutta wohl nicht spielen. Und Sabine Bräuning als Moralapostelin Birgit – als einzige hochdeutsch sprechend – und ihr Gatte Thorsten, der mit steigendem Alkoholkonsum seine Biederkeit und sein Pantoffelheldentum ablegt, stellen einen starken und witzigen Kontrast dar zur übrigen Personage. Sehr lustig ist Nicole Lohfink als Kusine Michaela. Es ist schon großartig, wie sie sich akrobatisch um ihren Stuhl schlingt, um immer wieder mit dem Mund in die Nähe des Löffels zu gelangen, den sie über dem Teller schweben lässt, welcher schon fast in Fußbodenhöhe platziert ist. Und das alles nur, um sich nicht zu bekleckern.
Mit Roman Kohnle als Konfirmantenvater schließlich scheint das Familienfest kurze Zeit aus dem Lot zu geraten. Vati nimmt im Suff die Gelegenheit wahr, seiner Frau mal richtig die Meinung zu sagen. Ihr ging’s doch immer nur um den Sohn, er selbst sei nur gut „zum Schaffe und Geld hole“. Kohnle spielt diesen Part ganz hervorragend, weil aggressiv und hart: Es scheint da eine latent vorhandene Gewalttätigkeit auf, doch weil im Volksstück solcherlei Ausfälle ohne Folgen bleiben und Konflikte sich stets wie durch ein Wunder kitten, wird auch hier weitergesoffen, als sei nichts geschehen, bis die müde Gastgeberin zum Zapfenstreich bläst.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 19. März 2012. Premiere war am 16. März.
Konzerttipp für alle LändlebewohnerInnen: Heute spielt die Berliner Punk-Pop-Rock-usw.-Band "Die Türen" ab 21 Uhr im Club Manufaktur in Schorndorf! Die Türen sind geniale Texter, denen es auf witzige Weise gelingt, derzeitige deutsche Befindlichkeiten im weitesten (Un-)Sinne auf den Punkt zu bringen: "Wir sitzen alle in demselben schwarzgelben Unterseeboot"! Hier meine Lieblingsnummer "Leben oder Streben" von der kürzlich erschienenen Türen-Platte "ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ":
Der Originalklang-Experte Andrew Manze dirigiert das Swedish Chamber Orchestra im Stuttgarter Beethovensaal
Stuttgart – Es gibt nicht viele Konzerte, in denen schon in der Ouvertüre klar ist, dass ein exzellenter Abend folgen wird. Beim Swedish Chamber Orchestra im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle war es aber so: Mozarts "Figaro"-Ouvertüre diente hier einmal nicht als Warmspieler, sondern die Schweden sorgten mit luftig phrasiertem, farbigem Streicherklang, schlankem, glasklarem Bläsersound, agiler rhythmischer Grundierung und flexibler Dynamik für einen ersten wachrüttelnden Ohrenschmaus – Mozartscher Witz, Sturm und Drang inbegriffen. Am Dirigierpult: der Alte-Musik-Experte Andrew Manze. Eine glückliche Fügung, denn der quirlige Brite kann dank seiner sehr lebendigen Dirigierweise seinen Musikern offenbar unmissverständlich deutlich machen, was er will: einen neuen, frischen Blick auf die Werke.
Und der kam am Ende in Beethovens Vierter Sinfonie zur vollen Blüte: Eine derartige Freilegung des sinfonischen Nervensystems durfte man bisher wohl nur sehr selten miterleben. Der rhythmisch und dynamisch extrem bewegliche Klangkörper demonstrierte jetzt, was hörbar werden kann, wenn ein etwa 30-köpfiges Streicherkollektiv und eine doppelt besetzte Bläserfraktion die perfekte Balance erreichen. Ohne Vibrato spielend, extrem transparent im Zusammenklang, suchten und fanden die Streicher im Verein mit den Bläsern Lautstärkenverhältnisse, Farbverwandlungen und räumliche Weitung, durch die so manch eine Idee Beethovens konsequent zu Ende gedacht wurde. So verliehen sie etwa den kläglichen Motivresten, die der Komponist im Kopfsatz vom Hauptthema nach der zerpflückenden Durchführungsarbeit noch übrig gelassen hat, eine derartige Leichenblässe, dass man im Geiste schon die Totenglocken läuten hörte. Stattdessen erhob sich die Reprise jetzt noch schwungvoller als gewohnt zu neuem Leben – wie Phönix aus der Asche. Beethovens genial inszenierter Spannungsaufbau und seine feurig-scharfe Kontrastierung kam gerade in diesem ersten Satz so zwingend zur Entfaltung, dass es kein Wunder war, dass sich das (zweifelsohne mit dem Konzert-Knigge bestens vertraute) Publikum war, zum eigentlich "verbotenen" Zwischen-den Sätzen-Klatschen hingerissen fühlte.
Zwischen den Wiener Klassikern gab's Solistisches. Publikumsliebling Sabine Meyer sorgte in Aaron Coplands Klarinettenkonzert für swingenden amerikanischen Geist, demonstrierte wieder einmal ihre profunde Virtuosität und beeindruckte durch langen Atem und kraftvollen, präzisen Ton. Meyer hatte ihre Schülerin Annelien van Wauwe mitgebracht, die in Carl Maria von Webers Concertino Es-Dur ihre Klarinette solistisch zum klangschönen und heroischen Singen brachte und dann ihrer Lehrerin in Mendelssohns Konzertstück op. 113 zur Seite stand. Phänomenal, wie perfekt van Wauwe auf dem tief geerdeten Bassetthorn und Meyer auf der Klarinette miteinander harmonierten – in schmachtenden Duetten genauso wie in virtuosen Verschlingungen. Das Publikum zeigte sich nicht nur in diesem Fall begeistert.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 2. März 2012. Das Konzert fand statt am 29. Februar.
Das Spiel ist aus — Sebastian Baumgarten wirbelt Jean-Paul Sartres Existenzialismen auf die neue Stuttgarter Drehbühne
Stuttgart - Wie frei ist der Mensch? Jean-Paul Sartre beschäftigte diese Frage lebenslang. "Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein", schrieb er 1948, "verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut". In seinem literarischen Werk stellte Sartre seine existenzialphilosophischen Gedankengänge in spielerischen Experimenten auf die Probe: Welche Möglichkeiten zur freien Entscheidung haben Menschen in Extremsituationen?
In seinem 1947 von Jean Delannoy verfilmtem Drehbuch "Das Spiel ist aus" erhalten der Arbeiter und Revolutionsführer Pierre Dumaine und Eve Charlier, reiche Dame der höheren Gesellschaft und Ehefrau eines Regierungsangehörigen, eine einmalige zweite Chance. Die beiden lernen sich im Totenreich kennen: Er wurde am Vortag der Revolution von einem Verräter erschossen, sie zur gleichen Zeit von ihrem habgierigen Gatten vergiftet. Weil Gott tot ist und die Geschicke der Menschheit von einer recht bürokratischen Rechenzentrale organisiert werden, passierten Fehler: Eigentlich waren die beiden für einander bestimmt und hätten sich schon im Leben treffen müssen.
Es folgt die Korrektur: Beide dürfen noch einmal zurück ins Reich der Lebenden. Wenn sie es schaffen, 24 Stunden nicht an ihrer Liebe zu zweifeln, dürfen sie weiterleben, wenn nicht, sind sie für immer tot. Dass das Paar scheitern muss, wird schnell deutlich: Zu groß sind die Unterschiede zwischen dem hitzigen politischen Aktivisten und der passiv an ihrer Ehe zugrunde gehenden Eve, als dass ihre Liebe in der Realität bestehen könnte.
Der Existenzialismus als Schaubild mit Wollpullover
Im neu eröffneten, aber noch lange nicht fertig renovierten Schauspielhaus des Stuttgarter Staatstheaters hatte "Das Spiel ist aus" jetzt in einer Bühnenfassung Premiere. Die Schwierigkeit der Adaption liegt auf der Hand. Einerseits lässt sich die reiche Bilderwelt des Films nicht ohne weiteres auf die Bühne übertragen. Die Dialoge sind eher spärlich. Filmische Mittel müssen durch Theatrales ersetzt werden. Andererseits gilt es, Sartres verwirrende Aussage zu verdeutlichen, er habe keinen existenzialistischen Film machen wollen, sondern sein Szenario sei ganz geprägt vom Determinismus, dem Glauben also, zukünftige Ereignisse seien durch Vorbedingungen eindeutig festgelegt.
Im großen Ganzen ist Regisseur Sebastian Baumgarten beides gelungen. Das recht einfach gestrickte Skript wird intellektuell geschickt untermauert durch einen Vorspann, in dem ein humoriger Namensvetter Jean-Paul Sartres (Florian von Manteuffel) mittels dessen Essay "Der Existenzialismus ist ein Humanismus" in die Gedankengänge des großen Denkers einstimmt, inklusive Schaubild – wobei sich hier bereits zeigt, dass das alles nicht allzu bierernst genommen werden soll: Der schwarze Existenzialistenwollpullover des intellektuell Bebrillten reicht ihm beinahe bis zu den Knöcheln.
Dem Vorspann folgt das Lehrstück: "Das Spiel ist aus" als eine existenzialistische Situation, aus der heraus die Protagonisten verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen müssen, gemäß dem Motto: Freiheit ist nichts für feige Naturen. Die sehr detailreiche Inszenierung setzt auf enormes Tempo. Zwei Stunden vergehen im Fluge.
Der Diktator verzehrt eine Wurst
Der Aufwand, mit dem das Theater dem Film beikommt, ist dabei groß. Auf der nagelneuen Drehbühne kreist als Ort der Lebenden ein dampferartiges Gebilde und in großen Lettern das Wort "Determinismus". Filmprojektionen steuern Kampf- und Revolutionsszenen bei, auch der Kulturphilosoph Boris Groys kommt hier zu Wort. Während sich im Film Tote und Lebende fröhlich vermischen, sind die Welten auf der Stuttgarter Bühne zunächst getrennt. Das Totenreich ist eine dunkle Unterwelt, deren Bewohner in Clownskostümen stecken und motorisch schwer gestörte Verhaltensweisen an den Tag legen.
Karikiert und übertrieben wird allerdings auf jeder Ebene. Der diktatorische Regent (Boris Koneczny), den die Revolutionäre beseitigen wollen, wird nicht bloß als eitler Fatzke dargestellt, sondern vertilgt obendrein, mit einem großen Fleischermesser bewaffnet, blutüberströmt und nackt in einer Badewanne stehend, eine Wurst, während sein Lakai ihn mit einem Schlauch bewässert. Das lumpenproletarische Pärchen, aus dessen Händen Pierre und Eve auf Bitte eines verstorbenen Vaters dessen Tochter retten soll, trifft man kopulierend an: Hammer-Georges Sperma spritzt den beiden Möchtegern-Rettern entgegen, das völlig verkrätzte und entstellte Kind kaut an einem toten Hahn, möchte keineswegs sein Milieu verlassen und hält Eve durch ständige Selbstmordversuche auf Trab.
Wohlstandsschlampe und Choleriker im Totenreich
Bei aller Überfrachtung und Übertreibung, die gelegentlich auf den Wecker geht, bietet der Abend doch überzeugendes Theater. Dafür sorgen auch Nadja Stübinger als Eve und Till Wonka als Pierre, die ihre filmische Ungleichheit noch um ein Vielfaches übertreffen. Sie: eine aufgedrehte, oberflächliche Wohlstandsschlampe, er: ein cholerischer, prügelnder Draufgänger. Fulminant, wie beide den Übergang vom Totenreich ins Leben und die damit verbundene Materialisierung ihrer Körper spielen, Wonka entfesselt gegen Tische und Wände rennt.
Es kommt, wie es kommen muss: Kaum zurück im Leben hetzt Pierre zu seinen Revolutionskameraden, will den Aufstand abblasen, hat er doch aus dem Totenreich heraus beobachten können, dass die Revolution verraten wurde. Und Eve versucht ihre Schwester (Sarah Sophie Meyer) zu retten, die zweites Opfer des Exgatten (Rainer Philippi) zu werden droht.
Die Frist ist vorbei, beide fallen erneut ihren Mördern in die Hände. Zurück im Totenreich begegnet ihnen ein junges Liebespaar, das ebenfalls auf eine zweite Chance hoffen darf. "Kann man sein Leben wirklich noch mal von vorne beginnen?", fragt der junge Mann die gerade Gescheiterten? "Man kann es ja mal versuchen", ruft Pierre. Eine bessere Antwort hatte auch Sartre nicht parat.
Besprechung für nachtkritik.de und die Eßlinger Zeitung. Premiere war am 18. Februar 2012.
Stuttgarter Festival Eclat: Sieben Uraufführungen als Finale
Stuttgart - Der Sonntag war ein großer Tag für das kleine Festival Eclat: Sieben Uraufführungen fanden am Sonntag im gut besuchten Stuttgarter Theaterhaus statt, und zwar erstklassige Musik mit hohem Unterhaltungswert. Im Mittelpunkt stand das Klavier – mal elektronisch manipuliert, mal rein im Klang.
Sven-Ingo Kochs "Quel portone dimenticato" bot Piano pur: Von Ferne winkte Skrjabin ob der fein verästelten, von Florian Hoelscher zart und poetisch im Schweben gehaltenen Strukturen, die durch die Plopps und Gongs zweier präparierter Flügelsaiten perkussive Erdung erfuhren.
Scharfe Kontraste dazu boten Robert HP Platz' "Branenwelten 6". Klavierklang und Elektronik gingen hier eine verführerische Symbiose ein, die Zukunftspotential besitzt. Im Gestus hochvirtuos, wird immer wieder innegehalten, um der elektronischen Verlängerung der Klänge nachzuspüren. Klangeruptionen, Obertonflirren oder perkussive Repetitionsschleifen, in die einzelne Töne geschickt werden, sorgen beständig für Überraschungen. Nicolas Hodges bewältigte die Partitur mit kraftvoll-virtuosem Zugriff und immenser Klangfarbendifferenzierung. Ein großartiger Pianist, der auch in Harrison Birtwistles "Gigue machine" atemberaubende Gelassenheit an den Tag legte, die rhythmisch-metrisch immens vertrackten Passagen ebenso wie die maschinell ratternde Motorik zu ihrem Recht kommen ließ und dabei die Töne stets zum Sprechen brachte und fein abschattierte.
Geradezu spektakulär geriet Christoph Grunds Interpretation von Iris ter Schiphorsts "Dead wire", in dem der Pianist nicht nur den Flügel traktieren, sondern gleichzeitig auch ein Keyboard bedienen und Bildschirm und Noten im Blick behalten muss. Das Streichen der Flügelsaiten setzte das elektronische Eigenleben in Gang, virtuose Skalen brachten rhythmisch-metrische Entwicklungen in Gang wie eine Dampflokomotive, hohe Tonrepetitionen standen explosiven Donnerwettern und ihrem Nachhall gegenüber. Und das alles begleitete zuweilen noch das Schreien des Musikers. Furios!
Im Vergleich zu den Klavierkompositionen wirkten die Werke für Ensemble, die an diesem Tag zur Uraufführung kamen, geradezu brav: Hans-Jürgen Gerungs klangschönes "Non fare il minimo rumore" für Countertenor und Streichquartett erfreute durch seinen hochexpressiven Streichersatz, den das Stadler Quartett fein nuanciert und gestisch liebevoll durchgearbeitet zur Entfaltung brachte. Daniel Gloger sang allerdings vor allem in der Höhe oft viel zu laut, schrill und gepresst und wollte so mit der sensibel artikulierten Klangwelt der Streicher nicht wirklich zusammenkommen.
Das SWR Vokalensemble in der Leitung Marcus Creeds, das zuvor schon Tomoko Fukuis politisch ambitioniertes "To the forest" für Chor, Saxofon, Schlagzeug und Klavier zur Uraufführung gebracht hatte, beendete mit Mark Andres "hij 2" (für: Hilfe Jesu) einen experimentellen Tag mit einem eher konventionellen Werk: 40 Minuten lang werden vibrierende, zum Teil elektronisch verfremdete Klangflächen hörbar, die das Vokalensemble durch Töne, Atmen, Zischen, knisternde Alufolie und dem Rauschen kleiner Windräder erzeugte. Andre will den Zustand zwischen Leben und Tod dargestellt wissen, flüsternd wurden am Schluss Namen Verstorbener aneinandergereiht. Sehr esoterisch!
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten von heute. Die Konzerte fanden statt am 12.2.2012.
Eduarda bin natürlich ich! Diesen Spitznamen verpasste mir ein Freund in meiner Anfangszeit als Musikkritikerin in Erinnerung an den berühmten Eduard Hanslick.