Komponistenporträt Krzysztof Penderecki in der Stuttgarter Reihe "Musik am 13."
Stuttgart – Was er denn unbedingt noch in seinem Leben schreiben müsse, fragte Hans-Peter Jahn, SWR-Redakteur für Neue Musik, den großen polnischen Komponisten Krzysztof Penderecki im Porträt-Konzert der Reihe "Musik am 13." in der Bad Cannstatter Stadtkirche. Vielleicht endlich seine Sechste Sinfonie? Die hatte er in den 1990er Jahren begonnen, dann aber, so erklärte Penderecki, unterbrechen müssen wegen eines Auftragswerks zur 3000-Jahr-Feier der Stadt Jerusalem. So entstand seine 7. Sinfonie "Seven Gates of Jerusalem". Später folgte dann noch die Achte. Die Sechste blieb ungeschrieben. Offenbar hat der 78-Jährige aber nicht mehr vor, diese Lücke in seinem Oeuvre zu schließen. Und auch eine Neunte sei nicht unbedingt nötig, und mehr als neun Sinfonien sowieso nicht. Nein, Kammermusik, "persönliche Musik", das interessiere ihn nunmehr, darauf konzentriere er sich.
Trotz kleinem Budget konnte Kirchenkreiskantor Jörg-Hannes Hahn dem Publikum dank einer klugen Auswahl einen vielschichtigen Einblick in das umfangreiche Werk Pendereckis bieten: seine enorme Vielseitigkeit und musikalische Mitteilsamkeit aufzeigen, die sich in atonalen Klangballungen, Clustern, Geräuschhaftem genauso äußern kann wie in schwelgender, spätromantischer Harmonik. Deutlich wurde auch sein steter Willen, nicht in abstrakten Farbzuständen und Strukturen zu verharren, sondern Sinnbezüge herzustellen. Immer habe er nach neuen Klängen gesucht und sie gefunden, so Penderecki, habe anders sein wollen als seine Kollegen, habe sich mit Formen, Stilen und Harmonien der Vergangenheit auseinandergesetzt, und habe das alles letztlich zur Synthese geführt.
Im Zentrum des Konzerts stand zutiefst Erschütterndes: Von Band zugespielt wurde "Brygada Śmierci" (Todesbrigade), ein Radiohörstück von 1963, in dem das unvorstellbare Grauen, das im KZ Auschwitz geherrscht hat, in Worte und elektronische Klänge gefasst wird. Zuvor hatte Jörg-Hannes Hahn und sein exzellenter Kammerchor Cantus Stuttgart das berühmte "Stabat mater" von 1962 zu Gehör gebracht, mit dem Penderecki damals seine Avantgarde-Kollegen schockierte, weil das Stück trotz Clusterklängen und Zwölftonstrukturen am Ende doch in einen strahlenden D-Dur-Akkord mündet. Erfrischend aktuell klang das 2. Streichquartett von 1968, dessen expressiven, wirbelwindigen Klangfelder vom Lotus String Quartet rasant, präzise, mitreißend umgesetzt wurden. Mathias Neundorfs klangschöne Interpretation der melancholischen Cadenza für Violine von 1987 erfreute dann genauso die Ohren wie die Frauenstimmen von Cantus Stuttgart, die intonationssicher das schwelgerische "Sanctus" und "Benedictus" von 2002 sangen. Das vom gesamten Kammerchor als Finale vorgetragene "Agnus Dei" aus dem "Polnischen Requiem" von 1981, das auf den Aufstand im Warschauer Ghetto, die Erhebung der Arbeiter auf der Danziger Werft und die Solidarność-Bewegung Bezug nimmt, verwies noch einmal auf das besondere Engagement Pendereckis, in seinen Werken immer wieder politisch und gesellschaftlich Stellung zu beziehen.
Besprechung für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 14. Juli 2012. Das Konzert fand statt am 12. Juli.
eduarda - 15. Jul, 12:51
Ein großartiger Liederabend mit Christianne Stotijn, Mark Padmore und Julius Drake an der Stuttgarter Staatsoper
Stuttgart - Große Liedkunst und feine Programme: Die kleine Reihe mit Liederabenden, die die Staatsoper derzeit zusammen mit der Internationalen Hugo-Wolf-Akademie veranstaltet, entwickelt sich zum echten Highlight. Jetzt waren es die Mezzosopranistin Christianne Stotijn, der Tenor Mark Padmore und der Pianist Julius Drake, die mit grenzgängerischem Ausdruckswillen für eine elektrisierende Erneuerung dieser heute wenig populären Konzertgattung sorgten. Dass die Staatsoper nicht gerade üppig gefüllt war, mag König Fußball, aber wohl auch dem mutigen Programm geschuldet sein.
Da sang zunächst die charismatische, stimmlich enorm wandelbare Christianne Stotijn Schönberg- und Schumann-Lieder und machte sieben völlig unterschiedliche Seelendramen daraus. Ihre flexible, voluminöse, dabei immer klangschöne Höhe, das farblich fein differenzierende mittlere Register, die satte Tiefe - das ermöglicht der Niederländerin, aus jedem Lied einen anderen, bis in die feinste Nuance ausgeloteten Gefühlszustand zu machen. Die Gewissensnot des Soldaten etwa, der in Schumanns Antikriegslied „Der Soldat“ seinen eigenen Freund exekutieren muss, oder die mörderische Eifersucht der Liebenden in Schönbergs „Warnung“ gestaltete Stotijn so eindringlich, dass sich auf Seiten der versunken Lauschenden Gänsehautfeeling wie von selbst einstellte.
In Benjamin Brittens „Canticle II: Abraham und Isaac“, einer kantatenartigen Vertonung der berühmten biblischen Geschichte vom Sohnesopfer, mit dem Gott Abraham auf die Probe stellte, brachte dann der britische Tenor Mark Padmore seine stimmgewaltige, glasklare Höhe ins Spiel. Er verlieh Abraham wahrhaft tragische Größe, während Stotijn als Isaac für emotionale Erschütterung sorgte.
Das ganze Spektrum seines Könnens brachte Padmore dann in Leoš Janáceks hierzulande selten aufgeführtem „Tagebuch eines Verschollenen“ zum Einsatz. Das experimentelle Spätwerk beruht auf einem Gedichtzyklus, in dem der Dichter Josef Kalda die Aufzeichnungen des jungen, spurlos verschwundenen Bauern Janík zu veröffentlichen vorgab. In dieser Szenenfolge aus 22 Miniaturen gelang Padmore - auf Tschechisch singend - ein subtiles Porträt dieses zwischen zwanghaftem Verhalten und Befreiungsschlag hin- und hergerissenen Menschen, den seine Liebe zur „Zigeunerin“ Zefka dazu bringt, alle familiären und dörflichen Bindungen aufzugeben. Bis an die Grenzen ging Padmore bei der emotionalen Scharfzeichnung dieses Mannes, während Julius Drake am Flügel psychologische Feinarbeit leistete, indem er die innere Unruhe des Protagonisten, die sich in metrischer, harmonischer und melodischer Zerrissenheit niederschlägt, mit jener dunklen poetischen Atmosphäre amalgierte, die so typisch ist für das Klavierwerk Janáceks.
Und wunderbar auch der zärtlich süße Gesang der Zefka alias Stotijn, die in der Mitte des Zyklus erschien und dort stimmlich von einem überirdisch schön singenden Frauentrio vervielfältigt wurde.
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 26. Juni 2012. Das Konzert fand statt am 24. Juni.
eduarda - 27. Jun, 23:23
Bekenntnisse eines Serienkillers: Musiktheater mit US-Schauspieler John Malkovich in der Stuttgarter Liederhalle
Stuttgart - War er’s, oder war er’s nicht? Auch auf der Bühne des Stuttgarter Beethoven-Saals gesteht Jack Unterweger die elf Frauen-Morde nicht, die man ihm 1994 vor Gericht vorwarf. Unterweger: 1976 erstmals zu lebenslanger Haft verurteilter Mörder aus Österreich, erfolgreicher Knastpoet, Liebling der Intellektuellen, begnadigt, dann zum Held der Wiener Schickeria, zum Talkshow-Dauergast und Frauenverführer avanciert. Vorzeigeobjekt gelungener Resozialisierung, die dann geradewegs in das Serienkillertum führte.
Im englischsprachigen Musiktheater „The Infernal Comedy − Confessions of a Serial Killer“ von Michael Sturminger, mit dem der US-amerikanische Schauspieler John Malkovich und das Barockorchester Wiener Akademie in der Leitung Martin Haselböcks seit 2008 immer wieder die Welt bereisten und jetzt Station in Stuttgart machten, aufersteht Unterweger noch einmal: Eigentlich hatte er sich in der Nacht nach dem Grazer Gerichtsurteil 1994 ja in seiner Zelle mit der Kordel seiner Jogginghose erhängt.
Unterweltmusik von Gluck
Nun tritt er noch einmal an in der Unterwelt, um das zu tun, was er nach seinem ersten Mord am besten konnte: seine Lebensgeschichte zu verkaufen, und zwar in Form eines dicken Buches. Und bevor Malkovich an den Lesetisch mit den Verkaufsexemplaren tritt, macht die Wiener Akademie Stimmung mit Christoph Willibald Glucks dramatisch-wilder Unterweltmusik aus dem „Don Juan“.
Das reale Vorbild zur Bühnenfigur zu machen, funktioniert glänzend, war doch die Vermischung von literarischer Fiktion und tödlicher Wahrheit der Lebensinhalt Unterwegers. Man muss sich das mal vorstellen: Er arbeitete zuletzt als Journalist, schrieb Reportagen über jene Prostituiertenmorde, die er selbst begangen hatte, interviewte gar den ermittelnden Polizeichef, bevor jemandem endlich auffiel, dass sich an den Fundorten aller elf Frauenleichen Unterwegers Reiserouten ablesen ließen.
Und Malkovich, in unschuldig weißem Anzug und schwarzgepunktetem Hemd, spielt den Bösen, wie man es aus seinen Filmen kennt: mit der Selbstsicherheit des intellektuell Überlegenen, mit ausgeprägtem Narzissmus, mit männlichem Charme und Charisma, mit jener dunklen geheimnisvollen Seele, aus der einem plötzlich grenzenlose Gewalt entgegenspringt. Der Unantastbare gibt sich bei seinem Stuttgarter Gastspiel als Entertainer, gibt Tipps als Frauenversteher, philosophiert über Wahrheit und Lüge, erzählt sein Leben als einen stringenten Tatsachenbericht, lullt sein Publikum mit sanfter Stimme ein.
Man begreift, wie das funktioniert hat: seine Blendung der Verantwortlichen, die ihn freiließen, psychiatrische Gutachten ignorierten, die Unterweger „erhebliche psychische Abnormität“, ein sehr aggressives Verhalten speziell Frauen gegenüber und „sexuell-sadistische Perversion“ bescheinigt hatten. Und dann greift er plötzlich zu, geht den Frauen an die Wäsche, quält und demütigt sie. Denn in Unterwegers Lebensbeichte , die keine ist, werden immer wieder Konzert- und Opern-Arien von Mozart, Beethoven, Vivaldi, Haydn und von Weber implantiert: kraftvoll, höhensicher und berührend gesungen von den Sopranen Bernada Bobro und Martene Grimson, die Frauen darstellen, die Unterweger begegneten.
Gute Seele und Geliebte
Grimson in schwarzem Kleid: die Mütterliche, die gute Seele, die Geliebte. Bobro im blutroten Kleid: die Verführerin, die von Unterweger am Ende mit einem BH erwürgt wird - die Duftmarke des Killers. Da ist die krasse Mordlust wieder, das Unberechenbare. Es ist der einzige Mord, der an diesem Abend gezeigt wird. Der einzige, den Unterweger je gestanden hat - und aus dem er Profit gezogen hat: „Totschlag wertete mich auf“, lässt Malkovich ihn einmal sprechen, „wie sollte ich das je bereuen? Ich will jemand sein. Ich wäre lieber ein Mörder als ein Niemand.“
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 25. Juni 2012. Der Abend fand statt am 23. Juni.
eduarda - 26. Jun, 23:17
Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart in der Leitung von Peter Eötvös im Beethovensaal
Stuttgart − Peter Eötvös dirigiert mit metrisch ruhigem Atem, die Bewegungsimpulse der Musik mit großen, rotierenden oder vorwärtsschiebenden Gesten einfordernd. Konzentriert folgt das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR (RSO) in seinem jüngsten Abokonzert im Stuttgarter Beethovensaal dem gestalterischen Weg des Ungarn, der es als Komponist wie als Dirigent auf geniale Weise versteht, strukturelle Komplexität und Klangsinnlichkeit gleichermaßen zu ihrem Recht kommen zu lassen. Auf dem Programm standen eigene Werke von Eötvös sowie Orchesterstücke seines Landmannes Béla Bartók.
Ob im großbesetzten Konzert für zwei Klaviere und Orchester von 2007 oder im Kammerorchesterstück „Levitation“ für zwei Klarinetten, Streicher und Akkordeon von 2008: Es ist die ungeheure Vielfalt, gebändigt durch das schöpferische Kalkül, mit der der Komponist Eötvös sein Publikum in einen regelrechten Hörsog zieht – genauer: die Gleichzeitigkeit gegenläufiger Bewegungen, divergierender Gesten, verschachtelter Rhythmen, die sich auf magische Weise doch zu einem irisierenden Klangkosmos zusammenfügen. Maschinell ratternd und manisch-virtuos ist der Gestus des Doppel-Soloparts des fünfsätzigen Klavierkonzerts. Die beiden Pianisten Andreas Grau und Götz Schumacher, die das Werk einst auch uraufgeführt haben, agierten präzise wie ein Uhrwerk, mit überragender Geläufigkeit und perfekt korrespondierend. Hier wie im Klarinettenkonzert wirkten die Solistenduos klanglich wie siamesische Zwillinge, als handele es sich um ein einziges, aber zweistimmiges Instrument.
Die Klarinettisten Dirk Altmann und Sebastian Manz dagegen sorgten mit warmem, dynamisch äußerst flexiblem Ton dafür, dass der Titel „Levitation“ plastisch hörbar wurde, beschreibt er doch das Phänomen, Menschen oder Gegenstände auf unerklärliche Weise zum Schweben zu bringen. In beiden Konzerten Eötvösʼ sind die Solisten in einen vielstimmigen, komplex kommunizierenden Kosmos eingebunden, den das RSO hier wie dort farbig, äußerst transparent und in all seinen rhythmischen Raffinessen zum Sprechen brachte − eine Sternstunde der Neuen Musik.
Peter Eötvösʼ kompositorische Handschrift übertrug sich dann auf geheimnisvolle Weise auch auf sein Dirigat der Werke Bartóks. Viel von dem, was in den eigenen Werken des 68-Jährigen hörbar wird, schien auch bei Bartók deutlicher formuliert auf als üblich: die pralle Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Gesten, die schillernde, vertrackte Rhythmik. Bartóks Tanz-Suite von 1923 konnte sich auf diese Weise in ihrer ganzen finsteren, martialischen Kraft und Doppelbödigkeit entfalten, die sie aus den Impulsen volksmusikalischer Tänze und Lieder erwachsen lässt. Und die lyrischen melancholisch-süßen Gedanken, die plötzlich im wilden, rohen Stampfen oder über Abgründen auftauchten, offenbarten utopische Momente. Ebenso modern wirkte Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, von der man an diesem Abend kaum glauben mochte, dass sie bereits 75 Jahre alt ist.
Dieses Ereignis Neuer Musik fand vor gut gefülltem Haus statt. Das ist dem RSO heute möglich, weil es über viele Jahre hinweg Aufbauarbeit geleistet hat und mit mutigen Programmen und interpretatorischer Weltklasse sein Publikum an Zeitgenössisches „gewöhnt“ hat. Nicht nur deshalb können Stuttgart und der Rest der Musikwelt auf dieses Orchester nicht verzichten.
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 23. Juni 2012 sowie nmz online. Das Konzert fand statt am 21. Juni.
eduarda - 24. Jun, 23:09
Stuttgarter Philharmoniker widmen sich Ottorino Respighis Ballettmusik „Belkis, Königin von Saba“
Stuttgart - Vielleicht ist es das klanglich spektakulärste Dokument jener Zeit, in der europäische Künstler ihre Sehnsucht nach Exotik noch in einem zurechtgeträumten Orient zu stillen suchten: Ottorino Respighis Ballettmusik „Belkis, Königin von Saba“, die mit einem Riesenaufgebot an Musikern 90 Minuten lang auch ohne Tanzkompanie opulentes Märchen-Ohren-Kino à la „Tausendundeine Nacht“ heraufbeschwört. Das zeigte das Konzert der Stuttgarter Philharmoniker im Beethovensaal eindrücklich, die sich des aufwendig gestalteten Schmachtfetzens, der 1932 an der Mailänder Scala uraufgeführt wurde und danach in der untersten Schublade der Musikgeschichte verschwand, jetzt annahmen - ergänzt durch den Tschechischen Philharmonischen Chor Brünn und die Mezzosopranistin Stella Doufexis. Und auch ein Märchenerzähler war mit von der Partie. Freilich ohne Bart und Wasserpfeife, sondern in Gestalt der Schauspielerin Julia Jentsch, die gelegentlich in melodramatischer Manier aus den choreographischen Original-Anweisungen Claudio Guastallas las und dafür sorgte, dass die Geschichte der Königin von Saba und ihrer Reise zum heiß geliebten König Salomon, die in Schriften aller drei monotheistischen Weltreligionen Eingang gefunden hat, von jedem im Saal verstanden wurde.
Es muss unglaublichen Spaß machen, diese phänomenal, ja zum Teil avantgardistisch instrumentierte Musik zu dirigieren. Das sah man Gabriel Feltz an, der als Zaubermeister vor seinem Orchester stand und es mit großen Gesten in eine musikalische Laterna Magica verwandelte, die am laufenden Band bunt schillernde und sinnliche Bilder an die Ohren sendete: Sonnenlicht, das sich in bunten Edelsteinen und güldenem Geschmeide bricht, von warmem Wind durchwehte malerische Paläste, ekstatische Schleiertänze, wild wütende Stürme, Karawanen und Wüstenschiffe, die sich durch glühend heiße Sandlandschaften wiegen. Toll!
Allein acht Perkussionisten sorgten für den pulsierenden Fluss einer stets zwischen Meditation und Ekstase balancierenden Musik. Respighi hat das Flair der Musik des Orients perfekt eingefangen, in der - anders als in der europäischen Kunstmusik - Rhythmus und Melos stärker gewichtet sind als die Harmonik und in der sich Spannung ruhig aufbaut. Über Klangflächen und wiegenden Rhythmen entfaltet sich die fein ornamentierte Melodik frei, um dann in ekstatische Steigerungsschübe überführt zu werden und nach der Kulmination wieder in einen tranceartigen Zustand zurückzufallen. Immer wieder und in sich kreisend. Dass diese morgenländische Monotonie spätestens beim orientalisch verschnörkelten Flötensolo Nummer dreizehn die Augenlider etwas schwerer und die Ohren etwas schlapper machte, tut am Ende nichts zur Sache. Die Stuttgarter Philharmoniker haben sich mit dieser Ausgrabung, die auch als DVD produziert wird, hochverdient gemacht.
Warum dem abendfüllenden Ohrenkino noch Mozarts von Isabelle Faust bezaubernd leicht und fein durchgestaltetes G-Dur-Violinkonzert vorgeschaltet worden war, bleibt indes schleierhaft. Vermutlich als Lockstoff für das vergessene Werk - was funktioniert hat. Denn der Beethovensaal war gut gefüllt, und das Publikum am Ende schwer begeistert.
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 19. Juni 2012. Das Konzert fand statt am 17. Juni.
eduarda - 19. Jun, 23:04
"La Strada – Das Lied der Straße": Stephan Bruckmeier inszeniert eine Bearbeitung von Federico Fellinis Filmklassiker im Stuttgarter Alten Schauspielhaus
Zampano und Gelsomina seien zwei Geschöpfe, die unauflöslich miteinander verbunden seien, ohne zu wissen warum, sagte Federico Fellini über die beiden Protagonisten seines 1954 gedrehten Kinofilms "La Strada". Dass es die Liebe ist, die den wortkargen und gewalttätigen Jahrmarktsartisten Zampano an das tumbe, kindlich-naive Dorfmädchen Gelsomina kettete, offenbart erst die Schlusssequenz: als Zampano, der sonst so gefühllose und brutale Kerl, vom Tod Gelsominas erfährt, Unmengen Alkohol in sich hineinschüttet, zum nahe gelegenen Strand torkelt und dort weinend zusammenbricht. Die Kamera fährt zurück und lässt den Verzweifelten auf dem nächtlichen, menschenleeren Strand allein. Und gegen die Brandung des Meeres bäumt sich noch einmal Nino Rotas schöne, jetzt ins Sinfonische eingebettete Trompetenmelodie auf – Leitmotiv für die Beziehung Gelsominas zum seiltanzenden Clown Matto, den Zampano im Affekt erschlagen hat. Dies Finale ist zum Heulen traurig. Aber es ist nicht kitschig, weil sich die Intensität dieses Augenblicks aus dem perfekten Zusammenspiel aller künstlerischen Komponenten nährt: aus der grandiosen Darstellung Anthony Quinns und Giulietta Masinas, der Regie, dem Drehbuch, der Kamera, der Musik.
Einem filmischen Meisterwerk auf einer Theaterbühne Konkurrenz zu machen, ihm etwas Eigenständiges entgegenzusetzen, ist kein leichtes Spiel. Im Stuttgarter Alten Schauspielhaus hatte "La Strada – Das Lied der Straße" jetzt in einer Bühnenadaption des Wuppertaler Dramaturgen Gerold Theobalt Premiere. Seine Bearbeitung ist ein Extrakt der theatertauglichen Szenen des Films, die in ein stringent erzähltes Bühnendrama überführt werden. Die Inszenierung von Stephan Bruckmeier schlägt sich zunächst auch recht wacker dank überzeugender Darsteller und einem charmant-realistischen Ausstattungsminimalismus: Bruckmeiers selbst entworfenes Bühnenbild beschränkt sich zumeist auf einen abgewrackten, rostigen, türkisfarbenen Citroën-Kastenwagen, der auf der Drehbühne zwischen den Szenen zu Zirkusmärschen seine Kreise zieht. Hier wie im Film ist die Wohnung der beiden bitterarmen, fahrenden Artisten ein mobiles Gefährt, mit dem man von Jahrmarkt zu Jahrmarkt tourt, um dort Zampanos Kettenzerreiß-Nummer vorzuführen. Gerade diese Dynamik zwischen den Szenen hält den Abend am Laufen. Daher zeigt sich die Entscheidung, auf Nino Rotas Filmmusik samt ihrer berühmten Trompetenmelodie zu verzichten und Neues beim TV-Serien- und Musical-Komponisten Gerd Schuller in Auftrag zu geben, zunächst noch durchaus als fruchtbar, bringen doch besonders die fetzigen, vorantreibenden Zwischenmusiken Tempo und Leichtigkeit in das Stück.
Lucia Peraza Rios lehnt sich in ihrer berührenden Darstellung der Gelsomina deutlich an die filmische Vorlage an, wirkt trotz ihrer Naivität und Unterwürfigkeit aber stärker und selbstbewusster, im Verlauf des Stücks sogar durchaus fähig zur Reflexion. Ihre Mimik bringt dabei mehr Differenzierung ins Spiel als ihre manchmal etwas zu sehr auf Kindlichkeit getrimmte Stimme. Kostümbildnerin Leah Lichtwitz hat ihr rosa Haare, Blümchenrock und Leggings verpasst. Das stört dank der intensiven darstellerischen Leistung nicht weiter. Wolfgang Seidenberg in Jeans, Unterhemd und Westernstiefeln wirkt dagegen in seiner Absicht, Gelsomina wie einen Hund zu seiner Sklavin abzurichten, nicht ganz so grobschlächtig und unnahbar wie der Quinn'sche Zampano – eher ein bisschen wie ein prolliger Trucker.
So weit, so gut. Doch Stephan Bruckmeier misstraut offenbar seinem Regiekonzept, hübscht es immer wieder unnötig an entscheidenden Stellen auf. So bringt etwa eine zehnminütige, echte Trapeznummer, in der Zirkusartistin Mara Bittmann allerlei gelenkige Sperenzien vollführt, das Bühnengeschehen völlig zum Erliegen. Während Seiltänzer Matto (Oliver S. El-Fayoumy) ganz im Widerspruch zum vorangegangenen artistischen Realismus bei seinen Eskapaden in luftiger Höhe aus dem Off agiert. Immer wieder zerschroten Regieeinfälle die sorgsam aufgebaute Atmosphäre des ärmlichen Schausteller- und Zirkusmilieus, gelegentlich sogar die besten Augenblicke der Darsteller: besonders auffällig in der Schlussszene, als Seidenberg den plötzlichen Wandel Zampanos vom gefühlskalten Macho zum trauernden Liebenden phänomenal spielt. Stille wäre die einzige finale Antwort.
Doch derweil Zampano greint, lässt Bruckmeier noch einmal die Zirkustruppe samt Gelsomina und Matto antreten, die Zampano nun mit vorwurfsvollen Augen stumm anblickt. Dazu rieselt kräftig musikalischer Zucker aus den Boxen – thematisch geerdet durch die neu komponierte Posaunenmelodie, die Nino Rotas sehnsuchtsvolles Trompeten-Thema ersetzt. Kitsch macht sich breit. Nicht das erste Mal an diesem Abend, hatte doch zuvor schon Zampanos Damenbesuch aus dem horizontalen Gewerbe (Ilka Wolf) völlig unvermittelt und unpassend ein musicalmäßiges "In meinem Herzen wohnt ein Lied" vor sich hin geschmachtet.
So ist es auch die Musik von Gerd Schuller und ihre fehlende stilistische Festlegung, die der Inszenierung im Wege steht. Weniger wäre hier mehr gewesen, die Zirkus-Zwischenmusiken hätten ihre Wirkung getan, und vielleicht hätte man auf Rotas traurige Trompete besser nicht verzichtet. Denn ohne diese suggestive Melodie scheint die Geschichte von Gelsomina, Matto und Zampano am Ende nicht wirklich fertig erzählt.
Besprechung für nachtkritik.de und die Eßlinger Zeitung vom 16. Juni 2012. Premiere war am 14. Juni.
eduarda - 18. Jun, 13:44
Staatsorchester und Pietari Inkinen in der Stuttgarter Liederhalle
Stuttgart – Das aufregendste Ereignis in der ersten Hälfte des sonntäglichen Sinfoniekonzerts des Stuttgarter Staatsorchesters war wohl, dass dem finnischen Dirigenten Pietari Inkinen in den letzten Klängen vor der Pause der Taktstock aus den Fingern glitt und über den Köpfen der Streicher einen mehrfachen Salto schlug. Bis dahin hatte das Orchester bei seinem morgendlichen Auftritt im Stuttgarter Beethovensaal müde und etwas blass gewirkt. Auch Pietari Inkinens gestisch eher zurückhaltender Dirigierstil konnte die Musiker nicht wirklich aufwecken. Die träge Sonntagsstimmung und etwaige Erschöpfungserscheinungen als Tribut an eine anstrengende Opernsaison mögen daran Anteil gehabt haben, dass Leoš Janáčeks Lachische Tänze zwar ordentlich, gelegentlich auch mit Esprit, aber des öfteren mit zu wenig innerer Spannung gespielt wurden. Und Béla Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, die in ihrer harmonischen und rhythmischen Expressivität im Idealfall elektrisierend wirkt, ließ magische Momente vermissen.
Doch der spektakuläre Flug des Dirigierstabes wirkte wie ein Fanal. Nach der Halbzeitpause war das Staatsorchester wie ausgewechselt. In Kaija Saariahos insgesamt dreiminütigen zwölf Orchesterminiaturen "Forty Heartbeats" von 1998 stellte sich beim Orchester endlich jene Konzentration ein, die Klangfarben zum blitzschnellen Wechseln bringt und rhythmischer Komplexität Spannkraft gibt. Mit der Orchesterbearbeitung von Johannes Brahms' erstem Klavierquartett g-Moll op. 25 von 1861, mit der Arnold Schönberg 1937 seiner Brahms-Verehrung plastisch Gestalt verlieh, sprang der Funke dann endgültig ins Publikum über.
Ohne äußerste Konzentration aufs Detail wäre diese klanglich dichte Partitur aber für das Orchester auch gar nicht zu bewältigen, hat Schönberg doch Brahms' Quartett satztechnisch genau unter die Lupe genommen, das Klangspektrum dieser eigentlich intimen Kammermusik ins übertrieben Riesenhafte vergrößert und dadurch den Gestus dieser Musik ungeheuer dramatisiert – scherzhaft, wohl aber nicht ganz ohne Stolz, sprach Schönberg von seiner Bearbeitung als der Fünften Sinfonie Brahms' – obwohl dieser sein Quartett lange vor seiner Ersten komponiert hat.
Das großbesetzte Staatsorchester inklusive sechs Schlagzeugern sorgte nun für eine spektakulär auftrumpfende Klanglichkeit, in der die Instrumentalisten nicht nur im rasanten Rondo-Finale "alla zingarese" oft zu hanebüchender Virtuosität gezwungen werden. Aber auch die Vorzüge dieser Bearbeitung, die völlig gleichgestellte und darin äußerst attraktive Behandlung von Streicher- und Bläserapparat, arbeitete Inkinen und das Orchester jetzt deutlich heraus. Wunderbar kam die enorme Farbigkeit der wahrhaft schillernden Instrumentation Schönbergs zur Geltung, die den Brahms'schen Klangkosmos um einiges erweitert. Und nicht erst das furios-feurige Finale zeigte mehr als deutlich, wie sehr Schönberg untertrieben hatte, als er einst schelmisch erklärte: "Ich hatte nur diesen Klang auf das Orchester zu übertragen, und nichts anderes habe ich getan."
Besprechung für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 11. Juni 2012. Das Konzert fand statt am 10. Juni.
eduarda - 12. Jun, 21:34
Mitreißend: der Percussionist Martin Grubinger und die Salzburger Camerata im Stuttgarter Beethovensaal
Stuttgart - Martin Grubinger gilt schon lange als Heilsbringer der Klassik-Branche. Der trommelnde Entertainer und athletische Multipercussionist hat das Schlagzeug als Soloinstrument in der E-Musik erst wirklich salonfähig gemacht. Dass er mit seiner Kunst aus dem Stand heraus Konzertsäle zum Toben bringen kann, zeigte der 29-Jährige jetzt wieder einmal im Stuttgarter Beethovensaal. Zusammen mit der Salzburger Camerata in der Leitung Ariel Zuckermanns spielte er Werke US-amerikanischer Komponisten. Dem Abend lag ein gewaltiger, mitreißender dramaturgischer Bogen zugrunde, der im anfangs verdunkelten Saal mit Charles Ives‘ fragiler, introvertierter, schlagwerkfreier „Unanswered Question“ begann und in euphorischem, lärmendem Frohsinn endete: Als Zugabe spielten Grubinger, seine Trommel-Kumpels und die Camerata eine Jazz-Suite von Wolf Kerschek, die eine Zeitreise durch die Geschichte Amerikas und den Jazz wagt. Spektakulärer Höhepunkt: eine New-Orleans-Blaskapellen-Parade durch den Beethovensaal mit anschließendem „Hey man“-Chor des Publikums - animiert von Martin Grubinger senior, dem ebenfalls trommelnden Vater des Stars.
Seine grandiose Schlagfertigkeit stellte Martin Grubinger junior aber vor allem in John Coriglianos „The Conjurer“ (Der Zauberer), komponiert 2007, unter Beweis. Ein Stück, das in den drei Sätzen der zugrunde liegenden klassischen Solokonzertform jeweils eine Gruppe des bühnenfüllenden Schlagwerks vorstellt und mit deren typischen Klangcharakteren jongliert. Ob in den Solokadenzen oder im Verein mit dem klangschön und präzise aufspielenden Kammerorchester: Faszinierend, wie differenziert, konzentriert, virtuos Grubinger im quicklebendigen „Wood“-Satz die Schlegel über die Marimba tanzen lässt und die vielen Holzblöckchen zum Plappern bringt, wie er im spirituellen „Metal“ mit Vibraphon, Gong und Röhrenglocken den Saal in eine sakrale Ewigkeitsatmosphäre taucht und im explosiven „Skin“ auf den Fellklingern in archaisch-rhythmische Trommeldonner-Ekstase gerät.
Martin Grubinger ist bei allem Ruhm offenbar ein bescheidener Musiker und ein guter Kumpel geblieben. So übernahm er in Aaron Coplands „Appalachian Spring“ den Part des dienenden Trommlers und haute dementsprechend nur gefühlte dreimal auf die Pauke. In dieser filmmusikalisch inspirierten Orchestersuite aus Melodien, Tänzen, Hymnen und Fanfaren stand jetzt der exzellente, sehr bewegliche und virtuose Bläserapparat der Camerata im Mittelpunkt.
Weil es an diesem Abend um Amerika ging, durfte natürlich auch Leonard Bernsteins „West Side Story“-Suite nicht fehlen. Für diese spezielle Bearbeitung, die Percussionsinstrumente in den Mittelpunkt stellt, holte Grubinger seinen Vater, den Conga-Spieler Ismael Barrios und den Schlagzeuger Sebastian Lanser zum Orchester auf die Bühne, um gemeinsam mit ihnen Tanzfieber zu verbreiten. Spätestens jetzt geriet das euphorisierte Publikum völlig aus dem Häuschen.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 8. Juni. Das Konzert fand statt am 5. Juni.
eduarda - 9. Jun, 18:01
Olivia Trummer und Stefanie Irányi geben sich romantisch
Ludwigsburg - Ein „romantischer“ Abend war es durchaus, was die Jazzpianistin Olivia Trummer und die klassisch ausgebildete Mezzosopranistin Stefanie Irányi bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen auf die Bühne der Karlskaserne brachten. Freilich nur „romantisch“ im umgangssprachlichen Sinne, wenn man damit Träumerei, Sehnsucht und Gefühl assoziiert. „Wenn die Mondnacht neu entsteht“ hatten die beiden Künstlerinnen ihr Programm genannt. Zunächst gab es Exempel aus der musikalischen Romantik zu hören - von Schumann, Mendelssohn und dem jugendlichen, noch der Spätromantik verpflichteten Alban Berg - und danach Olivia Trummers eigene Vertonungen von Eichendorff-Gedichten.
Nicht ganz astrein und etwas farbarm spielte Trummer zunächst zwei berühmte „Lieder ohne Worte“ von Mendelssohn, bevor Schumanns noch berühmtere „Mondnacht“ erklang. Der Liedversion stellte Trummer eine nette kleine Jazzimprovisation über Motive des Stücks voran, bevor Stefanie Irányi erstmals zum Zuge kam. Doch die beiden Musikerinnen wollten noch nicht zusammenfinden. Dass Trummer die Sängerin - entgegen der Gepflogenheiten - auswendig begleitete, mag zunächst eine Äußerlichkeit sein. Aber sie wurde im Zusammenwirken hörbar. Denn zu sehr war Trummer in ihre eigene Welt versunken, mit sich selbst beschäftigt. Sie malte am Flügel kräftige Farben, schön und oft aufgewühlt, aber sie ging zu wenig auf die speziellen Farben der Sängerin ein, gestaltete deren Part nicht mit, trug sie nicht wirklich, sondern baute neben ihr eine andere Welt auf. Stefanie Irányis Stimme war zudem der undankbaren, sehr trockenen Akustik der Karlskaserne gnadenlos ausgeliefert, blieb auf sich selbst zurückgeworfen. Im leisen und hohen Bereich sprach ihr Organ oft nur träge, manchmal gar nicht an.
Dass die dunkle Seite der Romantik an diesem Abend abwesend blieb, zeigte sich bereits in Alban Bergs „Sieben frühen Liedern“, in die Trummer flinkfingrige Improvisationen über Gershwins „I love you, Porgy“ und „Summertime“ einbaute und dadurch alle dunklen Andeutungen in Bergs Liedern wieder negierte. Die Nacht - in der Romantik Gegenstück zum klaren, nüchternen Tag und Sinnbild für das Mysterium und den Rausch, vor allem aber für den Tod als Aufhebung aller Grenzen - verlor dann auch in Trummers eigenen Kompositionen alles Doppelbödige, Bedrohliche, Finstere. Ihre Klangwelt ist der jazzige Pop, der von ihrem feinen, farbigen, oft witzig verzierten Klavierspiel lebt, das klanglich rosa Wolken malt und über Eichendorff-Gedichte wie „Mondnacht“, „Wunderquelle“ oder „Schläft ein Lied in allen Dingen“ eine feine Zuckerglasur legte: Romantik im Gewande eines Blümchen-Jazz. Immerhin musizierten Trummer und Irányi jetzt harmonisch miteinander, ergänzten sich gut, und das Publikum lauschte verzückt, wie sich die klassisch klare Stimme Irányis und die hohen Scat-Gesänge Trummers ineinander verwoben.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 6. Juni.
eduarda - 8. Jun, 14:53
Ludwigsburger Schlossfestspiele: Uraufführung von Richard van Schoors Oratorium „Die sieben letzten Worte …“
Ludwigsburg - Nach gut einer Stunde schuldbeladenem Seufzen, Klagen und Weinen über die Hinrichtung des Gottessohnes, wie es Joseph Haydn in seiner Oratoriumsfassung der „Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ eindrücklich in Musik gegossen hat, waren einem die Kirchenbänkchen im räumlich bedrängenden Innern der spätbarocken Ludwigsburger Schlosskirche doch arg eng geworden. Man sehnte sich nach einer kleinen Pause, um die gestauchten Glieder ein wenig zu räkeln. Aber flugs ging es weiter. Und im Nu waren alle Ermüdungserscheinungen vergessen. Richard van Schoors moderne kompositorische Antwort auf Haydns Sicht der Dinge nahm vom ersten Takt an für sich ein. Van Schoor versteht es, Musik wirkungsvoll, abwechslungsreich und zeitlich perfekt ausgewogen in Szene zu setzen.
Die Ludwigsburger Schlossfestspiele hatten das Oratorium bei dem südafrikanischen, 1961 geborenen Komponisten in Auftrag gegeben. Michael Hofstetter am Dirigierpult führte Festspielchor und -orchester sicher durch den Abend.
Der Titel „die sieben letzten worte … in anderen worten“, der einen bedeutenden Bestandteil weglässt, verrät sofort, worum es Richard van Schoor geht: Nicht Erlösung, auf die Haydn noch unverbrüchlich hoffen dürfte, erfuhren die Menschen durch den Tod Jesu. Nein, das Unglück fing mit seiner Kreuzigung erst an. Jesu Leiden wird zum Leiden des Menschen. Und von den sieben unterschiedlichen letzten Sätzen, die der sterbende Jesus am Kreuz geäußert haben soll und die die Kirche aus den vier Evangelien zusammengefasst hat, bleibt bei van Schoor nur noch einer übrig: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Biblisches erklingt nur an einer Stelle: die wenig Hoffnung versprühenden Teile der Psalme 22 und 88, die von Gottes Schrecken und Gottes Ferne zeugen. Ansonsten: finstere Lyrik des Komponisten und Nachrichtenmeldungen über Morde, Massaker, Genozide. Im Namen der Religion sei schon zu viel angerichtet worden, was nichts mit Gott zu tun habe, so der Komponist.
Die Klangwelt van Schoors fängt den Schrecken dieser Welt ein. Wie aus der Ferne nimmt der Komponist immer wieder Bezug auf die musikalische Welt der Passionen. Hartes Traktieren eines Cellos erinnert zu Beginn an die Hammerschläge der Kreuzigung. Immer wieder schält sich ein wohlklingendes Bläsersolo aus Clusterklängen und Trommeldonner, folgt bruitistischem, wohlgeordnetem Chaos trauerumflorter, polyphoner Schönklang, der vage an Bach und Brahms erinnert und manchmal auch an gregorianisch Archaisches. Eine versunkene, vergessene Welt, in deren Nachhall hinein der Chor die Namen diverser Mordopfer flüstert oder die vier Solisten gleichzeitig unterschiedliche furchtbare Nachrichtenmeldungen sprechen. Ein musikalisches Grabdenkmal für all die unbekannten Opfer unbeschreiblicher, religiös motivierter Gewalt.
Bewegend ist die zwischen Gesang und Sprechen oft changierende Deklamation der vier Solisten. Kirsten Blaise (Sopran), Ruth Sandhoff (Mezzosopran), Daniel Johannsen (Tenor) und David Jerusalem (Bass) beeindruckten aber gleichermaßen in Haydns Meditationen in Moll. Durch Emphase und Beseeltheit und mitreißendes Spiel überzeugten auch Chor und Orchester der Festspiele. Nachdenklicher Stille am Ende folgte begeisterter Applaus.
Besprechung für die Stuttgarter Nachrichten vom 4. Juni und nmz-online. Das Konzert fand statt am 2. Juni.
eduarda - 5. Jun, 17:55
Georg Nigls und Alexander Melnikovs großartiger Balladenabend in der Stuttgarter Staatsoper
Stuttgart - Man glaubte, das Holz im Kamin knistern zu hören und den Wind, der ums Haus jault. So sehr fühlte man sich beim jüngsten Liederabend in der Staatsoper zurückversetzt in alte Zeiten: Als man sich noch in der warmen Wohnstube grausige, genüsslich ausgeschmückte Balladen erzählte, um sich an den langen Winterabenden nicht zu Tode zu langweilen. Das Sterben überließ man da lieber den Opfern von enervierenden Erlkönigen und raffinierten Rattenfängern, von zwielichtigen Zwergen und wollüstigen Wolkenmädchen.
Väterliche Verzweiflung
Der Wiener Bariton Georg Nigl und sein kongenialer russischer Partner am Klavier, Alexander Melnikov, ließen aber auch keine Gelegenheit aus, um den romantischen Vertonungen deutscher Balladen noch eine farbliche Facette, noch einen Tonfall mehr abzugewinnen, um die Ereignisse möglichst plastisch wirken zu lassen. Gebannt folgte das Auditorium in Carl Loewes „Erlkönig“-Vertonung Nigls stimmlich differenzierender Darstellung väterlicher Verzweiflung, kindlicher Todesangst und geifernder Aufdringlichkeit des Erlkönigs.
Ob Franz Schuberts Balladen „Der Zwerg“ oder „Das Wolkenmädchen“, ob Carl Loewes „Herr Oluf“ oder „Odins Meeresritt“, ob Hugo Wolfs „Der Rattenfänger“ oder „Der Feuerreiter“ - den großen epischen Bogen der mystischen Moritaten gestaltete Nigl stets mit extrem differenzierender Dynamik, mit mephistophelischer Mimik und Körpersprache, mit Gänsehaut erzeugender Suggestionskraft. Als Spezialist für Neue Musik kennt er sich aus im Kosmos moderner, klangverfremdender Stimmtechniken, was ihm auch bei der Interpretation romantischer Balladen zugute kommt.
Reise in den Abgrund
Es geht ihm hier nicht um Schöngesang, nicht um die verinnerlichte Zurückhaltung, die für das lyrische Kunstlied so typisch ist. Extrovertiert jagt er durch Verse und Takte, wechselt vom lapidaren Erzählton ins Flüstern und Säuseln, vom zornig aufgewühlten Schmettern in schaurig schallende Grabestiefe, dünnt den Ton oft plötzlich aus, lässt ihn sich wieder aufbäumen, dann bleich verenden.
Viele Schweißperlen kostete den Künstlern dieser lange Abend. Verausgabt hatten sich am Ende beide: Auch Alexander Melnikov am Flügel. Der großartige Pianist, der als Solist bisher vor allem durch seine Schostakowitsch-Interpretationen Aufsehen erregt hat, begleitete Nigls Parforceritte und Reisen in den Abgrund mit enormer atmosphärischer Gestaltungskraft. Phänomenal, wie sich in Hugo Wolfs „Geister am Mummelsee“ der Fackelzug langsam in ein dämonisches Totengeleit und dann in einen irisierenden Geistertanz verwandelte oder wie Melnikov in Robert Schumanns „Muttertraum“ die Töne sich wundersam irreal zueinanderfinden lässt oder wie unter seinen Händen Dramatik in aufbrausendem, rauem Akkordsturm eskaliert. Ein mitreißender, spannender Abend war das - und übrigens eine Kooperation zwischen Staatsoper und Internationaler Hugo-Wolf-Akademie, die das Publikum am Ende glücklich bejubelte.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten vom 22. Mai. Das Konzert fand statt am 20. Mai.
eduarda - 23. Mai, 17:52
Volker Lösch holt am Stuttgarter Staatstheater Camus’ „Die Gerechten“ in unsere Zeit
Stuttgart - Samstagmittag in Frankfurt, im Herzen des internationalen Finanzbankentums: „Blockupy“-Demo gegen die Macht der Banken, die Sparpolitik der EU und gegen deutsche Großunternehmen, die Rekordprofite, auch durch Leiharbeit und sinkende Reallöhne finanziert, verzeichnen. Es ist die einzige offiziell genehmigte Veranstaltung der viertägigen „Blockupy“-Aktionstage. Alle anderen hat die Stadt Frankfurt aus Angst vor Krawallen verboten. Flankiert von 5000 Polizisten zogen 25 000 Demonstranten aus mehreren Ländern friedlich durch das Bankenviertel. Im französischen Attac-Block singen sie Lieder gegen den Fiskalpakt, beschwören die Solidarität mit Griechenland und skandieren rhythmisch „Ré-sis-tance“ und „A- …, Antí- …, Antí-capí-talí-sme“.
Dann mit dem Zug schnell zurück nach Stuttgart, pünktlich zur Premiere ins Schauspielhaus: Volker Lösch hat Albert Camus’ 1949 uraufgeführtes Schauspiel „Die Gerechten“ in unsere Zeit geholt, es genau mit den Fragen konfrontiert, die in den letzten Frankfurter Tagen eine so große Rolle spielten. Welche Möglichkeiten haben wir heute, in gesellschaftliche Prozesse einzugreifen, sie aktiv mitzugestalten, gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt zu kämpfen, uns politisch zu artikulieren?
Nicht immer nur reden, handeln!
Camus verarbeitete in den „Gerechten“ ein reales Geschehen aus dem Jahr 1905: Eine Gruppe junger russischer Sozialrevolutionäre plant ein Attentat auf den Großfürsten Sergej Romanow und tötet diesen schließlich durch eine Bombe - nicht ohne den eigenen Tod in Kauf zu nehmen, ja, sogar zu wünschen. „Ich liebe nicht das Leben, ich liebe die Gerechtigkeit“, sagt einer der Attentäter. Es geht in den „Gerechten“ um die Frage nach dem Sinn und nach den Grenzen politisch motivierter Gewalt. Sollen dem Mordanschlag zur „Befreiung des russischen Volkes“ etwa auch die Kinder des Fürsten zum Opfer fallen? Nein, sagt der eine, und kann die Bombe nicht werfen. Ja, sagt der andere - schließlich rette man dadurch Tausende andere Kinder vor dem Hungertod.
Die Fragen, über die sich die jungen Revolutionäre im Stück streiten, nimmt Lösch zum Anlass, das Frontaltheater vor dem Vorhang zu unterbrechen, die fünf Schauspieler immer wieder aus dem Geschehen heraustreten zu lassen und das Publikum zur Meinungsäußerung zu animieren. Sie bedienen sich dabei Kommunikationsformen der Occupy-Bewegung. Daraus entsteht ein ungeheuer spannender und lebendiger Theaterabend - der freilich in seiner Mitte auseinanderzubrechen drohte.
Konsensfindung statt sonst üblicher Abstimmungsdemokratie ist bei Occupy-Versammlungen angesagt. Ergo zeigen die Schauspieler den Zuschauern erst einmal die klar definierten Handzeichen zur Veto-Abgabe. Und zur Meinungsäußerung bitte das „menschliche Mikrofon“ benutzen: Einer gibt sein Statement ab, seine Sitznachbarn wiederholen den Satz im Sprechchor. Das ist keine Lösch-Erfindung, sondern eine Idee der Occupy-Wall-Street-Versammlungen, um die Kommunikation in großen Gruppen zu ermöglichen, obwohl die Verwendung von Verstärkern und Megaphonen von der Stadt untersagt worden war.
Das Stuttgarter Premieren-Publikum macht zunächst engagiert mit: „Warum zählen Sie sich zu den 99 % der Menschen, die gegenüber dem einen Top-Prozent vom Großteil der Finanzmittel und damit vom politischen Einfluss ausgeschlossen sind?“ „Weil ich mir eine aufwendige Zahnbehandlung nicht leisten kann“; „weil ich auf die Altersarmut zusteuere“; „weil ich mich verweigert habe, meine Seele zu verkaufen“, skandieren die menschlichen Mikrofone.
Die Stimmung kippt
Auch bei der Forderung nach einem Stopp aller Rüstungsexporte aus Deutschland gelingt es den Schauspielern Lisa Bitter, Marco Albrecht, Jan Jaroszek, Matthias Kelle und Markus Lerch noch, einen gewissen Zuschauer-Konsens herzustellen. Die Aufforderung allerdings, mal darüber nachzudenken, wie man diese Forderung umsetzen könne, führt in kürzester Zeit zu tumultuösen Zuständen im Schauspielhaus. Eine Frau, sich dem Gebrauch des menschlichen Mikrofons jetzt verweigernd, schimpft: „Sie manipulieren uns. In dem Stück geht es schließlich um Mord. Wohin soll das hier führen?“ „Wir wollen Camus sehen“, brüllen nun einige Zuschauer, die der Diskussion überdrüssig geworden sind und ganz vergessen zu haben scheinen, dass Camus einst als Mitglied der Résistance aktiven Widerstand im besetzten Frankreich geleistet hat.
Ein Buh-Chor macht die Kommunikation zeitweise unmöglich. Einige Leute verlassen kopfschüttelnd den Saal. Eine Zuschauerin fordert verzweifelt, die Diskussion doch bitte ernstzunehmen. Ein offenbar durch die Tumulte verwirrter Herr fordert „Schauspieler raus!“, woraufhin einer der Akteure einwendet: „Wer soll dann aber Camus fertigspielen?“ Licht aus, Spot on. „Die Gerechten“ gehen weiter.
Die offene Form erlaubt das. Jetzt sind ohnehin die meisten Krakeler aus dem Saal. Das Publikum beruhigt sich. Die Revolutionäre streiten weiter. Ist Lösch an dieser Stelle gescheitert? Hat er konstruktive Vorschläge erwartet? Hat er mit solch aufbrausenden Emotionen gerechnet? Elektrisierender als dieser Abend und näher dran an aktuellen gesellschaftlichen Fragen kann Theater aber nicht sein.
Ziviler Ungehorsam
Es geht dann auch noch weiter: Mit Videoprojektionen wird an gelungene Protestaktionen und wirkungsvollen zivilen Ungehorsam erinnert: an die Aktivisten-Gruppe „The Yes-Man“ etwa, die in einer gefälschten „New York Times“ das Ende des Irakkriegs verkündete. Oder an die Schotter-Aktionen der Castor-Gegner, die Atommüll-Transporte aufhielten. Wieder Fragen: Wer hat Ideen für politische Aktionen, die unser Leben besser machen? Stift und Block liegen unter den Sesseln. Bier wird gereicht: Die besten Aktionsideen entstanden schließlich während des Genusses von Gerstensaft. Die Stimmung im Publikum lockert sich, zehn Minuten angeregtes Plaudern, worüber auch immer.
„Mehr Freizeit“ wird gefordert, „ein medienwirksamer Flashmob in Sachen kostenloser Kitas“. „Politiker sollen durch die Schauspieler ersetzt“ und „Arbeit nach sozialer Wertigkeit bezahlt werden“. Das Ergebnis ist mau, zu kurz die Zeit. Aber darum geht es gar nicht mehr. Es haben sich so viele Fragen im Kopf angesammelt, die man mit nach draußen, mit auf die Straße nehmen wird. Man kann aus Camus’ Stück nicht mehr herausholen.
Lösch und sein Team haben „Die Gerechten“ gekürzt und die Szenen umgestellt, so dass die Frage, ob das Attentat gelingt, bis zum Schluss offen bleibt. „Zerstören, darauf kommt es an!“, sagt einer der Revolutionäre. Ein letztes Mal wird das Publikum befragt: „Was halten Sie davon, dass die Bombe geworfen wird?“ Für die Findung eines Konsenses lässt man sich jetzt nicht mehr viel Zeit. Eine ungeheure Detonation erschüttert den Raum. Der Fürst ist tot.
Die nächsten Vorstellungen finden statt am 28. Mai sowie am 1., 2., 4., 19., 21., 23. und am 28. Juni im Schauspielhaus.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 21. Mai. Premiere war am 19. Mai.
eduarda - 22. Mai, 15:37
Die Sankt Petersburger Philharmoniker mit Julia Fischer in der Stuttgarter Liederhalle
Stuttgart - Sie brauchten nur wenige Takte, um deutlich zu machen, dass ein hervorragender Konzertabend folgen würde. Intensiv wirkte das dunkel vibrierende Streicher-Piano und dieser glasklare, dennoch verträumte Einsatz der Bläser, mit denen die Sankt Petersburger Philharmoniker in die sinfonische Dichtung „Kikimora“ von Anatoloij Ljadow einstiegen. Der Dvorák-Zeitgenosse vertonte darin das Volksmärchen über eine böse Hexe, die in die Häuser der Menschen eindringt, dort polternd Unheil stiftet, um die Einwohner in den Wahnsinn zu treiben. Im voll besetzten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle folgte man dem turbulenten, bedrohlichen Hexenspuk, dem wildromantische Naturschilderungen vorausgehen, gebannt, so präzise und transparent im Zusammenklang, so fein gezeichnet in den Details und mit so großem dramatischem Schwung artikulierten sich die Russen in der Leitung ihres Chefdirigenten Yuri Temirkanov.
Die deutsche Orchesteraufstellung, bei der im Gegensatz zur populäreren amerikanischen erste und zweite Violinen nicht nebeneinander, sondern sich gegenüber sitzen, kam auch Jean Sibelius’ Violinkonzert zugute. Erstklassig, über welche dynamische Differenzierungskunst die Sankt Petersburger verfügen, wie sie die Stimmungen blitzschnell verändern, wie sie von fragilen, leisen Strukturen zu vollem, warmem und farbigem Sound finden; und wie perfekt ausbalanciert die Streicher- und Bläsergruppen im Kollektiv wirken.
Hell, leicht, elegant
Julia Fischers Solovioline wurde von diesem Orchesterklang sicher getragen. Die 28-Jährige stellte sich dem virtuosen Schmachtfetzen allerdings eher kühl und bodenständig. Melancholie und Herzschmerz liegen ihr eher fern. Ihren rasend schnellen Doppelgriff-Ketten und durch die Oktaven eilenden Läufen merkt man zuweilen die Arbeit an. Insgesamt hell, leicht, elegant, freilich auch etwas farbarm ist ihr Ton, manchmal zu sehr unter Hochdruck, was auf Kosten der Intensität geht. Der glühende Kern fehlt, den man in diesem Werk erwartet. Fischer arbeitet weniger seinen emotionalen als vielmehr artifiziellen Aspekt heraus. Das bringt Sibelius unserer eigenen musikalischen Zeit aber durchaus näher.
In Antonín Dvoráks neunter Sinfonie „Aus der neuen Welt“, in der die Hörner nicht vom tiefdunklen europäischen Wald sprechen, sondern von den Weiten der Prärie, setzten die Sankt Petersburger Philharmoniker ihrer phänomenalen Beherrschung des romantischen Orchesterklangs das i-Tüpfelchen auf. Yuri Temirkanov sorgte hier mit zügigen Tempi und vorausschauend gestalteten Übergängen für die sinfonische innere Logik, die so manch anderer Interpretation schnell abhanden kommt - baute der geniale Melodienerfinder Dvorák doch weniger auf eine motiv-thematisch arbeitende als vielmehr auf eine rhapsodisch reihende Form.
Poetisch inspiriert
Temirkanow und das Orchester aber ließen sich nicht vom melodisch verliebten Augenblick zum Verweilen und damit zur Stagnation verführen, sondern setzten auf immer wieder vorantreibende Dramatik, farbintensive Hell-Dunkel-Kontraste und poetisch inspirierte, in den großen Fluss integrierte, wunderschön gespielte Instrumentengesänge.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 18. Mai. Das Konzert fand statt am 15. Mai.
eduarda - 19. Mai, 13:04
Die Stuttgarter Philharmoniker mit Fritz Langs Stummfilm „Kriemhilds Rache“ in der Stuttgarter Liederhalle
Stuttgart - Kriemhilds Rachsucht ist bitter und quälend. Das wird im zweiten Teil von Fritz Langs monumentaler Nibelungen-Verfilmung von 1924 geradezu körperlich spürbar. Zweieinviertel Stunden lang blicken einem immer wieder die starren, riesigen, unbarmherzigen Augen von Margarete Schön, der Kriemhild-Darstellerin in diesem Stummfilm, von der Leinwand entgegen. Ihr Antlitz verändert sich nur, wenn sie die Augenlider hasserfüllt und zitternd verengt. Selbst im finalen Gemetzel zwischen Hunnen und Nibelungen steht sie da wie ein Turm - vollkommen unbeweglich. Unversöhnlich fordert sie immer wieder den Tod Hagens, des intriganten Mörders ihres geliebten Siegfrieds. Und am Ende sind sie alle tot: der Burgunder-König Gunther und seine Brüder Gernot und Giselher, der Mörder Hagen und all die anderen Nibelungen - Opfer von Kriemhilds Rache und der eigenen starren Verhaltensregeln, die den Germanen zu Gefolgschaftstreue und Blutvergießen zwingen.
Die Stuttgarter Philharmoniker - mittlerweile Spezialisten in der Begleitung von bedeutenden Stummfilmen - haben „Kriemhilds Rache“ in der aufwendig restaurierten Fassung von 2010 jetzt im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle mit der Originalfilmmusik zur Aufführung gebracht.
Stummfilme brauchen die musikalische Untermalung, denn geräuschlos geht es nirgendwo zu auf der Welt. Und je besser die Filmmusik, desto suggestiver ihre Kraft: so wie Gottfried Huppertz’ Musik zu Langs zweiteiliger, insgesamt fünfstündiger Verfilmung des mittelalterlichen Heldenepos. Huppertz hat in den "Nibelungen" trotz ausgeprägter Leitthemenverwendung zum Zwecke der Psychologisierung jegliche Wagner-Anklänge vermieden. Er hat etwas ganz Eigenständiges geschaffen und damit seinerzeit neue Maßstäbe gesetzt: Ein kongeniale zweite Spur zur Bilderflut auf der Leinwand. Ob streng strukturierte, starre Bilder, ob spektakuläre Panoramen oder Gewusel auf dem Schlachtfeld - die Musik ist stets eins mit dem Lauf der Bilder.
Und finster ist sie, rabenschwarz. Nibelungentreue bedeutet schließlich Streben nach Selbstvernichtung. Da gibt es nichts zu beschönigen. Lediglich in Spottgesängen oder dem orgiastischen Sonnwendfest-Gelage der barbarischen Hunnen wird die Musik mal beschwingter und heiterer. Ansonsten aber dominieren dunkle Farben. Düsteres Streichertremolo, stets melancholische Streicherkantilene, dunkle unheilverkündende Blechbläsersätze, schicksalsträge Hymnen, Paukendonner- und grummeln, elegische Holzbläsersoli: All das legt die wahren Absichten der Protagonisten frei, die in einem Netz aus Betrug und Verrat gefangen sind. Rasende Galoppaden untermalen das blutige Gemetzel, und dem finalen Brand der Hunnenburg ist eine hitzige Sturmmusik unterlegt.
Die Philharmoniker in der Leitung ihres Chefs Gabriel Feltz brachten all das mitreißend zur Geltung - mit dem nötigen Streicherschmelz, mit glasklaren Blechbläserchören, mit wunderschönen Holzbläsersoli. So verschmolzen Bild und Ton zu einem Sog, dem sich wohl niemand im Beethovensaal entziehen konnte.
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 12. Mai. Das Konzert fand statt am 10. Mai.
eduarda - 13. Mai, 12:53