Samstag, 22. September 2012

Was Mahlers Welt im Innersten zusammenhält

Stéphane Denève und das Radio-Sinfonieorchester begeistern mit der Transzendenz und Drastik der „Auferstehungssinfonie“

Stuttgart - Man kann sich den Themen Lebenssinn und Tod und den etwaigen Dingen danach sicherlich mit weniger Aufwand nähern, als es Gustav Mahler in seiner Zweiten Sinfonie, der so genannten Auferstehungssinfonie, tat: Zahlreiche Aushilfsmusiker waren dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart (RSO) bei seinem Saison-Eröffnungskonzert im Beethovensaal der Liederhalle zur Seite gesprungen. Zwecks Unterstützung des SWR-Vokalensembles war der NDR-Chor aus Hamburg angereist, und als Gesangssolistinnen hatte man Lioba Braun und Juliane Banse eingeladen.

Aber dank Mahlers drastisch und plastisch formulierender Musiksprache gibt es wohl kaum ein anderes sinfonisches Werk, das zu jenen Themen derart viel zu sagen in der Lage ist. Dabei zwingt die suggestive Kraft seines musikalischen Ausdrucksvermögens die Zuhörer geradezu, die Perspektive des Komponisten, dem in diesem Werk gerne „Gottessuche“ unterstellt wird, einzunehmen. Mahler reißt die Blicke in die Abgründe und in die Höhen, setzt das Publikum quasi-religiösen Erfahrungen aus, noch lange bevor sich der konkrete sinfonische Inhalt - die Überwindung des Todes - erschlossen hat.

Voraussetzung für solcherlei Ästhetik der Überwältigung und Erschütterung ist freilich, dass es gelingt, die Welt, die Mahler in diesem Klangmonument mit allen erdenklichen musikalischen Mitteln über 90 Minuten aufbaut, wirklich zusammenzuhalten. Dem RSO-Chefdirigenten Stéphane Denève und allen beteiligten Musikern und Musikerinnen ist dieses Kunststück auf beeindruckende Weise gelungen. Längen wurden an keiner Stelle spürbar. Der Spannungsbogen blieb straff - dank Denèves exzellenter Zeit- und Tempo-Dramaturgie. Keine Selbstverständlichkeit in einem Werk, das des Öfteren beinahe zum Erlöschen kommt, in schwebende Zustände gleitet, dann wieder auffährt, ins Stocken gerät, transzendent verglimmend in verträumten Idyllen verharrt, in die dann durch Märsche in Gang gebrachte Katastrophen einbrechen, um sich am Ende ins orgelverstärkte Apotheose-Getöse zu stürzen.

Das RSO verlieh Mahlers vielschichtiger Klangwelt in ihrer ständigen Bedrohung und Ambivalenz Gestalt durch rhythmische Präzision, dynamische Feinstarbeit, äußerste Transparenz, melodische Verve. Denève setzte strukturell auf Klangfarbenkontraste und -schattierungen, auf unterschiedliche Wärme- und Kältegrade, die auch in den zeitgedehnten Phasen den Stillstand verhinderten. Selbst der erste Einsatz des gut disponierten Chores wirkte weniger als Klang denn als neue Farbe, und die irreale Ländler-Seligkeit des Tanzsatzes erhielt auf diese Weise ihr jenseitiges Gewand. Und nicht nur der „Urlicht“-Einsatz der stimmfarblich sich perfekt einfügenden Mezzosopranistin Lioba Braun, nicht nur Juliane Banses über den Chorstimmen schwebendes Sopransolo oder das den Klangraum erweiternde Fernorchester aus Blechbläsern und Schlagwerk sorgte an diesem Abend für Momente, in denen etwas mitschwang, was man nicht wirklich benennen kann.

Nur ein kleiner Wermutstropfen sei erwähnt: Die Fünf-Minuten-Pause, die Mahler in der Partitur nach dem ersten Satz einfordert, nutzte Denève zur Entspannung, stieg vom Podest herunter und wechselte mit dem ersten Geigenpult ein paar Worte - wodurch sich das Publikum zu ähnlichem animiert fühlte. Doch das hat Mahler sicher nicht gemeint. Nach der „Totenfeier“, die der Kopfsatz darstellt, muss die Totenstille, das Gedenken, folgen. Oder man verzichtet besser auf die Unterbrechung.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 22. September. Das Konzert fand statt am 20. September.

Dienstag, 18. September 2012

Verweile doch, du bist so schön

Musikfest Stuttgart: Abschlusskonzert mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart und Sinfonien von Schubert und Mahler

Dirigent Michael Sanderling und Sopranistin Hanna Elisabeth Müller beim Schlussapplaus.(Foto: Bachakademie/Holger Schneider)

Stuttgart - Auf der Bühne des Beethovensaals stand ein gut gelaunter Intendant der Bachakademie: Vor Beginn des Musikfest-Abschlusskonzerts zog Christian Lorenz eine erste Bilanz und freute sich über die rund 25 000 Besucher, die sich für das Thema „Glaube“ begeistern konnten (siehe Meldung rechts). Offenbar haben der dramaturgische Einfallsreichtum und die Erkundung vielfältiger, über ganz Stuttgart und darüber hinaus verteilter Veranstaltungsorte beim Publikum gezündet.

Auch der Beethovensaal war an diesem Abend sehr gut gefüllt. Gustav Mahlers vierte Sinfonie durfte den Schlusspunkt setzen hinter das Motto „Glaube“, weil sie in ihrem Finale einen - allerdings ironischen - religiösen Text aus „Des Knaben Wunderhorn“ vertont: „Das himmlische Leben“. Dazu gesellte sich Franz Schuberts h-Moll-Sinfonie, die „Unvollendete“, mit der das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart (RSO) in der Leitung Michael Sanderlings den Abend begann.

Freundlich trällernd


Schon in den ersten Takten schien es aber, als habe sich der Dirigent von der guten Laune des Intendanten anstecken lassen. Weich und verträumt summten die tiefen Streicher, statt sich düster und grimmig dahinzuschleppen. Freundlich vor sich hin trällernd setzten die Violinen ein, statt fiebrig und geisterhaft zu flirren. Die sonst irritierenden Tutti-Schläge kamen viel zu flaumig und federnd. Und die Generalpause stand nicht für ein jähes Verstummen und Erstarren, sondern für tiefes Durchatmen. Weswegen der folgende, eigentlich hart und krass einbrechende Moll-Akkord lediglich wie eine neue Klangfarbe wirkte. Solcherlei Weichzeichnung prägte dann den ganzen Satz. Entweder hatte der Dirigent da etwas falsch verstanden, oder er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Schönheit auch dort zu suchen, wo sie nicht ist. Und das RSO spielte schön, wunderschön. „Verweile doch, du bist so schön“ schien, frei nach Goethe, das Motto der musikalisch gereihten Augenblicke. Weswegen der zweite Satz dann auch unmittelbar berührte, denn hier hatte die minuziöse Klang- und Farbensuche Sanderlings durchaus ihren Sinn, stellt er doch dem ersten Satz eine entrückte, sich nur gelegentlich verdunkelnde Traumwelt gegenüber. Aber wird die düstere Dramatik des Kopfsatzes entschärft, ist die bipolare Anlage dieses sinfonischen Torsos, dem Scherzo und Finale fehlen, zerstört und damit auch die rätselhafte Wirkung eines vollendeten Fra gments, die Schuberts „Unvollendete“ immer wieder hinterlässt.

Weichzeichnung der Strukturen


Dass Michael Sanderling diesen Interpretationsstil offenbar auch in anderen Fällen pflegt, zeigte dann die vierte Sinfonie Mahlers. In den beiden ersten Sätzen bot sich das gleiche Bild: auch hier Weichzeichnung der Strukturen und Akzentuierungen, eine nicht immer stringente Tempogestaltung, die Vernachlässigung der inneren Spannung, was vor allem dem Scherzo alles Gespenstische, Spukhafte und Groteske nahm. Und weil Kopfsatz und Scherzo so freundliche Gesichter machten, konnte der sehr innig und berührend gespielte langsame Satz auch keinen wirklichen Kontrast setzen.

Auch das Finale endete liebenswürdig lächelnd und nicht myste­riös, wie es sein sollte. Das lag nicht nur an der durchweg schmunzelnden Sopranistin Hanna Elisabeth Müller, die sich in der Kürze ihres Auftritts nicht wirklich freisingen konnte, sondern an der Zahnlosigkeit der Gesamtinterpretation.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 18. September. Das Konzert fand statt am 16. September.

Freitag, 14. September 2012

Wir sind alle ein bisschen Asterix

Große Landesausstellung in Stuttgart gibt ab morgen Einblicke in „Die Welt der Kelten“

Mediterrane Kultur-Einflüsse zeigen die Stierköpfe des sogenannten Rings von Trichtingen aus dem ersten Jahrhundert vor Christus. (Foto: H. Zwietasch/Landesmuseum Württemberg)

Stuttgart - Die Kelten tranken griechischen Wein. Beweis, dass sie enge Kontakte mit dem Mittelmeerraum pflegten. Sie importierten den Wein in Amphoren, mischten ihn in bauchigen Bronze-Gefäßen mit Wasser, Kräutern und Gewürzen, füllten ihn in Kannen, um ihn dann gefiltert in flachen Keramikgefäßen zu genießen. Die Kelten feierten gerne, und ihr Durst war verantwortlich für so manches Kunstwerk: etwa Schnabelkannen, die aufwendig mit mediterranen Mustern oder mit grotesken Tierfiguren verziert waren.

Solcherlei Verbindungen herzustellen, vom einzelnen Exponat auf große Zusammenhänge zu schließen, die das alltägliche Leben und die Geisteswelt des sagenumwobenen Volkes plastisch vorstellbar machen, ist die besondere Qualität der Großen Landesausstellung „Die Welt der Kelten. Zentren der Macht - Kostbarkeiten der Kunst“, die ab morgen im Stuttgarter Alten Schloss und im Kunstgebäude den Besuchern offensteht.

Bedeutende jüngere Ausgrabungen

Anlass der Ausstellung sind die bedeutenden Ausgrabungen der vergangenen zehn Jahre und die sensationellen Funde, wie etwa das 2010 entdeckte „Fürstinnengrab“ aus dem Umfeld der Heuneburg, die Glasschale von Ihringen oder das Trinkhorn aus dem Prunkgrab von Kappel. Ziel ist es, dem breiten Publikum den aktuellen Forschungsstand in Sachen Kelten allgemein verständlich darzubieten. Zu sehen sind auf 2500 Quadratmetern Fläche 1300 Objekte, darunter in Deutschland noch nie gezeigte Einzelstücke. Die Exponate - 99 Prozent davon Originale - stammen von 136 Leihgebern aus 14 Ländern, was auch die enorme Ausbreitung der Kelten in Europa dokumentiert. Es sei „die wohl größte Keltenausstellung seit 30 Jahren“, sagen die Ausstellungsmacher. Dass sie in Stuttgart stattfindet, ist freilich kein Zufall. Denn dass sich Archäologen trotz der wenigen schriftlichen Quellen heute ein Bild von den Kelten machen können, verdanken sie vor allem Funden aus dem heutigen Baden-Württemberg. Südwestdeutschland gilt zusammen mit der Schweiz und Ostfrankreich als Wiege der Kelten, die sich dann ab 400 vor Christus in ganz Europa ausbreiteten.

Diese kostbare keltische Goldschale, entstanden gegen Ende des sechsten Jahrhunderts vor Christus, wurde in Bad Cannstatt gefunden. (Foto: H. Zwietasch/Landesmuseum Württemberg)

Zweiteiliges Konzept

Die Ausstellungsmacher - das Archäologische Landesmuseum Baden-Württemberg und das Landesmu­seum Württemberg in Zusammenarbeit mit dem Landesamt für Denkmalpflege und dem Historischen Museum Bern - bauen auf ein zweiteiliges Konzept, um dem Besucher die Lebenswelt dieses zeitweise bedeutendsten Volks Europas, das zwischen dem achten und dem ersten Jahrhundert vor Christus - also vom Beginn der Eisenzeit bis zur Ankunft der Römer - weite Teile Mittel- und Westeuropas bewohnte, näherzubringen.

Im Stuttgarter Kunstgebäude ist der Themenblock „Zentren der Macht“ zu sehen, der ausführlich die Entwicklung der keltischen Zivilisation beleuchtet: das tägliche Leben, Wirtschaft, Handel und Gesellschaft sowie technologische Innovationen. Besondere Beachtung findet dabei die Entstehung der spätkeltischen Stadtanlagen, der sogenannten Oppida, im zweiten und ersten Jahrhundert vor Christus. Im Fokus der Ausstellung stehen aber die frühkeltischen „Fürstensitze“ des sechsten und fünften vorchristlichen Jahrhunderts: Machtzentren wie der Hohenasperg und die Heuneburg bei Sigmaringen. In letzterer sollen zeitweise tausende Menschen gelebt haben, sie gilt deshalb als älteste Stadt nördlich der Alpen. Besonderes Highlight dieses Ausstellungsraums: 3D-Animationsfilme erkunden im virtuellen Flug die rekonstruierten Fürstensitze und bieten einen spannenden realistischen Einblick in Struktur, Aufbau und Umgebung dieser Festungssiedlungen - bis hin zu den Gräbern der Fürsten, die außerhalb der Burgen in großen Hügeln beigesetzt wurden und von Archäologen in unversehrtem Zustand entdeckt werden konnten.

Im gegenüberliegenden Alten Schloss kann man dann den zweiten Teil der Ausstellung, die „Kostbarkeiten der Kunst“, bewundern: keltische Kunst vom siebten Jahrhundert vor Christus bis zu deren Nachblüte in der irischen Buchmalerei im siebten Jahrhundert nach Christus; prächtigen Schmuck, reich verzierte Gebrauchsgegenstände, Grabbeigaben und Kultobjekte. Das schönste Exponat dokumentiert hier, dass die Kelten bereits das Sofa kannten: die „Kline“ von Hochdorf, ein Bronzesofa als Beigabe ins fürstliche Prunkgrab, das dem Bestatteten als Totenliege diente.

Sie wird von kunstvoll angefertigten Frauenfiguren getragen, die Rückenlehne ist mit tanzenden Kämpfern verziert, Stoffreste lassen die bequeme Polsterauflage erahnen. Das schöne antike Möbelstück ist auch ein gutes Beispiel für die liebevolle und didaktisch wertvolle Präsentation der Ausstellungsobjekte. Auf einem Bildschirm kann man einen Kunsthandwerker dabei beobachten, wie er das Sofa mit antiken Methoden nachbaut. Er hat ein Vierteljahr dafür gebraucht. Ein Stofffragment ist in einem Extra-Kasten zu sehen. Den digitalen Doppelgänger kann man per Touchscreen drehen, bewegen, vergrößern.

Liebe zu bunten Farben

Die Kelten liebten Farben, wie man an den kunterbunten Glasarmreifen sehen kann. Sie waren innovativ, kreativ und selbstbewusst. Inspira­tionen aus anderen Kulturen griffen sie auf und machten eigenes daraus: Das fratzenhafte Henkeltier etwa am Rand einer Kanne greift Elemente mediterraner Satyr-Darstellungen auf und macht aus dem grimmigen bärtigen Dämon ein pausbackiges, glupschäugiges Spitzohr.

Dies sind nur einige Beispiele aus diesem wunderbaren Ausstellungsteil, der sich zum Ziel gesetzt hat, die besonderen ästhetischen Reize der keltischen Kunst hervorzuheben. Das gelingt ebenso wie der Versuch, durch Analysen und Vergleiche etwas von der sonst schwer zu fassenden Geisteswelt ihrer Schöpfer zu vermitteln.

Vermischung mit anderen Völkern


Das Ende der Kelten ist schnell erzählt. Um das Jahr null gerieten ihre Gebiete bis auf Irland in römische und germanische Hand. Die Ausstellung dokumentiert das Ende der keltischen Unabhängigkeit anhand von Ausrüstungsgegenständen römischer Soldaten - Graubündener Fundstücke der vergangenen Jahre. Die Kelten vermischten sich mit den anderen europäischen Völkern. Spuren ihrer Kultur und ihrer Bräuche findet man heute vor allem in Irland und der Bretagne. Richtig populär wurden die „Tapferen“ - so die Bedeutung des Wortes Kelten - vor allem als Gallier, wie sie von den Römern genannt und von modernen Comic-Künstlern auf den Schild gehoben wurden: als Asterix und Obelix. Ihre Gene dürften in vielen von uns weiterleben.

INFOS

* Die Ausstellung im Landesmuseum Württemberg (Altes Schloss) und im Kunstgebäude Stuttgart beginnt morgen und dauert bis 17. Februar 2013.

* Öffnungszeiten: dienstags, mittwochs und freitags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags von 10 bis 21 Uhr.

* Führungen durch beide Ausstellungsteile beginnen samstags, sonntags und feiertags um 10.30 Uhr und um 14.30 Uhr. Weitere Führungstermine sowie Informationen zum umfangreichen Begleitprogramm finden sich im Internet (siehe unten).

* Der im Jan Thorbecke Verlag erschienene Katalog (450 Seiten, 600 meist farbige Abbildungen) kostet in der Ausstellung 24,90 Euro, im Buchhandel 34 Euro.

* www.kelten-stuttgart.de

Vorbericht für die Eßlinger Zeitung vom 14. September.

Mittwoch, 12. September 2012

Der Tod dankt ab

Musikfest Stuttgart: Konzertante Aufführung von Viktor Ullmanns im KZ Theresienstadt komponierter Kammeroper „Der Kaiser von Atlantis“

Stuttgart - Sigmund Freud schrieb über den Humor, er habe etwas „Großartiges“, das in der siegreich behaupteten Unverletzlichkeit des Ichs liege: „Das Ich verweigert es, sich durch die Veranlassungen aus der Realität kränken, zum Leiden nötigen zu lassen, es beharrt dabei, daß ihm die Traumen der Außenwelt nicht nahegehen können, ja es zeigt, daß sie ihm nur Anlässe zu Lustgewinn sind.“ Freud nennt als Beispiel den sprichwörtlichen Galgenhumor des Delinquenten, der, als er am Montag zur Hinrichtung geführt wird, sagt: „Na, die Woche fängt ja gut an“.

Freuds Gedanken kommen einem in den Sinn, wenn man Viktor Ullmanns einstündige Kammeroper „Der Kaiser von Atlantis oder Die Tod-Verweigerung“ hört, die im Theaterhaus eine konzertante Aufführung durch das Dresdner Ensemble Courage in der Leitung Titus Engels erlebte. Zunächst schockiert einen der ungeheure Humor, der einem aus dem Libretto von Peter Kien entgegenschlägt. Wenn der Tod etwa fragt „Was haben wir heut für einen Tag?“ und Harlekin antwortet „Ich wechsle die Tage nicht mehr täglich, seit ichs mit dem Hemd nicht tun kann und nehme nur einen neuen, wenn ich frische Wäsche anziehe.“ „Dann musst du ja tief im vorigen Jahr stecken“, sagt der Tod, und das Publikum lacht. Der Humor erschüttert, weil das Werk 1943/44 im KZ Theresienstadt entstand. Die Proben hatten bereits begonnen, aber die Uraufführung kam nicht mehr zustande. Komponist, Librettist und Musiker wurden nach Auschwitz deportiert und dort Ende 1944 ermordet. Erstmals aufgeführt wurde „Der Kaiser von Atlantis“ erst 1975 in Amsterdam, nach mühevoller Rekonstruktion der Partitur. Ullmann hatte sie auf die Rückseiten von Deportationslisten notiert.

Es bestürzt aber auch, dass unter derart grauenvollen Umständen ein solch großartiges Werk entstehen konnte. Es dürfte sich unter modernen Oper kaum ein anderes Beispiel finden, das existenzielle Fragen der Gegenwart so unmittelbar verarbeitet, ohne an künstlerischem Rang einzubüßen, dabei in der Verschleie­rung durch die Allegorie doch so deutlich bleibt - auch durch Verwendung von Zitaten wie der deutschen Nationalhymne und Luthers Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“. Natürlich ist mit dem „Kaiser von Atlantis“, der Krieg zwecks Bereicherung und Machtgewinn führt, Hitler gemeint. Und ganz offen wird hier der Wunsch formuliert, den Tyrannen über den Jordan zu schicken: Der Tod weigert sich, weiter Soldaten niederzustrecken. Niemand stirbt mehr, und die Macht des Diktators schmilzt dahin. Chaos macht sich breit. Verzweifelt fleht der Herrscher den Tod an, wieder aktiv zu werden. Doch der willigt erst ein, als seine Bedingung erfüllt wird: Der Kaiser selbst soll sein erstes Opfer sein.

Das exzellente 13-köpfige Instrumentalensemble brachte die ungeheuer vitale Musik Ullmanns präzise, mit Spiellust und differenzierten Farben zum Klingen. Musik im Stil des Neoklassizismus, die den rhythmischen, oft auch swingenden Drive eines Kurt Weill genauso umfasst wie die lyrische Kantabilität Alban Bergs oder die direkte, klare Sprache Strawinskys oder Hindemiths. Auch die sechs Gesangssolisten - ob als Conférencier, Bänkel- oder Ariensänger - überzeugten, allen voran der durchschlagskräftige Tenor Michael Laurenz als Harlekin und Soldat sowie die differenziert gestaltende Mezzosopranistin Daniela Sindram.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 12. September. Die Aufführung fand statt am 10. September.

Dienstag, 11. September 2012

Vier Fäuste und kein Hallelujah

Pierre Charial und Joris Verdin mit Drehorgel und Harmonium in den Wagenhallen - Weltklasse-Klarinettist Michael Riessler steuert Avantgarde-Jazz bei

 
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Virtuos gekurbelt: Pierre Charial an der Drehorgel mit dem Jazz-Klarinettisten ­Michael Riessler. (Foto: Bachakademie/Holger Schneider)

Stuttgart - Man hört sie gelegentlich noch auf dem Jahrmarkt oder in Einkaufspassagen. Dann tritt sie meistens als etwas dudelige Schlagersängerin oder mit blechernem Tschingderassabum in Erscheinung: die Drehorgel. Aber als präzise Interpretin von Strawinskys „Le sacre du printemps“? Wenn der Franzose ­Pierre Charial die Bühne betritt wie jetzt in den Stuttgarter Wagenhallen wird das möglich. Man traut bald seinen Augen und Ohren nicht mehr. Was da aus seinem Instrument tönt, das trotz seiner 156 Holzpfeifen auf einen kleinen Handwagen passt, ist satztechnisch komplexeste, rhythmisch komplizierteste Musik. Er spielt darauf Werke aller Genres, ob Avantgarde, Jazz oder Filmmusik.

An diesem spektakulären Abend trat er im Duo mit dem Weltklasse-Jazz-Klarinettisten Michael Riessler auf. Ein spannendes Konzert, in dem ­Pierre Charial seine Klangmaschine solo, aber genauso oft auch als Begleitinstrument zu Riesslers quirligen, feingliedrigen Avantgarde-Jazz-Stücken kurbelte, als wäre die Drehorgel - in diesem Fall eine Sonderanfertigung von André Odin - speziell dafür gemacht.

Wenn Charial die Kurbel in Gang setzt, ist ein großer Teil seiner Interpretation zwar schon getan: die Herstellung der faltbaren Lochpappen, die nun nacheinander als lange Schlangen durch die Maschine krochen - um dort dafür zu sorgen, dass der Druckluftapparat seinen Atem in die richtigen Orgelpfeifen pustet, um am Ende auf der anderen Seite wieder sauber gestapelt ausgespuckt zu werden.

Dennoch ist die Art und Weise, wie Charial die Handkurbel dreht, offenbar entscheidend für die Klangwirkung. Er dreht sie sorgfältig, reagiert genau und konzentriert auf die rhythmisch fein differenzierenden Soli Riesslers. Das Kurbeln als poetische, expressive Geste, die für Tempo, Phrasierung, Sinnstiftung und Spannung zuständig ist. Charial, zunächst Fagottist und Pianist, hat das Instrument 1974 für sich entdeckt. Seither bearbeitet er Papierrollen, stanzt eigene Werke oder die anderer hinein. Viele Komponisten sind so fasziniert von seiner Kunst, dass sie ihm Solowerke geschrieben haben: etwa György Ligeti, mit dessen „Musica ricercata“ Charial an diesem Abend die feinen und filigranen Klangmöglichkeiten seines gelegentlich auch zur Höllenmaschine mutierenden Leierkastens demonstriert.

Melodien auf der „Methodistenquetsche“

Bevor Charial und Riessler die Bühne betraten, hatte schon ein anderer Exot für Aufsehen gesorgt: das Harmonium, eine Orgelerfindung des 19. Jahrhunderts, die ohne Pfeifen auskommt. Wie beim Akkordeon werden durch Blasebalgbeatmung Metallzungen in Schwingung gebracht. Joris Verdin, belgischer Organist und Musikwissenschaftler, war der Virtuose an diesem fast vergessenen Tasteninstrument, das in alten Westernfilmen als Wahrzeichen frommer Pioniere zum Einsatz kam. „Methodistenquetsche“ wurde das Harmonium oft genannt, weil es armen Kirchen und reisenden Missionaren als Orgelersatz diente. Dabei begeisterten sich einst auch die Pariser Bürger in ihren Salons für das damals brandneue Instrument.

Deshalb spielte Verdin auch fast ausschließlich Werke französischer Komponisten, die für das Harmo­nium eine Menge Originalkompositionen beigesteuert haben. Die Klangfarbenvielfalt, die Verdin auf seinem Instrument zu entfalten weiß, war dabei beeindruckend. Ob in Georges Bizets Caprice, Camille Saint-Saëns‘ Barcarolle, Alexandre Guilmants Mazurka de Salon oder Sigfrid Karg-Elerts Ciaconna con variazioni: Weiche Melodik, zart tröpfelnde Läufe und kräftige Polyphonie kann Verdin dem Harmonium ebenso entlocken wie das wütend grollende Donnerwetter, das in Théodore Dubois‘ Pastorale eine Hirtenidylle unterbricht. Verdin, Gegenteil eines exaltierten Tastenlöwen, spielte in sich versunken, konzentrierte sich darauf, Tastenspiel und Blasebalgpedale in Einklang zu bringen: das riesige Atembedürfnis des Instruments gleichmäßig zu stillen, um dadurch Legato-Spiel und dynamische Gestaltung zu ihrem Recht kommen zu lassen - wie aus der Zeit gefallen, verträumt und etwas melancholisch.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 11. September. Die Konzerte fanden statt am 7. September.

Samstag, 8. September 2012

Die Todsünde der Übertreibung

Musikfest Stuttgart: Ute Lemper singt im Theaterhaus Musik von Kurt Weill, Tangos und französische Chansons

Forcierend: Ute Lemper (mit Dirigent Markus Huber). (Foto: Bachakademie/Holger Schneider)

Stuttgart - Es gibt ein schönes Fremdwort für jene Übertreibung, die manche Bühnenkünstler ihren Rollen gelegentlich angedeihen lassen: outrieren. Das bedeutet: dick auftragen. Die Musicaldarstellerin und Chansonsängerin Ute Lemper outriert am laufenden Band. Zumindest tat sie das bei ihrem Auftritt beim Musikfest im ausverkauften großen Saal des Stuttgarter Theaterhauses, wo sie in Begleitung der fröhlich aufspielenden Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz in der Leitung Markus Hubers ein Programm mit Werken von Kurt Weill und Bertolt Brecht sowie mit Tangos von Astor Piazzolla und französischen Chansons zum Besten gab.

Verzerrte Rollenauslegung

Lemper übertrieb, was die Mimik angeht, und sie übertrieb, was die musikalische Artikulation betrifft. Das verzerrte ihre Rollenauslegung der doppelten Anna in Kurt Weills und Bertolt Brechts „Die sieben Todsünden der Kleinbürger“ derart, dass es nicht einmal andeutungsweise klar wurde, wen oder was sie dort eigentlich auf der Bühne darstellen will. Einen betrunkenen Clown? Eine Verrückte? Eine Sängerin, die gerade erfolglos versucht, die Femme fatale zu spielen? Sie übersang auch die Zweigeteiltheit der Anna, die in diesem Stück von ihrer doppelmoralischen Kleinbürgerfamilie in die Welt geschickt wird, um - sich selbst verratend und letztlich prostituierend, sich in Ware und Verkäuferin spaltend - das Geld für ein Eigenheim am Mississippi zu verdienen. Ohnehin sollte in diesem „Ballett mit Gesang“ die zweite, die nur wenige Worte sprechende Anna (im Original eine Tanzrolle) eigentlich von einer anderen Person übernommen werden. Aber warum setzte Ute Lemper in dieser konzertanten Aufführung ihre Übertreibungskunst gerade dort, wo sie sinnvoll gewesen wäre, nämlich zur Differenzierung der beiden gegensätzlichen Anna-Ichs, gar nicht ein?

Lemper sang die von Wilhelm Brückner-Rüggeberg um eine Quarte tiefer transponierte Fassung der „Sieben Todsünden“. Aber im oberen Register blieb ihre hochgepresste Bruststimme in der Intonation vage und wurde durchs Mikrofon noch zusätzlich eingeschrillt, die Registerwechsel gelangen nur unsauber. Immer wieder driftete Lemper in einen fragwürdigen Sprechgesang ab, und das extreme Grimassieren wirkte mehr unfreiwillig denn gewollt komisch.

Sehr klangschön und doch mit der nötigen ironischen Brechung gestaltete das Herrenquartett mit den Tenören Jean-Pierre Ouellet und Wolfgang Frisch sowie den Bässen Philipp J. Kaven und Stefan Müller-Ruppert die habgierige, verlogene Familie Annas. Und das Orchester lieferte spielfreudig den sinfonischen Begleit-Sound zum Stück.

In den Kostproben, die Lemper dann aus ihrem Tango-Programm gab, forcierte sie die Überspanntheit ihrer Darbietung sogar noch und brachte dadurch Astor Piazzollas „Yo soy Maria“ und „La última grela“ an den Rand der ungewollten Parodie. Es wirkte weder authentisch noch überzeugend gesungen, was da in die Ohren drang. Gerade die große Emotionalität dieser Musik verlangt zurückhaltende Gestik und Mimik und feine Ausdrucknuancen, um glaubwürdig zu sein.

In der Ruhe liegt die Ausdruckskraft


Letzteres gelang Ute Lemper erst ganz am Ende ihrer Show, nämlich in Chansons von Jaques Brel und besonders in Norbert Glanzbergs „Padam Padam“, das an diesem Abend in einem sehr reizvollen, tonmalerischen Orchester-Arrangement aufgeführt wurde. Jetzt schien Lemper endlich jene innere Ruhe gefunden zu haben, in der die Ausdruckskraft liegt. Großen Teilen des Publikums schien allerdings der gesamte Abend gut gefallen zu haben: Es bedankte sich mit Bravo-Rufen und Standing Ovations.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 8. September. Das Konzert war am 6. September.

Mittwoch, 5. September 2012

Herzlichen Glückwunsch, John Cage!

Heute vor 100 Jahren wurde der amerikanische Komponist und Musik-Revolutionär John Cage geboren. Hier mein ausführliches Geburtstagsessay: Freude-und-Umsturz (pdf, 445 KB)

Ein Fund bei YouTube: Im Januar 1960 trat John Cage in der populären US-amerikanischen TV-Show "I've got a Secret" auf und performte dort seinen "Water Walk".

Dienstag, 4. September 2012

Grenzüberschreitungen mit der blauen Geige

Musikfest Stuttgart: Pavel Šporcl‘s Gipsy Band in der Stuttgarter Leonhardskirche

 
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Temporeich zwischen unterschiedlichen Kulturen unterwegs: Geiger Pavel Šporcl und Band. (Foto: Bachakademie/Schneider)

Stuttgart - „Speed“ sei das Zauberwort, wenn es darum ginge, Musik der Roma zu spielen. Damit meinte der Geiger Pavel Šporcl natürlich nicht die Droge, sondern die hohe Geschwindigkeit, mit der die Musiker zur Sache zu gehen pflegen. Dem 39-jährigen Tschechen, der normalerweise mit den gängigen Violinkonzerten in den Konzerthallen dieser Welt unterwegs ist, geht es wie vielen Geigenvirtuosen der jüngeren Generation: Ihm sind der Frack und die Konzertform zu eng geworden. Fürs Podium zu Jeans, Ohrring, Bandana und seiner blauen Geige zu greifen, reicht ihm nicht. Und so schleicht er sich gelegentlich hinein in andere Genres, in denen es lockerer und fröhlicher zugeht. Das tut er am liebsten mit seiner Pavel Šporcl‘s Gipsy Band. Und mit der erschien er jetzt beim Musikfest Stuttgart passend zum sechsten Gebot mit Hochzeitsmusik der Roma: „Du sollst nicht ehebrechen“.

Unterschiedliche Roma-Stile

Freilich widmet sich Šporcl mit seiner Band vor allem einem der vielfältigen, regional unterschiedlichen Roma-Stile dieser Welt: dem ungarischen. Und in den hineinzuswitchen, dürfte einem klassischen Geiger nicht besonders schwerfallen, ist dieser doch im 19. Jahrhundert nicht nur von Liszt, Brahms oder Sarasate inhaliert worden, wodurch er als „All‘ Ongarese“ oder „Alla Zingarese“ Eingang in alle Gattungen der bürgerlichen Musikkultur gefunden hat. Die vielen fantastischen Roma-Kapellen und -Virtuosen, die damals in den europäischen Musikmetropolen regelmäßig zu hören waren, öffneten die Ohren für neue, seufzende, exotisch-übermäßige Tonschritte und mollige Melancholie, für größere Freiheiten in der Tempogestaltung, und sie faszinierten durch ihren spielerischen Umgang mit speziel­len Spieltechniken wie Glissando und Flageolett. Sie haben dadurch das Teufelsgeigertum in nicht unerheblichem Maße beeinflusst.

Und so war auch das Publikum in der gut gefüllten Leonhardskirche ganz schnell eingenommen für die mitreißenden Rhythmen, die satten, schmachtenden Melodien, das lustige Vogelgezwitscher, mit dem Šporcl und seine vier Mitmusiker die Kirchenbänke zum Vibrieren brachten. Wobei man die vielen Roma-Traditionals schon alle irgendwo mal gehört hat, ob im Radio oder auf Europas Straße, und Brahms‘ ersten Ungarischen Tanz sowieso. Am Ende fühlte sich das Auditorium nach all den wilden, immer schneller werdenden Tänzen, die beim Csárdás stets den getragenen, traurigen Gesängen folgen, sogar zu Standing ovations hingerissen.

Ganz stilecht war der Abend dabei allerdings nicht. Anstatt zum Akkordeon zu greifen, saß Mitmusiker Jan Rigo jun. am Konzertflügel. Und eine derartige Fixierung auf nur einen Solisten dürfte in Gipsy-Bands eher unüblich sein. Schade, dass der Kirchenhall für einen ziemlichen Klangmatsch sorgte, worunter vor allem das virtuose, rasend schnelle Cymbalom-Spiel von Toma Vontszemu zu leiden hatte. Und bedauerlich, dass so wenig vom rumänischen Roma-Stil zu hören war, den Šporcls Mitmusiker offenbar perfekt beherrschen, der aber hiesigen Ohren nicht so vertraut ist: Jener der Hora, in der ein feinmaschiger, vorwärtsdrängender Rhythmusteppich als Grundlage dient für die äußerst feinziselierte Verzierungstechnik aller beteiligter Virtuosen: faszinierend und noch viel wilder und schneller als der Csárdás.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 4. September. Das Konzert fand statt am 1. September.

Freitag, 10. August 2012

Zufall, Witz und Schweigen

Die Stuttgarter Staatsgalerie widmet dem Komponisten und bildenden Künstler John Cage zum 100. Geburtstag eine Ausstellung

Einzelseite aus der Künstlerbuchausgabe des „Mud Book“ von 1983. (Foto: Staatsgalerie)

Stuttgart - Das ist vielleicht das schönste Exponat, das die John-Cage-Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart zu bieten hat: Das „Mud Book“, ein Klappbilderbuch, das zum Backen eines Matschkuchens anleitet: Schlamm formen, in der Sonne trocknen lassen, schichten, mit Steinchen füllen und Pusteblumen draufstecken - und schon ist die Geburtstagstorte fertig, inklusive Wunscherfüllung beim Ausblasen der Löwenzahnlichtlein. Aber Vorsicht: „Mud pies are to make and to look at. Not to eat“, lautet das mahnende Schlusswort.

Die Staatsgalerie gratuliert mit ihrer aktuellen Ausstellung „It‘s John. John Cage“, die noch bis zum 11. November im Graphik-Kabinett zu sehen ist, dem großen musikalischen Avantgardisten und Kunstrevolu­tionär zum 100. Geburtstag. Schade, dass der Amerikaner eine Matschtorte nicht mehr in Empfang nehmen kann. Er starb am 12. August 1992.

Cage hat das „Mud Book“ in den 1950er Jahren mit der Künstlerin Lois Long als Kinderbuch verfasst, fand aber keinen Verleger. Cage hatte die Texte beigesteuert, Long die Zeichnungen aus Gouache und Wasserfarben. Erst 1983, als Cage längst berühmt war, erschien das Werk als aufwendige Künstlerbuchausgabe in Siebdrucktechnik.

Katalysator und Kommunikator

Auch wenn dies bloß eine Gelegenheitsarbeit war - interessant ist sie, weil sie zwei wichtige Charaktereigenschaften von Cage zutage fördert: seinen feinen Humor, der ins Subversive anwachsen konnte und dann dem Kultur-Establishment dieser Welt den Bierernst austrieb, und seine besondere Fähigkeit zur kongenialen Zusammenarbeit mit anderen Kreativen, die ihn zum Katalysator und Kommunikator ganzer Bewegungen machte, sei es in Sachen Happening, Popart oder Fluxus.

Diese beiden Pole seines Wesens werden in den Glaskästen der Ausstellung geschickt inszeniert, mit Vorarbeiten zu Buch-Projekten Cages oder Archivmaterial, das etwa seine Leidenschaft fürs Pilzesammeln dokumentiert: etwa mit Fotos von Pilzexkursionen oder Einladungsschreiben zur Jahresversammlung der 1962 von ihm gegründeten New Yorker Mycological Society.

An der Wand dann der eigentliche Grund der Ausstellung: Bildkünstlerische Arbeiten des berühmten Komponisten aus dem Besitz der Staatsgalerie, vor allem Graphisches, das ab Ende der 1960er Jahre in seinem Werk an Bedeutung gewinnt - eine Entwicklung, die nicht überrascht, betrachtet man den hohen graphischen Eigenwert vieler seiner Partituren. Wobei er bei den Entwürfen für die Kunstdrucke mit Methoden experimentierte, die er in seinen Kompositionen bereits gründlich erprobt hatte: die Arbeit mit Zufallsoperationen, die berechnet werden nach dem Prinzip des I-Gings, einer mit Münzwurf arbeitenden traditionellen chinesischen Orakelform. Sichtbar wird das etwa in den diversen Zeichnungen und Radierungen der Blattreihe „Where R = Ryoanji“, die variationsreich Bezug nimmt auf den Steingarten des zen-buddhistischen japanischen Tempels Ryoanji.

Auf einer analog zu diesem Garten definierten rechteckigen Fläche umkreiste der Bleistift oder die Radiernadel wiederholt 15 Steine. Die Positionen der Steine und die Art und Weise der Umkreisung berechnete Cage zuvor per Zufallsprinzip. Das Ergebnis ist ein lockeres bis sehr verdichtetes Wirrwarr aus Linien und Kreisen, das jedoch streng eingegrenzt wird durch die Konturen des Rechtecks. Diese graphischen Arbeiten inspirierten Cage 1983/85 wiederum zu einem einstündigen musikalischen Werk, dem man, angedockt an die kleine Hörstation der Ausstellung, vor Ort entspannt lauschen kann.

Das Zufallsprinzip à la I-Ging setzte Cage auch beim wohl bedeutendsten Exponat der Ausstellung ein: „Not wanting to say anything about Marcel“, einem kleinen Objekt aus acht eng hintereinander gereihten Plexiglasscheiben, die jeweils mit unterschiedlichen Buchstaben und Wortfetzen bedruckt sind, die per Zufall aus Katalogen und Lexika ermittelt wurden: eine Hommage an den 1968 verstorbenen Freund und Künstler Marcel Duchamp, der etwa durch seine Ready-mades „Fahrrad-Rad“ und „Flaschentrockner“ berühmt geworden war und in dessen Werk der Zufall ebenfalls eine bedeutende Rolle gespielt hat; Cage war das stets eine Inspirationsquelle. So verwandelte Cage selbst die Tatsache, dass sich Duchamp zeitweise aus der Kunstszene zurückzog, um sich ausschließlich dem Schach zu widmen, in eine künstlerische Aktion und traf sich mit ihm zu einem öffentlichen Spiel. Natürlich war das Schachbrett präpariert, und jeder Zug lieferte Töne und Geräusche für eine gerade entstehende, imaginäre Partitur.

Freundlich lächelnd am Telefon


Gelungen ist diese Cage-Ausstellung nicht nur, weil sie Raritäten zeigt, etwa eine kleine, nie veröffentlichte Fotogeschichte, die ursprünglich als Werbebroschüre zu Cages 1969 erschienenem Buch „Notations“ gedacht war, einer von Cage angelegten Sammlung von handschriftlichen graphischen Notationen verschiedener Komponisten und bildender Künstler. Eines dieser Fotos, die alle den freundlich lächelnden Cage am Telefon zeigen, ziert übrigens auch das Plakat der Ausstellung. Gelungen ist diese aber auch, weil sie den Komponisten Cage nicht unter den Tisch fallen lässt, sondern ihn in einem ausgewogenem Konzert-Rahmenprogramm zur Geltung bringt. Empfohlen sei auch die Teilnahme an einer öffentlichen Führung - jeden Sonntag um 12 Uhr.

* Die Ausstellung im Graphik-Kabinett der Stuttgarter Staatsgalerie ist noch bis 11. November geöffnet. Die Kunstnacht am Samstag, 10. November (18 bis 24 Uhr), ist John Cage gewidmet. In Zusammenarbeit mit der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart werden dann auch verschiedene Kompositionen von Cage für Schlagzeug aufgeführt.

* www.staatsgalerie.de


Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute.

Freitag, 27. Juli 2012

Jeder will dem Jäger an den Pelz

Mozarts "Don Giovanni" in Andrea Moses' Inszenierung an der Stuttgarter Oper

Willkommen im Hotel "D.G." (von links): André Morsch als Leporello, Rebecca von Lipinski als Donna Elvira und Shigeo Ishino als Don Giovanni.

Stuttgart - Am Ende ist Don Giovanni tot. Nicht in die Hölle gefahren, wie es das Libretto vorsieht. Gestellt von einem Schlägertrupp, jagt er sich hysterisch lachend selbst eine Kugel in den Kopf. In Andrea Moses' Inszenierung von Mozarts "Don Giovanni", die jetzt als Übernahme aus Bremen im Rahmen eines Public-Viewing-Medien-Rummels an der Stuttgarter Staatsoper Premiere hatte, ist die Titelfigur mit ihrem Wüstlingslatein am Ende. Seine Triebimpulse darf Don Giovanni nicht uneingeschränkt in Sex und Gewalt umsetzen, sondern er wird von drei seiner nunmehr vermeintlichen Opfer in Schach gehalten und oft genug lächerlich gemacht: Von der verlassenen, rachsüchtigen Donna Elvira, die sich penetrant und prügelnd einmischt in seine Versuche, anderen Damen an die Wäsche zu gehen. Von der Prekariatsanwärterin Zerlina, die vor allem an Don Giovannis Pelzbestand interessiert ist. Und von Donna Anna, die dem Lüstling drei Stunden lang den Trauerkloß vorspielt - zwecks Verschlechterung seines Gewissens. Dabei ist ihr Vater, der Komtur, in dieser Inszenierung gar nicht tot, sondern taucht, nachdem Don Giovannis eiserner Spazierstockknauf ihn niedergestreckt hat, plötzlich wieder auf, um erst zum Schlussakkord der Oper das Zeitliche zu segnen - unbemerkt von den anderen und in einem der Betten des "DG Star Hotels". Überhaupt straucheln und taumeln die Männer hier durchs Leben, ohne den oft ziemlich verlogenen Frauen irgendetwas entgegensetzen zu können.

Das Hotel ist Zentrum und einziger Bestandteil der Bühne von Christian Wiehle. In seiner länglichen Bauweise erinnert es an einen Ausflugsdampfer - mit Treppchen und Reling, Bar im Erdgeschoss und ein paar Zimmerchen in der oberen Etage. Gelegentlich dreht es sich effektvoll um die Achse, auf der Rückseite werden zwei Garagentore sichtbar. Hier feiert das Prekariat seine Grillfeten und vorne, im herunterklappbaren Lounge-Bereich, Don Giovanni seine Pelze-Verkaufsparty.

Drumherum ist alles frei zum Spielen. Das ist praktisch, so auch die Verortung des Ganzen in einem Hotel der heutigen Zeit: Dort treffen sich viele Leute rein zufällig. Nichts muss erklärt werden. Alles austauschbar. Und daran hapert Moses' Regie. Wer eigentlich ist Don Giovanni? Pelzhändler? Hotelbesitzer? Gigolo oder Oligarch? Und was treibt ihn an, wenn es mal nicht um die Verlängerung seiner Quickie-Liste geht? Im weißen Gigolo-Anzug mit Hut steckt Shigeo Ishino, der den Maßlosen unnahbar, undurchsichtig spielt. Moses bleibt unbestimmt in der Rollenauslegung. Mal traktiert der ewige Verführer brutal seinen Bediensteten Leporello, mal lässt er sich herumschubsen von den Frauen. Das ist genauso wenig stimmig wie sein Suizid.

Freilich agieren Opernchor und Bühnenpersonal - komplett besetzt aus dem Staatsopernensemble und wohl auch befeuert durch die Live-Übertragung durch 3Sat und SWR - ungeheuer spielwütig. Immer ist irgendetwas los auf der Bühne, lümmelt sich einer an der Bar oder im Bett, beobachtet die anderen, wenn sie sich prügeln oder lieben. Aber die Motivation bleibt oft unklar, der Abend inhaltlich an der Oberfläche, und man verhakelt sich immer wieder in Albernheiten, etwa wenn Donna Anna und Don Ottavio nach dem scheinbaren Tod des Komturs über einem liegengelassenen, blutigen Papiertaschentuch Rache schwören und mit affigen Gesten darum herum tänzeln. Besonders im zweiten Akt fuchteln die Männer ständig mit Pistolen herum oder halten sie sich an die eigene Schläfe - wie in einem schlechten "Tatort". Und dass Leporello während seiner Register-Arie per I-Phone auch gleich die Fotos sämtlicher Kurzzeit-Gespielinnen seines Chefs an die Wand beamt, erntet zwar Lacher, ist aber reine Illustration. Es ist die psychologische Ausleuchtung der Figuren, die der Inszenierung fehlt. Die Frauen: berechnende Zicken, die Männer: kopflose Trottel. Das Dunkle, das Animalische, das Irrationale, ja das Tödliche der Seele: Wohin sind die zentralen Aspekte dieser Meisteroper entschwunden? Da ist kein Platz mehr für den Komtur als mystische Stimme aus dem Jenseits, er verkümmert hier zur lächerlichen Staffage.

Was den Abend rettet, ist die Musik. Bariton Ishino überzeugt mit klaren, kühlen Farben, André Morsch singt den Leporello samtig und ungeheuer differenziert gestaltend. Simone Schneider verleiht der Donna Anna mit satten Farben und kraftvoller Höhe Vitalität, während Rebecca von Lipinski als koloraturensichere Donna Elvira ihrer Höhe rollengemäß eine gewisse überdrehte Schärfe verpasst. Atalla Ayan als Don Ottavio erwärmt die Herzen mit seinem weichen, schmerztrunkenen Tenororgan wohl am stärksten, während Pumeza Matshikiza ihre Zerlina dank der dunkel vibrierenden Melancholie in ihrer Stimme faszinierend ambivalent gestaltet. Auch Ronan Collett singt seinen Masetto sehr geschmeidig, und Matthias Hölle kann dem Komtur zumindest stimmlich Macht verleihen. Alles ein Genuss.

Glänzende Arbeit nicht nur in der Tempo-Dramaturgie leistet Antony Hermus am Dirigierpult. Ob in Sachen Gefühle, Stimmungen oder mystische Klänge: Das Staatsorchester zieht der Oper den doppelten Boden ein - kontrastreich, transparent, agil im Klang, dennoch oft mit gewaltigem Druck. Genau deuten die Instrumente das Geschehen auf der Bühne aus, kommentieren und enthüllen Unbewusstes. Ironisch flüchtiges Tapsen durch die Skalen entlarvt die Lüge, jauchzende Streicher unterstreichen die Freude, schmachtende Seufzer das Herzeleid - einfach großartig.

Rezension für die Eßlinger Zeitung von heute. Premiere war am 25. Juli 2012.

Mittwoch, 25. Juli 2012

Spuren der Verletzung

Festival „Sommer in Stuttgart“ eröffnet mit dem Ensemble Ascolta

Stuttgart - Der Versuch, ein Musikstück zu schreiben, welches den Verlust der Fähigkeit, Musik zu empfinden, zum Inhalt hat, mutet eigentlich paradox an. Das jedenfalls bewies das Konzert des Ensembles Ascolta, mit dem Musik der Jahrhunderte jüngst ein kleines Neue-Musik-Festival unter dem Titel „Der Sommer in Stuttgart“ im Theaterhaus eröffnete: „Ixodoo“ von Manuela Kerer beschäftigt sich mit einer mysteriösen Erkrankung von Berufsmusikern, die infolge einer Hirnverletzung plötzlich nicht mehr in der Lage sind, Musik zu erfassen, Melodien zu spielen, zu singen oder gar aufzuschreiben.

Brüchige Strukturen

Der Komponist Maurice Ravel etwa litt am Ende seines Lebens an dieser Krankheit. Manuela Kerers Versuch, den eigentlich unbeschreiblichen Zustand in Töne zu fassen, zeigt, mit welch hohen Ansprüchen komponierende Menschen heutzutage ans Werk gehen. Sie nehmen sich oft genug unendlich Kompliziertes vor, betreiben dafür wissenschaftliche Studien, machen sich Gedanken noch und nöcher - um dann am Ende freilich zu einem denkbar platten Klangergebnis zu kommen: Zwanzig Minuten lang reiht „Ixodoo“ in brüchigen Strukturen einzelne Aktionen der sechs Musiker aneinander: Flügeltasten-Klopfen, Posaunenmelodiefetzen, Fingerquietschen auf Gitarrenrücken, Cello-Flageoletts, Schläge auf Papier oder Trompetenatmen. Das langweilte ziemlich schnell die Ohren. Stefano Gervasonis Werk „nube obbediente“ für Posaune und Schlagzeug dagegen hatte so manch witzigen Klangmoment zu bieten. Andrew Digby ließ seine Posaune lustig heulen und quasseln und baute sie für überraschende Effekte auch immer wieder auseinander, während Adam Weisman auf Marimba, Triangel, Glöckchen und Holzblöckchen komplizierte Rhythmen beisteuerte. Aber wäre, so konnte man sich fragen, das Klangergebnis nicht noch interessanter und unterhaltsamer geworden, wenn die beiden hervorragenden Musiker einfach miteinander improvisiert hätten?

Klänge wie aus dem Nebel

Aufhorchen ließ dann aber Giovanni Bertellis „Autoritratto, in tre passaggi“, das in neoklassizistischer Manier immer wieder Vertrautes aufscheinen lässt und es mit Geräuschhaftem collagiert. Wie aus dem Nebel tauchen auch plötzlich die vagen Konturen eines Trauermarschs auf oder lärmende Zirkusmusik bricht sich Bahn. Denn die Geschichte, die Bertelli erzählt, handelt von einer Beerdigung in einem abgelegenen Dorf, in dem gleichzeitig die Kirchweih gefeiert wird.

Und auch das Stück „Spuren“ von Manuel Rodriguez hielt die Ohren in Bann: durch eruptive Klänge, die wie ein Blitz durch die Instrumente sausten, um dann in sanft wiegenden Intervallen ihren Nachhall zu finden, genauso wie durch den lustvollen Griff in die instrumentale Spielkiste: ob Fahrradklingel oder elektronische Stimmverfremder.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 23. bzw. 24. Juli 2012. Das Konzert fand statt am 20. Juli.

Sonntag, 22. Juli 2012

Botschafter kultureller Vielfalt

Das südafrikanische MIAGI Youth Orchestra bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen

Im guten Ton vereint spielen im MIAGI Youth Orchestra Jugendliche aus allen Ethnien und sozialen Schichten Südafrikas. (Foto: Reiner Pfisterer)

Ludwigsburg - Regenbogennation nennt man Südafrika gerne, wegen der vielen verschiedenen Ethnien, die dort zusammenleben. Dass Südafrika, 18 Jahre nach dem Ende der Apartheid, auf dem besten Weg ist, sich zu einer attraktiven, friedlichen Multikulti-Gesellschaft zu wandeln, scheint die Botschaft des MIAGI Youth Orchestra zu sein, das jetzt bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen sowohl mit einem Big-Band- als auch mit einem Sinfoniekonzert im Forum am Schlosspark zu hören war. MIAGI steht für „Music is a ­great investment“ und ist eine südafrikanische Organisation, die sich der Förderung talentierter junger Musiker aller Bevölkerungsgruppen und sozialer Schichten widmet.

Mit Ernst und guter Laune

Allein das Bild auf der Bühne beim Sinfoniekonzert im voll besetzten Forum beeindruckte, und die Ohren zogen alsbald nach: Gut 90 Jugendliche aller Hautfarben zwischen 14 und 24 Jahren in Jeans, Turnschuhen und schwarzem MIAGI-Hemd, alle vorne auf der Stuhlkante sitzend, die Augen gespannt auf den Dirigenten Christian Muthspiel gerichtet, mit Ernst bei der Sache, und trotzdem gute Laune verbreitend - es wirkte, als musiziere eine gesamte junge südafrikanische Generation in ihrer ganzen kulturellen Vielfalt friedlich und fröhlich miteinander.

Der Österreicher Muthspiel, der auch Jazzer und Komponist ist, hatte aus Anlass dieses Konzerts ein Stück komponiert: „Out of South Africa“. Es begann mit einer kleinen Jazz-Combo, geleitet vom jungen Klarinettisten Tshepo Tsotetsi, der zu Muthspiels sinfonischer Dichtung die musikalischen Hauptthemen beigesteuert hatte, so auch den swingenden Beginn. Die Combo wuchs langsam an zum Orchester, das Tsotetsis Melodien variierte und in andere Klangwelten überführte. Wie in Traumsequenzen tauchte immer wieder Neues auf: schräge Klänge, Jazziges, Märsche, südafrikanische Folklore und nicht zuletzt eine längere Violin-Rhapsodie, gespielt vom Stargast des Abends, dem britischen Geiger Daniel Hope, der zuvor schon bescheiden am Pult der Konzertmeisterin Mary Tennant mitgespielt hatte. Immer wieder öffnete sich das Stück auch für Improvisationen, und für einen besonders fröhlichen Ausbruch gab Muthspiel seinen Taktstock kurz mal an Tsotetsi weiter.

Daniel Hope spielte dann noch mit recht viel Vibrato die schmachtende f-Moll-Romanze für Violine und Orchester von Antonín Dvorák, bevor sich das Youth Orchestra Leonard Bernsteins Sinfonischer Suite aus seiner Filmmusik zu „On the Waterfront“ („Die Faust im Nacken“) vornahm. Hier konnten sich - nicht zum letzten Mal - die ganz hervorragenden Bläser des Orchesters in Szene setzen, etwa die Solisten Jaco van Staden (Horn) oder Lincoln Isaacs (Trompete). Diese kontrastreiche Musik aus komplexen Rhythmen und stets leicht swingenden Melodien liegt den MIAGIs. Doch auch die schläfrig-verträumten und schwül-hitzigen Stimmungen in Claude Debussys „Prélude à l‘après-midi d‘un faune“ gelangen den Jugendlichen ganz vorzüglich. Und wunderschön spielte Monique van Willingh ihr Flötensolo.

Geradezu stolz und genießerisch zelebrierte Muthspiel dann Gershwins „An American in Paris“, er gab sich berauscht vom Klang des Orchesters, das mit Witz für lärmende Details wie Autohupen und feinem Gespür für den prächtigen Broadwaysound das Publikum in Begeisterung versetzte. Als Dank für den tosenden Applaus gab es noch eine Gymnopédie von Erik Satie zu hören, die ohne Pause in südafrikanischen Folk überging. Fröhlich tanzend, spielend und singend verließen die Jugendlichen die Bühne durch den Zuschauerraum, um draußen auf dem Vorplatz weiterzumusizieren. Zur Freude des Publikums, das immer mehr in Bewegung geriet und am Ende sogar ein bisschen tanzte. MIAGI hat gezündet, keine Frage.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 21. Juli 2012. Das Konzert fand statt am 19. Juli.

Dienstag, 17. Juli 2012

Zum Heulen schön

SWR Vokalensemble Stuttgart tritt erstmals zusammen mit einem Patenchor auf

Stuttgart - Manchmal bedauert die Kritikerin, dass sie sich Superlative nicht prinzipiell nur für die wirklich ganz besonderen Musikereignisse aufbewahrt hat. Aber man kann ja schließlich nicht in die Zukunft hören, und flugs hat man sein „ausgezeichnet“, „fantastisch“, „hervorragend“, „großartigst“ schon verbraucht. Das alles ist auch über das SWR Vokalensemble zu schreiben, das jetzt in seinem Saison-Abschlusskonzert in der Gaisburger Kirche mit A-cappella-Werken des 20. Jahrhunderts wieder einmal Gesangskultur vom Feinsten bot.

Expressiv und klanggewaltig

Ob in der expressiven, klanggewaltigen Messe für Doppelchor von Frank Martin, ob in Ralph Vaughan Williams‘ lautmalerischen „Three Shakespeare Songs“ oder in Hans Werner Henzes politisch ambitioniertem „Orpheus behind the wire“: In der Leitung Marcus Creeds zeigten die 28 Vokalisten, wie intona­tionssicher, mit welch dynamischer Agilität und wie genau gestaltend sie ihre Stimmen zum Einsatz bringen, wie wunderschön selbst krasse Dissonanzen klingen können und wie berückend die räumlichen Weiten sind, die zu spannen das Ensemble fähig ist.

Und doch möchte man den Blick auf einen anderen Protagonisten des Abends fokussieren: auf den Kammerchor des Kopernikus-Gymna­siums Wasseralfingen, der im einstündigen Vorprogramm auftrat. Er war ein Jahr lang der Patenchor des SWR Vokalensembles, besuchte dessen Proben und Konzerte, sang gemeinsam mit ihm und nahm an Produktionsworkshops beim SWR teil. Und man erarbeitete gemeinsam ein speziell für dieses Projekt in Auftrag gegebenes Werk des tschechischen Komponisten Martin Smolka. Die Jugendlichen sangen zunächst ein eigenes Programm. Keine stimmgewaltigen Werke, sondern - den jungen Kehlen angemessen - Klangschönes. Und überwältigend, ja, zum Heulen schön sangen die 9- bis 13-Klässler neuere Stücke des Slowenen Damijan Mocnik, des Norwegers Ola Gjeilo oder des Briten John Joubert, aber auch Mendelssohns „Frohlocket, ihr Völker auf Erden“.

Makellos rein

Makellos rein, fein gestaltet und natürlich, ohne auch nur einmal zu forcieren: Das ist die Klangkultur dieses mit Hingabe und hochkon­zentriert agierenden Chors. Chorleiter Thomas Baur leistet ganze Arbeit. Man kann nur erahnen, wieviel Freizeit die jungen Choristen in die Proben gesteckt haben, um derart professionell zu klingen. Und ebenso beeindruckend geriet den Schülern zusammen mit dem Vokalensemble in der Leitung Creeds die Uraufführung des „Agnus Dei“ für zwei gemischte Chöre, das Martin Smolka als „kleines Requiem“ für seinen Vater geschrieben hat. Smolka ist ein Meister der Stimmbehandlung und der chorischen Klanggestaltung. Auch in diesem Werk führt er die Stimmen immer wieder zu immenser räumlicher Weitung zusammen, lässt dadurch eine mystische, ja metaphysische Aura entstehen. Im Zentrum des Stücks, zwischen pulsierenden Echos, die immer wieder wellenartige Bewegungen anstoßen, und Klangmassierung, die sich durch verschachtelt einsetzende Stimmen aufbaut, gerät die Musik zum Stillstand: im leisen, gleichmäßigen Summen, über dem plötzlich fortissimo ein tschechisches Kinderlied erklingt, eines, das der Vater seinen Kindern häufig vorgesungen hat. Das alles war sehr berührend. Und eigentlich noch mehr als das.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 17. Juli 2012. Das Konzert fand statt am 14. Juli.

Montag, 16. Juli 2012

Bekifft vor Liebe

„Romeo und Julia“ im Innenhof des Alten Schlosses in Stuttgart

Stuttgart - Da weinte sogar der Himmel angesichts Shakespeares Liebestragödie „Romeo und Julia“, die das Stuttgarter Theater tri-bühne jetzt im Rahmen des Festivals Kultursommer im Innenhof des Alten Schlosses aufführte. Bei der Premiere begann es schon nach 20 Minuten zu tröpfeln, und dann nieselte es sich ein. Das Publikum holte sich bereitgelegte Plastiküberwürfe, die Darsteller ignorierten einfach die gemeinen Spielereien des Wettergottes, so gut es eben ging.

Aber so traurig, dass sphärische Tränen hätten fließen müssen, war der Abend gar nicht. Er war eher komödiantisch angelegt, oft recht klamaukig, und in den vielen Sterbeszenen musste sich das Ensemble beinahe schon zum Ernst zwingen. Regisseurin Edith Koerber hatte sich auf eine klare Linie nicht wirklich festlegen wollen, auch was die zeitliche Verortung anging: Mal schlugen sich die verfeindeten Familienclans der Montagues und Capulets mit altmodischen Degen, mal fotografierte der eitle Paris die scheintote Julia mit der Digicam. Mal tänzelte man maskiert à la Karneval in Venedig irgendetwas Historisches, dann rauchte Pater Lorenzo, der Romeo und Julia heimlich verheiratet, einen fetten Joint. Romeo dagegen wirkte auch ohne Cannabis völlig bekifft - von der Liebe zur schönen Julia. Er verdrehte die Augen, warf die Arme in die Höhe, kicherte und hangelte sich das rostige Baugerüst entlang, das die bewusst schrottige Spielfläche einrahmte, aber das pittoreske Renaissance-Ambiente des Schlosshofes arg verschandelte (Bühne: Csörsz Khell). Und man fragte sich, warum die schönen, mehrgeschossigen Arkadengänge nur so selten bespielt wurden, war die Inszenierung doch speziell für diesen Ort gemacht worden und war Koerber der italienischen Renaissance, in der das Stück spielt, ja im großen Ganzen verpflichtet geblieben.

Multikulturelle Ambitionen

Alle multikulturellen Ambitionen der tri-bühne in Ehren - aber so wollte sich Koerbers anspruchsvoller Regie-Ansatz nicht vermitteln. Den „kulturellen Rassismus“ hatte sie in ihrer Inszenierung aufs Korn nehmen, den ursprünglich familiären Konflikt zwischen den Capulets und den Montagues zu einem globalen machen wollen. Romeo wurde deshalb gespielt von Yahi Nestor Gahe von der Elfenbeinküste. Eigentlich ist er Tänzer und Choreograph - er turnte und tanzte demgemäß auch professionell auf der Bühne herum. Zudem hat er Sex-Appeal und zeigte sich in der berühmten Szene, in der die Lerche zur Nachtigall mutiert, oben auf dem Balkon mit nacktem Oberkörper.

Aber globaler Konflikt? Außer, dass Romeo ein paar Mal als „Neger“ beschimpft wurde, passierte gar nichts nix in dieser Richtung. So gab Romeo einen schönen, sympathischen, aber sprachlich etwas unbeholfenen Liebhaber, die hübsche Carolin Elsner in schickem weißem Kleidchen (Kostüme: Renáta Balogh) spielte Julia charmant und jugendlich aufgedreht, und drumherum wurde kräftig herumgealbert.

Feine Ironie hätte dem Stück aber besser getan als Klamauk. Und ein paar Mal glimmte sie auch auf. Etwa als das Reiterstandbild Graf Eberhards im Bart im Schlosshof plötzlich zu sprechen begann - als Fürst von Verona -, oder als ein Herrentrio als Hochzeitsständchen den Beatles-Song „Julia“ säuselte und Möchtegerngatte Paris Rosenblüten rieseln ließ, während die Familie Capulet über den (Schein-)Tod Julias greinte.

Musikalisch gewitzt oder zumindest angemessen kommentierte Szenen blieben ohnehin die Ausnahme. Denn neben dem Regen gab es noch einen anderen kontraproduktiven Aspekt an diesem Abend: Es war die Live-Musik von Dietrich Lutz, die das Spiel auf der Bühne und die Atmosphäre im Schlosshof immer wieder störte, wenn nicht gar zerstörte. Vor allem, wenn unerträgliches Synthesizergequäke aus ziellos wandernden Akkorden Kampfszenen und dramatische Entwicklungen unterlegte. Besonders nervte das im Finale, als Romeo und Julia sich nacheinander das Leben nahmen. Dabei hatten Yahi Nestor Gahe und Carolin Elsner gerade hier ihre stärksten Augenblicke.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 16. Juli 2012. Premiere war am 13. Juli.

EDUARDAS UNIVERSUM

weblog für ernste kultur von verena großkreutz

Wer ist Eduarda?

Eduarda bin natürlich ich! Diesen Spitznamen verpasste mir ein Freund in meiner Anfangszeit als Musikkritikerin in Erinnerung an den berühmten Eduard Hanslick.

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