"Dancer in the Dark" – Lars von Trier am Stuttgarter Staatstheater spartenübergreifend inszeniert
Stuttgart - Auf die Frage, warum seine Filmfiguren stets Höllenqualen ertragen müssen, antwortete der dänische Regisseur Lars von Trier einmal: "Ein Film muss weh tun wie ein Stein im Schuh. Es gibt doch keinen anderen Grund, ins Kino zu gehen. Wenn man was Schönes erleben will, ist Sex dazu besser. Oder Kanufahren." Höllenqualen erleidet auch Selma in Lars von Triers von Musik- und Tanzszenen durchzogenem "Dancer in the Dark" aus dem Jahr 2000: Die erblindende Fabrikarbeiterin sammelt ihren kargen Lohn in einer Keksdose, um die Augenlicht rettende Operation ihres geliebten Sohns zu finanzieren, dem sie ihre Krankheit vererbte.
Vor dem trostlosen Fabrikalltag flüchtet sie sich träumend in die rosarote Welt des Musicals, verursacht aus Unachtsamkeit einen Maschinenschaden und wird entlassen. Das ersparte Geld klaut der Nachbar, um die eigene Verschuldung zu mildern. Selma erschießt ihn im Kampf um ihr Erspartes. Dafür wird sie am Ende, ihr Unglück passiv erduldend, zum Tode verurteilt und gehängt. Das Geld für den Rechtsanwalt sparte sie für die Sehkraft des Sohnes.
Kühle Abstraktion
Der Film "Dancer in the Dark", für den der Regisseur die isländische Popikone Björk als Komponistin und Hauptdarstellerin gewinnen konnte, ist die pralle Frucht einer kongenialen, kräftezehrenden Zusammenarbeit zweier kompromissloser Künstler. Und er ist im Zusammenwirken von Bild, Musik und dem hohen Identifikationsstreben der Hauptdarstellerin mit ihrer Rolle von ungeheurer, zuweilen kaum zu ertragender Intensität.
Will ein Theater eine solche Vorlage für seine Zwecke adaptieren, muss es sich die Frage stellen, was es dem Film gegenüber an Mehrwert zu bieten hat. In Stuttgart, in der Interimsspielstätte "Nord" des Schauspiels des Staatstheaters, ging man jetzt immerhin einen sehr eigenen Weg: Im Gegensatz zum Film, der auf krasse Authentizität zielt, setzt man hier auf kühle Distanz und Abstraktion. Die Bühne ist schwarz und leergeräumt. Von der Decke baumelt an langen Kabeln ein Himmel voller Mikrofone – Reminiszenz an Selmas Traum vom Musicalstar-Dasein. Später denkt man an Gitterstäbe und an den Strang, der Selmas Leben beenden wird. Die Handlung wird in straffen Dialogen vermittelt – hierfür hat Patrick Ellsworth seine an diesem Abend uraufgeführte Bühnenbearbeitung des Drehbuchs von Lars von Trier neu eingerichtet, das heißt stark gekürzt.
Stampfend, zuckend
Für kühle Abstraktion sorgt vor allem die Kooperation des Schauspielhauses mit dem Stuttgarter Ballett: Die Choreografie von Marco Goecke, die Louis Stiens nach dessen Erkrankung weiterführte, verwendet zwar gelegentlich auch schwungvolle Elemente, wie man sie aus Tanzeinlagen amerikanischer Musikfilme, Musicals und Revuen der 1950er Jahre kennt. Aber ansonsten wird die Auflösung der Realität in mitreißende, oft fetzige Musicalszenen, wie sie im Film immer wieder Selmas Wahrnehmung vernebeln, ersetzt durch abstrakt Getanztes, das in kleinteiligen Bewegungen aus schiebenden Händen, abgewinkelten Armen, auf Schenkel trommelnden Fäusten und merkwürdigen Fingerzeigen, stampfend, zuckend, nervös zappelnd, nur wenige Bezüge zur Geschichte offenbart – es sei denn durch solistisch getanzte Verzweiflung oder Melancholie.
Letzteres gelingt etwa dem jungen Alessandro Giaquinto, der die Rolle von Selmas Sohn Gene als stumme Rolle tanzt, sehr ausdrucksstark und in seiner komischen Ernsthaftigkeit ein wenig an Buster Keaton erinnernd. In der Gruppe, wenn sich etwa aus stampfenden Maschinenrhythmen ein ganzer Wald aus eindrücklich und prächtig sich bewegenden Menschen formiert, denkt man: Das ist schön anzuschauen, aber es ist eine dunkle, bedrohliche Welt, die nichts zu tun hat mit dem wohlig-trügerischen Musicalrausch der Selma. Der Stoff wird ästhetisiert und er verliert auf diese Weise seine so schmerzhaft aufdringliche Direktheit.
Für Björks geniale Musik fand der Theaterkomponist Matthias Klein einen zumindest pragmatischen Ersatz: Collagen aus elektronischen Sounds, Maschinen- oder Zügerattern und Schallplattenrauschen, ein leicht verfremdetes "I'm in heaven" von Fred Astaire oder Judy Garlands "Get happy". Und im Pas de deux, das anstelle des Film-Liebesduetts "I've seen it all" getanzt wird, erklingt wagnernde Erlösungsharmonik.
Spiel mit Nähe und Distanz
In Goeckes Zeichen- und Schrittsprache werden auch die Schauspieler hineingezogen. Auf der kahlen Bühne haben sie alle es schwer, sich freizuspielen. Das Tanztheater verschlingt sie mehr und mehr. Christian Brey, der der Regisseur des Abends ist, wurde offenbar dank all der wilden Körperlichkeit der Tänzer ist seiner Arbeit zur Starrheit verdammt. Dabei ist er eigentlich Slapstickexperte, der für schnelles, quirliges Theater steht. An diesem Abend verrinnen ihm die Worte, verlieren sie an Bedeutung, wirken oft unfreiwillig komisch.
Ute Hannig als Selma steht in gelber Strickjacke, zu kurzer Hose und braunen Stiefeln einsam mitten auf der Bühne und kämpft mit den Worten. Es wird mit räumlicher Nähe und Distanz allzu platt gespielt. Der Sohn tanzt vorbei, und der Nachbar steht am anderen Ende der Bühne. Nicht einmal Freundin Kathy kommt Selma näher. Die Leerstellen, die sich zwischen Text, Stoff und seiner theatralen Umsetzung auftun, werden immer offensichtlicher. Dass Selmas Kampf ums Ersparte dann mit realistischen Pistolenschüssen und minutiöser Strangulation des Diebes endet, erscheint angesichts der sonst herrschenden Abstraktion völlig übertrieben. Selmas eigener Tod dagegen wird nur angedeutet. Nein, dieser Abend tut nicht weh. Aber er langweilt auch nicht. Er fließt dahin und ist so schön wie eine Kanufahrt.
Rezension für www.nachtkritik.de. Die Premiere fand statt am 28.11.2012.
eduarda - 30. Nov, 00:51
Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia und der Pianist Jan Lisiecki im Meisterkonzert
Stuttgart - Vielleicht hätte das Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia im Meisterkonzert im Beethovensaal statt einer Schumann-Sinfonie lieber die kompletten Enigma-Variationen von Edward Elgar spielen sollen. Im süß klagenden Nimrod-Satz, den es daraus als Zugabe intonierte, ließ Italiens sinfonisches Aushängeschild endlich jene Klangkultur erahnen, für die es offenbar berühmt ist. Es soll ja laut Programmheft Musikexperten geben, die das römische Orchester zu den zehn besten Klangkörpern der Welt zählen. Davon freilich war im eigentlichen Konzert nichts zu hören.
Denn Robert Schumanns Zweite Sinfonie wirkte gestalterisch völlig unbearbeitet. Ohnehin ist es fragwürdig, die Sinfonien gerade dieses Romantikers in einer Riesentourneebesetzung mit über 60 Streichern zu spielen. Sollen ihre kompositorischen Qualitäten hörbar werden, ist höchste strukturelle Transparenz angesagt. Chefdirigent Sir Antonio Pappano, der auch äußerlich durch ziemlich wirr wirkendes Fuchteln nicht gerade den Eindruck machte, einen satzübergreifenden Plan im Kopf zu haben, setzte auf orchestralen Durchgangsverkehr statt auf Tempodramaturgie, dynamische Kontraste, Übergangsgestaltung und vor allem lebendige Phrasierung, also die sinnerfüllte Formung der musikalischen Gedanken. Das Ergebnis war eine langweilende, uninspirierte Klangsoße, die gerade im Adagio dank dickem, klebrigem Streichersound in schier unerträglicher Trägheit erstarrte.
Schumann scheint dem Orchester und seinem Dirigenten nicht zu liegen. Auch im berühmten A-moll-Klavierkonzert gelang es den Italienern nicht, jene Paarung von Poesie und äußerster innerer Gespanntheit herauszuarbeiten, die so typisch ist für Schumanns Klangwelt. Der erst 17-jährige kanadische Pianist Jan Lisiecki profilierte sich zwar durch lyrische Ausdruckskraft und locker-leicht sprudelnde Virtuosität, aber der schlaksige blonde Wuschelkopf verlor sich auch allzu oft in jugendlich zarter Verträumtheit. Wütendes Auftrumpfen erscheint bei ihm noch aufgesetzt, und im Zusammenwirken mit dem müde wirkenden Orchester verpuffte jede innere Spannung schon im Ansatz.
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 23.11.2012. Das Konzert fand statt am 21.11.
eduarda - 21. Nov, 00:42
Das Orchestre de Chambre des Champs-Elysées im Stuttgarter Beethovensaal
Stuttgart - Der italienische Violinist Giuliano Carmignola springt auf die Bühne des Beethovensaals der Stuttgarter Liederhalle und schäkert erst einmal mit seinen Mitmusikern vom Orchestre des Champs-Elysées. Er entspricht so gar nicht dem Klischee des überlegenen, ernsten Geigenvirtuosen. Er hat ein Notenpult vor sich aufgestellt, das er zunächst einmal durch zeitaufwendige Orientierung im Raum in die richtige Position bringt - immer mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen.
Seinen Blumenstrauß schenkt er am Ende einer Dame in der ersten Zuschauerreihe. Eine Zugabe will er nicht geben. Beinahe peinlich scheint ihm der Applaus zu sein, und immer wieder reißt er den sich sträubenden musikalischen Leiter des Abends, Alessandro Moccia, ins Zentrum der Bühne, damit der sich beklatschen lasse.
Aber auch was sein Spiel angeht, wirkt der große, schlanke und schöne Mann ausgesprochen unkonventionell: Seine Hand greift den Bogen sehr weit weg vom Frosch, vom Bogenende also - noch weiter, als es Barockexperten oft tun, zu denen er gezählt wird. Der Klang wird dadurch kräftiger, Doppelgriffe erhalten eine fast folkloristische Einrauung. Wunderschönen Kantilenen steht das aber auch nicht im Weg.
Risikofreude statt letzter Perfektion
Den beiden Violinkonzerten in C-Dur und A-Dur des jungen Haydn, die noch dem barocken Prinzip des italienischen Concertos und seinem enger verwobenen kommunikativen Miteinander verpflichtet sind, tut das gut: Nicht mit Schönklang und letzter Perfektion spielt Giuliano Carmignola sich an diesem Abend in die Herzen der Zuhörer, sondern mit einer Risikofreudigkeit, die gewisse Störgeräusche und Intonationseintrübungen mit sich bringen kann, und vor allem mit einem gehörigen Maß an exotischen Farben: So klingt seine Geige gelegentlich gar wie eine Klarinette im hohen Register. Auf seine Marotte, vor dem Einsatz in der hohen Lage den Ton leise mit dem kleinen Finger anzuzupfen, wohl um die Intonation noch einmal zu überprüfen, sollte er aber lieber verzichten. Das ist sehr deutlich zu hören und stört, vor allem in den verinnerlichten Adagio-Sätzen. Aber die klangliche Variationsfähigkeit, auch was den sparsamen Einsatz des Vibratos angeht, und die grenzenlose Fantasie im Formen der Phrasen und Farben machen den Abend zu einem echten Ereignis und Haydns auf den ersten Blick so unspektakuläre Solo-Konzerte zu konzertanten Leckerbissen, denen man wünscht, dass sie häufiger zu hören sind.
Rhythmische Finessen
Mit dem Orchestre des Champs-Elysées, das sich der historischen Aufführungspraxis von Werken von Haydn bis Mahler widmet, traf Carmignola auf Geschwister im musikalischen Geiste. Die Franzosen, die an diesem Abend in ihrer Kammerorchesterbesetzung auftraten, leitete Alessandro Moccia mit enorm schwungvollem Bogenstrich vom Konzertmeisterpult aus. Ob Haydns Violinkonzerte, seine zuvor gespielte „Trauersinfonie“ oder die am Ende intonierte „Linzer Sinfonie“ von Mozart - ob explosives Allegro, inniges Adagio, rational-lichtes Menuett oder vor kompositorischen Finessen nur so strotzendes Finale: Der agile, transparente Zusammenklang, die lebendige Kommunikation und Formung der musikalischen Gedanken, die Genauigkeit und Klangfantasie, mit denen die Franzosen ans Werk gehen, führen zu jenem Klangbild, das Voraussetzung ist, um gerade die Qualitäten der Haydn-Werke zu offenbaren: von den feinsinnig durchgearbeiteten Strukturen, in der jede auch noch so kleine Stimme ihren Eigenwert hat, bis zu den metrisch-rhythmischen Finessen. Von diesem hoch lebendigen und erfrischenden Abend zeigte sich das Publikum in der Liederhalle am Ende begeistert.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 19.11.2012. Das Konzert fand statt am 17.11.
eduarda - 20. Nov, 00:33
"Schwanengesänge"-Liederabend mit Christoph Prégardien und Siegfried Mauser in der Stuttgarter Staatsoper
Stuttgart - Wenn von Waldeinsamkeit, rauschenden Bächlein und Mondesschimmer die Rede ist und von einer Gegenstandswelt, die sich langsam entgrenzt, um sich in Farben, Poesie und Töne aufzulösen, dann ist der Tenor Christoph Prégardien der richtige Mann. Dementsprechend atmosphärisch eindringlich und verzaubernd gelang ihm Schumanns Liederkreis op. 39 auf Eichendorff-Gedichte, der die zweite Hälfte seines Liederabends in der Staatsoper darstellte. Prégardiens Stimmfarben, die Art seiner Phrasierung und dynamischen Gestaltung trafen den Tonfall der Naturlyrik Eichendorffs sehr genau – und damit auch der Schumannschen Vertonung, die wie alle Kunstlieder komponierte Interpretation des Textes ist. Prégardien ließ die Töne mit baritonaler Wärme erblühen, horchte ihnen nach, tränkte sie in unstillbare Sehnsucht und in Staunen über die geheimnisvollen Vorgänge, die das lyrische Ich im Zustand zwischen Traum und Bewusstheit umgeben – wie etwa in der berühmten "Mondnacht".
Ja, Eichendorff liegt Prégardien. Bei Heinrich Heine sieht das freilich anders aus. Aus Schuberts posthum zusammengestellter Liedersammlung "Schwanengesang" hatte sich der Tenor aber just die Heine-Vertonungen ausgesucht. Hier fehlte es seiner Interpretation an jenen Zwischentönen, die nötig sind, um ironische Brüche und vor allem die Nachtseiten der menschlichen Seele hörbar zu machen, die Schubert hier so kongenial in Klänge fasst – wie etwa im "Doppelgänger": Prégardien suchte mit großem Stimmaufwand das Grauen fühlbar zu machen, dass den Protagonisten überfällt, wenn es dem Schreckbild seines eigenen Ichs gegenübertritt. Doch mehr als Schauerromantik wollte sich nicht vermitteln.
Auch Wolfgang Rihms Heiner-Müller-Zyklus "Ende der Handschrift" blieb in dieser Hinsicht interpretatorisch eindimensional, weil Prégardien für diese zerbrechlichen Seelenbilder, die von Todesangst und -ahnung sprechen, keine anderen Ausdrucksmittel fand als für Schubert und Schumann und zudem immer wieder in einen leicht pathetischen Ton verfiel. Phänomenal aber auch hier sein Mann am Klavier, Siegfried Mauser, der das "Zauberwort" in allen drei Werken traf und dem singenden lyrischen Ich in Farben, Gesten und Tonmalereien stets Spiegel der Seele war.
Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 13.11.2012. Das Konzert fand statt am 11.11.
eduarda - 14. Nov, 00:28
Grandios: Manfred Honeck mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra in der Stuttgarter Liederhalle
Stuttgart - Als das Rauchverbot in Deutschland eingeführt wurde, rieb sich so mancher verwundert die Augen, als er seine Stammkneipe betrat. Bis dahin hatte dichter Zigarettenqualm den Blick vernebelt. Nun lag der Raum bis in den hintersten Winkel in scharfen Konturen vor einem. Das Gesicht des Wirts hinterm Tresen offenbarte plötzlich Falten, und man konnte zum ersten Mal die Etiketten auf den Whiskeyflaschen im Regal entziffern.
Plastisches Klangbild
Überträgt man diese visuelle Erfahrung auf das Hören, so geschah Vergleichbares jetzt im Stuttgarter Beethovensaal im Konzert des US-amerikanischen Pittsburgh Symphony Orchestra in der Leitung seines Chefdirigenten Manfred Honeck. Peter Tschaikowskys viel gespielte Fünfte Sinfonie erklang in einem solch geschärften, plastischen Klangbild, dass man den Eindruck hatte, bisher nur das Skelett und die äußere Haut der Sinfonie gehört zu haben, nun aber endlich einen von feinsten Äderchen durchbluteten Organismus. Dem Orchester in praller Tourneebesetzung und in deutscher Aufstellung - in der erste und zweite Violinen nicht nebeneinander, sondern sich gegenüber sitzen - gelang die vollkommene Balance zwischen Bläser- und Streicherapparat und ein absolut transparenter, glasklarer Zusammenklang. Kaum jemals wahrgenommene Neben- und Gegenstimmen, Fragen und Antworten, räumliche Effekte und farbliche Abschattierungen der musikalischen Gedanken wurden auf diese Weise plötzlich hörbar, wo sonst oft aus dichtem Streicherwald die Bläser nur blass ertönen. Und wie phänomenal sanft und leise artikulierten sich die knapp 60 Streicher beim herzergreifenden Hornsolo von William Caballero zu Beginn des Adagio!
Emotionale Durchleuchtung
Honeck, Garant für straffe Spannungsbögen, meisterhaft gestaltete Übergänge und emotionale Durchleuchtung, sorgte mit perfekt getimten Impulsen für den dramatischen Strom, in den sich selbst das immer wieder penetrant einbrechende, düstere Schicksalsthema integrierte. Dass es am Ende überraschend aufgehellt und hymnisch in strahlendem Dur erklingt, wirkt in all dem Weltschmerz meist wie ein inszenierter, erzwungener Jubel. An diesem Abend aber war es Ziel einer bis ins Detail erarbeiteten und dadurch hörbar gemachten sinfonischen Logik: So und nicht anders muss es sein.
Im Gepäck hatten die Pennsylvanier auch die naturschildernde Sinfonische Dichtung „Silent Spring“ ihres Landsmannes Steven Stucky, in der aus trägen Klangflächen Orkane entfacht werden, um dann wieder zu verdämmern.
Gershwin? Yeah!
Doch zum Publikumsliebling des Abends wurde George Gershwins Klavierkonzert, in dem der amerikanische Komponist 1925 Swing, Blues und Ragtime in die klassische Konzertform gegossen hat. Der rhythmische Drive, den das Orchester jetzt freisetzte, wurde so eindringlich, dass sich ein Zuhörer nach dem ersten Satz zum euphorisierten „Yeah“-Schrei hingerissen fühlte und sich das Publikum das verpönte Zwischen-den-Sätzen-Klatschen nicht mehr verkneifen konnte. Rudolf Buchbinder beantwortete am Flügel die federnde Lässigkeit, mit der das Orchester plötzliche Rhythmuswechsel, Broadwaysound und groovende Melodien gestaltete, mit klassischer Genauigkeit, feinen und leicht perlenden Läufen, tarantellaartigen Akkordsalven, impressionistischen Klangfarben und schuf damit eine faszinierende Gegenwelt. Dem begeisterten Publikum gelang es aber nicht, den Pianisten zu einer Zugabe zu bringen.
Rezension für dei Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 9.11.2012.
eduarda - 12. Nov, 11:26
Helmuth Rilling und das „Deutsche Requiem“ von Brahms in der Stuttgarter Liederhalle
Stuttgart - Was von einem Konzert in Erinnerung bleibt, hängt davon ab, wie sehr einen die Musik, die erklang, getroffen hat. Dass ein Zusammenhang zwischen packendem Hörerlebnis und intensiver Probenarbeit im Vorfeld der Aufführung besteht, dürfte wohl niemand bestreiten. Dementsprechend wirkte Johannes Brahms‘ „Deutsches Requiem“, das in der Abo-Reihe der Stuttgarter Bachakademie im Beethovensaal zu hören war, einfach zu wenig geprobt. So war die Erinnerung an den Abend schon beim Verlassen der Liederhalle verblasst. Man entsann sich gerade noch, dass die beteiligten Ensembles - das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart (RSO) und die Gächinger Kantorei - 75 Minuten fröhlich drauflos musiziert hatten.
Helmuth Rilling hatte den Takt angegeben, aber er blieb, was die sinfonische Modellierung und fein abgestufte dynamische Gestaltung des Orchesterparts angeht, zu passiv und setzte zu häufig auf Klangmassierung. Es mangelte an einer zielgerichteten Bündelung der Instrumentenstimmen, so dass das RSO im Klangbild unausgewogen blieb, die Blechbläserfraktion oft zu laut war, die Holzbläser im Gesamtklang verschwanden und die Instrumentensoli flüchtig dahingeworfen wirkten.
Aber auch die Gächinger Kantorei blieb überraschend blass in diesem oft so dramatischen, noch öfter archaisierenden Werk, das ein Chorstück par excellence darstellt. Die Soprane klangen in der Höhe oft leicht eingeschrillt, die einzelnen Stimmgruppen blieben in den Fugen nicht durchgängig hörbar. Insgesamt war der Chorklang zu wenig homogen, so dass gelegentlich sogar einzelne Stimmen deutlich herauszuhören waren. Vom Text, den der Komponist selbst aus Bibelworten zu den Themen Trauer und Jenseitshoffnung zusammengestellt hat, verstand man nur wenig. Vorausgegangene Detailarbeit wurde manchmal spürbar, etwa im inspiriert musizierten und von der Sopranistin Hanna-Elisabeth Müller sicher intonierten „Ihr habt nun Traurigkeit“. Vor allem aber Michael Nagys farblich differenzierende, intensiv und dramatisch gestaltende Baritonstimme offenbarte jene Überzeugungskraft, die man ansonsten vermisste.
Was man von Rillings eindringlichen Bach- und Mendelssohn-Interpretationen gewohnt ist, nämlich genau ausgearbeitete, lebendige Phrasierungen und die demonstrative Veranschaulichung musikalischer Vorgänge - an diesem Abend war davon nur wenig zu hören. Schade, denn das können auch die beteiligen Ensembles eigentlich viel, viel besser.
Rezension für dei Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 10.11.
eduarda - 12. Nov, 11:23
Kammerkonzert des Stuttgarter Staatsorchesters mit Mozart und Webern
Stuttgart - Die Gran Partita, Mozarts berühmte Bläser-Serenade, gehört zu seinen besten Werken. Anlass und Zweck der Komposition sind unbekannt, aber so manch ein Musikexperte mutmaßt, dass Mozart sie für seine eigene Hochzeit komponierte. Dafür spricht die geniale Ausgewogenheit zwischen hitverdächtiger Unterhaltsamkeit und höchstem kompositorischem Anspruch. Es sind großes solistisches Können von allen Beteiligten und ein perfekt aufeinander eingespieltes Team gefordert, wenn es darum geht, die besondere Qualität des Werks so hörbar zu machen, wie es am Mittwoch beim Kammerkonzert des Staatsorchesters im Mozartsaal der Stuttgarter Liederhalle geschah. Selten hört man die Gran Partita und ihre sieben kontrastierenden Sätze derart lebendig, berührend und mitreißend, selten so voller Poesie, Klangpracht und Farbigkeit.
In der Leitung ihres neuen Chefdirigenten Sylvain Cambreling, der plastische Dynamik und klangliche Gleichberechtigung einforderte, entfalteten sich die Einzelstimmen deutlich phrasiert und gefühlvoll, fügten sich präzise und natürlich ein ins verwobene Miteinander und verschmolzen im Tutti der 13 Instrumente zu einem warmen, dunkel schwingendenGesamtklang.
Sanft klagende Hörner und lieblich plappernde Fagotte, erdigwarme Bassetthörner, erhaben singende Oboen und empfindsame Klarinetten entfachten ein Konzert aus verschiedenen Klangfarben und Charakteren, in dem
stets Utopisches mitschwang und von der Harmonie zwischen Individuumund Kollektiv sprach.
Vor dieser prallen kompositorischen Frucht war Anton Weberns eher karge, zum aphoristischen Stil tendierende Sinfonie op. 21 erklungen, die vor allem auf Intervallspannungen und hochexpressive Gesten baut. Die neun Bläser und Streicher artikulierten dies in Ausdruck, Dynamik und Klang sehr prägnant und machten feinste Schattierungen und Farben hörbar.
Besprechung für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 9.11.2012. Das Konzert fand statt am 7.11.
eduarda - 9. Nov, 11:01
Anna Netrebko erweist sich bei der konzertanten Aufführung von Peter Tschaikowskys „Jolanta“ in der Liederhalle als ideale Titelheldin
Stuttgart - Tragisch, tragisch: Prinzessin Jolanta ist blind, weiß aber nichts davon. Ihr Vater, der König, hat seinen Hofstaat in dieser prekären Angelegenheit zum Schweigen verurteilt. So lebt Jolanta dahin in ihrer farb- und formlosen Welt, bis ein junger Herzog auftaucht, dessen Stimme sie aus ihrem mentalen Dornröschenschlaf erweckt. Ein Arzt macht sie sehend, es kann geheiratet werden.
Peter Tschaikowskys späte, hierzulande kaum bekannte Märchenoper „Jolanta“ ist offenbar Anna Netrebkos Herzensangelegenheit. Unbedingt will sie den Einakter bekannter machen. Sie hat die blinde Schöne 2009 in Baden-Baden gespielt und 2011 in Salzburg konzertant gesungen. Derzeit ist der Weltstar mit „Jolanta“, Orchester, Chor und Gesangsensemble auf einer Elf-Städte-Tour und hat nun in Stuttgart im nicht ganz ausverkauften Beethovensaal der Liederhalle Station gemacht.
Fein gemischte Gefühlspalette
Sieht man in der Blindheit der Prinzessin weniger eine körperliche Versehrtheit als vielmehr einen psychischen Zustand als Folge eines Traumas, so ist die Geschichte gar nicht so hanebüchen, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Und tatsächlich gelingt es Netrebko gerade durch ihr dunkles, mezzosopranes Timbre, die Finsternis und die Einsamkeit, in denen der König seine Tochter verharren lässt, fühlbar zu machen. Ihre warme, höhensichere Sopranstimme verkündet tief Empfundenes, Netrebko gestaltet ihre Partie sehr sorgfältig, mit fein schattierter Gefühlspalette: Bedrängnis, Angst, Unsicherheit, Desorientierung hört man ebenso heraus wie den emotionalen Durchbruch zur Liebe und die freudige Befreiung aus der Blindheit: Wenn Jolanta erstmals das Licht dieser Welt sieht, strahlt Netrebkos Stimme golden wie die Sonne. Das ist großes Ohrenkino. Man fühlt auch, dass sie es genießt, in ihrer Muttersprache zu singen. Sie artikuliert so genüsslich, so schön, dass man versteht, was sie singt, auch wenn man des Russischen nicht mächtig ist.
Unfreiwillige Komik
Für eine konzertante Aufführung, wie sie sich in der Liederhalle bot, ist Netrebko daher eine Idealbesetzung. Nur blieb man in der Darbietungsform leider etwas unentschieden. Die Solisten durften sich vor dem Orchester frei bewegen, was einerseits dynamischer wirkte als das oft übliche oratoriumsartige Nebeneinanderstehen. Andererseits führte diese Freiheit zu allerlei unfreiwilliger Komik, die der Glaubwürdigkeit des Stoffs mehr schadete als nutzte. Vor allem die männlichen Kollegen fielen auf durch exzessive Rampengestik à la Hand ans Herz und allzu arg verzweifelte Mienen. Im Falle Luka Debevec Mayer als Bertram, Pförtner des Schlosses, wirkten seltsam verdrehte und verkrampfte Posen gar so, als habe er einen Stock verschluckt. Und Anna Netrebkos auf blind getrimmte Gangart mit nach vorne gestreckten Armen erinnerte eher an eine verirrte Nachtwandlerin - und warum nur warf Jolanta mit roten und weißen Rosen um sich, während sie ihren Gästen den Wein pantomimisch anbot? Aus der szenischen Präsentation hätte man mit sehr wenigen Mitteln einiges mehr machen können.
Was die stimmliche Überzeugungskraft der neun Solo-Kollegen und -Kolleginnen betraf, in deren Gemeinschaft sich Netrebko offenbar pudelwohl fühlte, erfreute vor allem die tiefe, warme, weittragende, dynamisch fein differenzierende Bassstimme von Vitalij Kowaljow als König, der neben Netrebko der einzige war, der seine Partie wirklich unverwechselbar gestaltete. Dass Bariton Lucas Meachem als Herzog Robert in seiner Arie seine geliebte Mathilde anbetet, machte dagegen erst der Blick in die Libretto-Übersetzung deutlich. Es hätte auch ein knuspriger Schweinebraten sein können, von dem er singt. Und Tenor Sergey Skorokhodov als Jolanta-Geliebter Graf Vaudemont verfügt zwar über ein stimmmächtiges Organ und eine gute Höhe, aber eine Blinde hätte sich von einem derart draufgängerischen Schmetterton, den er mitsamt übertriebenem Herzschmerz allzu häufig an den Tag legte und dabei stets puterrot anlief, eigentlich ziemlich eingeschüchtert fühlen müssen.
Etwas matter Seelenspiegel
Unter den Frauen konnte sich vor allem Monika Bohinec als Martha mit sonorer Mezzosopranstimme profilieren. Während der Slowenische Kammerchor seiner Rolle alles in allem gerecht wurde, wirkte das Orchester der Slowenischen Philharmonie in der Leitung Emmanuel Villaumes farblich etwas blass und er- füllte seine Funktion als Seelenspiegel der Singenden zu wenig, zeigte aber immer wieder, dass es wirklich leise spielen kann.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten vom 5.11.2012. Das Konzert fand statt am 3.11.
eduarda - 5. Nov, 10:16
Die Neuen Vocalsolisten und das Ensemble Linéa Strasbourg im Stuttgarter Theaterhaus
Stuttgart - Wenn Komponisten für die sieben humorbegabten Neuen Vocalsolisten schreiben, dann darf man stets auch mit quietschvergnügtem Nonsens rechnen. So bot auch Frédéric Pattars „Nachtkreis-Fragment“ den Stuttgarter Avantgardeexperten in ihrem jüngsten Konzert im gut besuchten Theaterhaus wieder ausgiebig Gelegenheit, ihren Stimmbändern die unerhörtesten Töne abzuverlangen. Dem Stück liegt zwar ein Text von Cécile Wajsbrot zugrunde, dieser wird aber bis zur Unkenntlichkeit verfremdet und in ein polyphones Gewebe aus meckernden, grollenden, zischenden, wispernden, schnalzenden Lauten überführt, das nur gelegentlich unterbrochen wird von harmonisch, aber brüchig klingenden chorischen Passagen, grellen Pfiffen auf zwei Fingern und einem kleinen Brüll-Dialog hinter der Bühne.
Das eigentliche Ereignis des Abends stellte aber das Spiel des sechsköpfigen Instrumentalensembles Linéa Strasbourg in der Leitung von Jean Philippe Wurtz dar. Denn das Konzert fand statt innerhalb der kleinen, von Musik der Jahrhunderte veranstalteten Reihe „Neue Vocalsolisten and Friends“, in der das Gesangsseptett Ensembles und Künstler auf die Bühne bittet, die es auf seinen internationalen Konzertreisen kennengelernt hat. Und die Freunde aus Straßburg bewiesen nun, dass auch abstrakte neue Instrumentalmusik trotz scharf dissonanter Klänge und Geräuschattacken eine äußerst sinnliche und emotional bewegte Angelegenheit sein kann. Die exzellenten Musiker und Musikerinnen, die in ihrem Zugang intuitiver, gelöster wirkten als so manche deutschen Kollegen, brachten die Intervallspannungen in Gérard Griseys „Talea“ zum farbigen Vibrieren, formten plastisch die poetisch zerbrechlichen Gespinste in Gérard Pessons „Ne pas oublier coq rouge dans jour craquelé“ und stürzten sich mit Kraft und Verve hinein in die rhythmisch getakteten, von elektronischen Klängen kontrastierten Glissandopolyphonien in Aurélien Dumonts „Berceuse et des poussières“. Die so unverstellte Vertiefung in die Substanz der Musik erleichterte es den Zuhörern mehr als sonst, die neuen Klänge als eine ganz eigene, dennoch gut verständliche Sprache zu begreifen.
Hochfrequent bis grabestief
Ins ansonsten französische Programm, mit dem gleichzeitig auch 50 Jahre Städtepartnerschaft Stuttgart-Straßburg und Elysée-Vertrag gefeiert wurden, wurde ein Werk des Stuttgarter Kompositionsprofessors Caspar Johannes Walter eingebaut: „Fünf Ohren“ für Stimme und Instrumente auf Nietzsche-Lyrik. Die hochfrequenten bis grabestiefen Töne, die die Vocalsolistin Truike van der Poel genauso gekonnt formte wie extreme Vokaldehnungen und gesprochene Worte, gaben die Impulse für verschlungene Echos der Instrumente, die an den mythischen Gesang der Sirenen denken ließen, bisweilen sogar an das Heulen der rächenden Erinnyen. Die anwesenden Ohren fühlten sich davon in hohem Maße unterhalten.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 2.11.2012. Das Konzert fand statt am 30.10.
eduarda - 2. Nov, 10:08
Die Stuttgarter Schauspielschule zeigt im Wilhelma-Theater Shakespeares „Was ihr wollt“
Stuttgart - Sir Rülps und sein Saufkumpan Bleichenwang saugen Unmengen von Kokain in sich hinein, dass es nur so staubt. Der eifersüchtige Orsino gedenkt wutschnaubend, die verwirrte Viola alias Cesario mit der Axt zu erschlagen, Mobbingopfer Malvolio trägt gelbes Tütü und Brustnippelpiercing, als er Olivia zu bezirzen versucht. Es herrscht äußerste Geistesverwirrung in Shakespeares Komödie „Was ihr wollt“, die jetzt im Stuttgarter Wilhelma-Theater zu sehen ist. Der Schauspieler Samuel Weiss hat mit Schauspieleleven der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst einen rasant gespielten, pointen- und ideenreichen Theaterabend auf die Bühne gebracht.
Weiss lässt das Stück auf einer Kirmes spielen. Fünf Schiffschaukeln dienen den Figuren zum Rauschausschlafen, Turteln oder gen Himmel-Schwingen samt euphorischen Liebesbekundungen. Massen von Spirituosen lagern unter dem Bretterboden - ob leer oder voll, bleibt hier die Frage. Jedenfalls eine Anspielung auf den englischen Originaltitel „Twelfth night“, auf die zwölfte Nacht nach Weihnachten: den Dreikönigstag, der zu Shakespeares Zeiten das Finale karnevalistischer Umtriebe darstellte und auch den Rahmen, in dem „Was ihr wollt“ 1601 oder 1602 uraufgeführt wurde.
Volksfeststimmung ist angesagt
Volksfeststimmung ist also angesagt, Grenzen überschreiten, Sex oder drugs, als wär‘s das letzte Mal. Doch mit dem Sex will es nicht klappen, und statt Rock-‘n‘-Roll gibt‘s Schnulzen auf die Ohren. Die Schiffschaukeln dienen ja nicht nur als effektvolles Bühnenbild (von Ralph Zeger, der auch für die schrillen Kostüme verantwortlich ist), sondern verweisen auf den Blockbuster „Titanic“. Violas Bruder Sebastian verschwand schließlich während eines Schiffsunglücks in den Fluten -„wie Leonardo“, heult sie. Und immer wieder muss der Narr - von Marianne Jordan nicht als tragische Figur gespielt, sondern als omnipräsente Beobachterin, Straßenmusikerin und überlegene Geschäftemacherin, die Rülps mit Drogen und Alkohol versorgt - die Megaschnulze „My heart will go on“ aufs Grammophon legen oder sie selbst singen oder auf dem Cello spielen, während die anderen sich am abgedroschenen, musikalischen Gefühlskitsch aufgeilen, in Rage reden, weinerlich werden.
Weiss nutzt den karnevalistischen Hintergrund des Stücks zur Nivellierung der Standesunterschiede. Herzog Orsino (Andreas Ricci) in Willy-de-Ville-Outfit ist genauso ein unzivilisierter Proll wie Rülps. Und auch die von fast allen Männern umworbene Gräfin Olivia (Robin la Baume) verliert im Kirmes-Umfeld schnell an überlegenem Adel, zumal sie Cesario, den Liebesboten Orsinos, auch in der Öffentlichkeit hemmungslos an die Wäsche geht, wobei sie nicht weiß, dass er eigentlich Viola ist, die wiederum Orsino liebt. Violas Verwirrtheit, die das geschlechtliche Doppelleben in ihr stiftet, zeigt Lilith Häßle anrührend, das Switchen zwischen den Identitäten gelingt ihr trefflich.
Die Verkleidungskomödie treibt Weiss derweil auf die Spitze: Da sitzen Rülps und Bleichenwang auf einmal als Grantlerpaar Statler und Waldorf in der Loge und machen sich lustig über das Bühnengeschehen, als sei‘s die Muppet-Show. Und der Narr trägt plötzlich eine Totenkopfmaske und spricht wie ein Monster. Rülps freilich darf authentische Proll-Klamotten tragen und so schöne Sätze sagen wie „Wo gestern meine Leber war, ist heute eine Minibar“. Arlen Konietz spielt ihn als aufgedrehten, in Gucci-Taschen kotzenden Kokainschnupfer. Bleichenwang alias Julius Forster in Leggings, blauen Westernstiefeln und brokatener Torrero-Jacke hat den akrobatischsten Job zu erledigen und lässt sich virtuos und melancholisch die Treppe hinunter- und von der Bühne fallen. Der schöne Feigling weiß nicht so recht, ob er Rülps oder Olivia lieben soll. Forster verleiht seiner Tumbheit auch im witzig vorgetragenen Big-Brother-Zlatko-Song „Ich bin nicht Shakespeare oder Einstein“ überzeugend Gestalt.
Eine tragische Figur bleibt vor allem Malvolio, der ordnungsfanatische Hausmeister. Daniel Friedl stellt ihn als rotbackigen Choleriker dar, der stets kurz vor dem Herzinfarkt steht. Seine brüllenden Unverschämtheiten und Handgreiflichkeiten werden ihm zum Verhängnis, als die gedemütigte Maria (Alrun Herbing) sich kokaingestärkt an ihm rächt und ihn in die Liebesfalle lockt. Er endet als armseliges, verprügeltes Häufchen Elend, mit blutiger Brustwarze und verrutschten Strumpfbändern.
Rache am „Schauspielerpack“
Anders als im Original finden im Wilhelma-Theater am Ende keine Paare zusammen. Dem aufgedrehten, klamaukischen Trubel und fruchtlosen verwirrenden Liebestreiben folgt der große Kater. Plötzlich ist man wieder einsam und greift auf dämmriger Bühne zu Gitarre und Akkordeon, um gemeinsam ein letztes Mal, jetzt müde und traurig, das unvermeidliche „My heart will go on“ zu zelebrieren. Doch dann erscheint Malvolio, um endlich Rache zu üben am „Schauspielerpack“. Und was tut er? Er packt tatsächlich die Blockflöte aus und spielt das von allen so gehasste, penetrante Tin-Whistle-Solo des Originals. Und alle fliehen.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 24.10.2012. Premiere war am 20.10.
eduarda - 24. Okt, 10:01
Die Russische Staatskapelle Moskau und die Pianistin Olga Scheps in der Stuttgarter Liederhalle
Stuttgart - Ein Mann fürs Filigrane ist Valery Poliansky nicht. Der Russe mit dem starken Nacken pflegt einen zupackenden Dirigierstil, wie sich jetzt beim Konzert der Russischen Staatskapelle Moskau im vollbesetzten Stuttgarter Beethovensaal zeigte. Die „Seelenbeichte“, mit der Tschaikowsky in seiner Vierten Sinfonie die „Macht des Schicksals“ in Töne zu fassen gedachte, scheint für Poliansky albernes Geschwätz eines Hypersensiblen zu sein. Tschaikowsky soll sich mal nicht so haben, mag er denken. So prescht das Schicksal in streng geschliffener Streicherformation vorwärts und ist dank seiner kompakten Griffigkeit auch schnell wieder beiseitegeräumt. Da gibt es nichts zu „überwinden“.
Die Musik, die laut Tschaikowsky durch ihre gewaltigen Ausdrucksmittel und ihre feine Sprache die Fähigkeit besitzt, „um tausend verschiedene Gemütsbewegungen auszudrücken“, gerät unter Polianskys wuchtigen Bewegungen zu einem atemlosen, immer wieder die Hörnerven attackierenden Fluss aus lärmendem Bombast und eisigen Steigerungswellen, die angeführt werden von hart und zackig gestrichenen Streicherbögen. Nur gelegentlich kontrastiert wird das mit überraschend leisen Passagen seufzender Traurigkeit. Aber selbst am Andantino beißt man sich nicht lange fest. Keine Atempause, Tempo wird gemacht. Von den Bläsern, ob Holz oder Blech, ist meist nur etwa zu hören, wenn sie in kammermusikalisch instrumentierten Passagen dem witzig-quirligen Scherzo-Ton frönen. Ansonsten dominieren Streicherschmelz und Streicherdoppelfeuer. Vor allem im Finale Allegro con fuoco: In schwindelerregendem Zeitmaß rasen die Russen durch die Takte, angepeitscht vom kraftvollen Armrudern ihres Chefdirigenten, und das mit einer fast unheimlich wirkenden Präzision, die auch die souveräne Routine des Repertoirestücks verrät.
Befremdend und aufdringlich mutet dieses sinfonische Naturereignis an in seiner oft grell-brutalen und penetrant maschinellen Diktion. Und doch wird dieser Abend in seiner ganzen Wucht wohl länger in Erinnerung bleiben, als so manch andere, feinsinnigere Tschaikowsky-Deutung.
Zudem kam dieser Stil, der musikalischem Kitsch per se nicht zuneigt, dem zuvor gespielten Zweiten Klavierkonzert von Sergei Rachmaninow durchaus zugute. Der Klassikhit, dessen viele „schöne Stellen“ schon so manchen Klavierlöwen und auch Maestro zu rubatierenden Herzensergüssen und verträumten Sentimentalitäten verführten, zeigte dem Publikum in dieser Hinsicht die kalte Schalter. Die junge deutsch-russische Pianistin Olga Scheps, Echo-Preisträgerin von 2010, folgte dem enorm schwungvollen, energiegeladenen und klanglich saftigen Zugriff Polianskys und der Moskauer Musiker souverän und ohne in den virtuos vertrackten Passagen in Hetze zu geraten. Scheps, gekleidet in ein knallrotes Abendkleid, beherrscht das anspruchsvolle Konzert, keine Frage, und sie konnte sich im Kopfsatz kraftvoll gegen den dominierenden Klangbombast der Streicher, unter dem alle Bläserstimmen erblassten, problemlos durchsetzen. Sie verfügt auch über eine differenzierte Farbpalette poetischer Ausdrucksnuancen, weswegen ihr trockener, sehr direkter Ton, den sie im Adagio an den Tag legte, interpretatorisch überraschte - während das Orchester in diesem nur dezent instrumentierten Satz endlich einmal zeigen durfte, dass es auch warm, weich und ungemein seelenvoll phrasieren kann.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 17. Oktober 2012.
eduarda - 19. Okt, 14:02
Othello – An der Württembergischen Landesbühne Esslingen in den Wahnsinn getrieben von Manuel Soubeyrand
Esslingen - Sein erster Auftritt lässt an afrikanische Diktatoren denken: Othello trägt korrekte weiße Uniform, Sonnenbrille, die Jacke voll mit Orden. Ein Unangreifbarer, selbstbewusst und stark. Ein erfolgreicher Militär. Wortgewandt und cool kontert er jeden Angriff vor Gericht: Magie sei für seine Liaison mit Desdemona verantwortlich? Lächerlich! Was braucht er Zauber, um ihr Herz zu kapern?
Othellos Wandlung, sein Verfall, geht dann recht massiv vonstatten in Manuel Soubeyrands Inszenierung an der Württembergischen Landesbühne Esslingen (WLB). Sein letzter Auftritt zeigt ihn ohne jede Maske: Die schwarze Schminke ist zerronnen, die Latexglatze hat er sich vom Kopf gerissen, mit wirren Haaren, nacktem Oberkörper – verschwitzt, verschmiert – hockt er auf Desdemona, reißt ihren Kopf nach hinten. Was ist aus ihm geworden? Ganz Mensch in diesem Umfeld, heißt: ganz Barbar, ein Mörder – der schönen, treuen Desdemona, liebend ihm ergeben, hat er das Genick gebrochen. Bevor er sich selbst die Kehle durchschneidet, als er hört, wie sehr er irrte. Mit der Schminke schmolz auch die Gelassenheit und Selbstsicherheit, die Fähnrich Jago ihm nahm, in dem er fiese Intrigen spann und Othello – bald von Eifersucht zerfressen – den Floh von der Untreue Desdemonas ins Ohr setzte. Jago hatte es nicht verdauen können, dass Othello Cassio zum Leutnant befördert hat statt seiner. Das war alles. Dafür hasst er "diesen Mooooohren", wie er abfällig nölt. Dafür rächt er sich. Deshalb sterben am Ende vier Menschen.
Spiel mit Schwarz- und Weißmalerei
Die Blackfacing-Debatte wird im Programmheft reflektiert. Dramaturg Matthias Göttfert argumentiert mit Ulf Schmidt: "Othello einfach von einem ungeschminkten Weißen spielen zu lassen ginge ebensowenig, wie den Darsteller wochenlang ins Solarium zu schicken. Und im Grunde ginge es auch nicht, just den Othello mit einem Schwarzen zu besetzen, weil dann auch noch eine biologistische Dimension ins Spiel komme." So entschied man sich in Esslingen, die "Andersartigkeit der Titelfigur" in alter Othello-Tradition deutlich zu machen, auf schwarze Schminke nicht zu verzichten. Doch bleibt man nicht dabei: Othellos Maskerade bröckelt im selben Maße wie er den Verstand verliert und seine Selbstbeherrschung. Am Ende ist er weder schwarz noch weiß.
Mit Schwarz- und Weißmalerei wird ohnehin ironisch gespielt: Erich Frieds Übersetzung tut das auch sprachlich, da redet der Maure gerne "ungeschminkt", also frei heraus. Auf der Bühne kriegt Desdemona (Nora Backhaus) Schokoeis von Zofe Emilia (Nadine Ehrenreich), die derweil Vanille lutscht. Und Othello färbt ab. Der Schweiß löst Farbpigmente, sein Knutschen mit Desdemona hinterlässt dunkle Spuren in ihrem Angesicht. Sie wird vor Liebe schwarz.
Die Inszenierung von WLB-Intendant Soubeyrand macht das alte Drama durch ein bisschen Boulevardisierung geschmeidiger – durch Übertreibung wird es komischer, was vor allem Frank Ehrhardt als Rodrigo exzellent umzusetzen weiß: Als Jagos willfähriger, heulsusiger Lakai in rotem Trainingsanzug und Badeschlappen steht er pausenlos unter Strom wie ein junger, hechelnder Kampfhund an der Kette, den man leicht reizen kann. Mit Nils Thorben Bartling hat Soubeyrand einen trefflichen Othello gefunden, der die Wandlung vom Liebenden über den Zweifelnden hin zum mörderischen Eifersüchtigen minutiös und damit glaubwürdig aufbaut. Der kräftige, gut gebaute große Mann spielt den Othello leicht beschränkt und körperbetont, als einen, der in psychologischen Stresssituationen schnell überfordert ist und dann mit unterdrücktem Wutatem Kraftgymnastik treibt oder den Lotussitz übt, während ihm der böse Jago die unglaublichsten Lügen für bare Münze verkauft.
Kasernenton und Eiseskälte
Jago dagegen ist mit Dietrich Schulz nicht ganz glücklich besetzt. Zu wenig differenziert spielt er den uniformierten Intriganten, zu monochrom, zu bieder: Latent gewalttätig zwar, aber vor allem cholerische Anfälle à la Gernot Hassknecht und überbedeutungsvolles Artikulieren sind seine Ausdrucksformen. Zu wenig, um diesen Fiesling wirklich zu durchleuchten. Dagegen hat man selten eine derart genau und brillant gespielte Travestie gesehen: Beatrice Bocas Cassio, der wie fast jeder auf der Bühne Jagos Opfer ist, zeigt einen zwischen Unsicherheit, militärischem Drill und einem überwältigenden Aggressionspotential hin und her geworfenen jungen Mann.
Soubeyrand fokussiert Shakespeares Drama auf Jagos tödliche Machenschaften, aus denen es für seine Opfer kein Entrinnen gibt. Im Bühnenbild von Michaela Springer sitzen sie wie in der Falle. Jago steht am Rand und schaut auf sie hinunter, wie sie sich vergiftet durch die Lüge bekämpfen: in dem schmierigen, hellgrün gefliesten, schwimmbeckenartigen Raum, aus dem man nur über eine Leiter oder kriechend durch vergitterte Gänge entkommen oder eintreten kann. Es herrschen Kasernenton und Eiseskälte, und mit der Waffe ist man schnell zur Hand. Eine Atmosphäre, die verrohen lässt. Und der Renate Winkler am E-Piano immer wieder musikalische Traumgespinste aus fernen Zeiten und zärtliche Shakespeare-Sonette entgegensetzen kann. Als utopische Poesie in all der Ausweglosigkeit und Finsternis.
Besprechung vom 12. Oktober 2012 für nachtkritik.de. Premiere war am 11. Oktober.
eduarda - 13. Okt, 13:49
Späte Uraufführung der Oper „La Tisbe“ von Giuseppe Antonio Brescianello mit dem Ensemble Il gusto barocco im Stuttgarter Mozartsaal
Stuttgart - Eine Brescianello-Straße gibt es nicht in Stuttgart, auch keinen Brescianello-Platz. Der italienische Komponist, der von 1717 bis 1737 und dann noch einmal von 1744 bis 1755 Oberkapellmeister am Stuttgarter Hof war, hat hier keine Spuren hinterlassen. Immerhin überlebte seine einzige, nie aufgeführte pastorale Oper „La Tisbe“ von 1718 in den Archiven der Württembergischen Landesbibliothek. Dort wurde sie vor zwei Jahren von Jörg Halubek entdeckt. Der 35-Jährige, Professor für historische Tasteninstrumente und Aufführungspraxis an der Stuttgarter Musikhochschule, brachte „La Tisbe“ jetzt gemeinsam mit seinem Ensemble Il gusto barocco und Gesangssolisten konzertant im Mozart-Saal zur Uraufführung.
Nun ist Halubek nicht Harnoncourt, und Brescaniello war nicht Händel. Aber der dreistündige Abend bot doch viel schöne Barockmusik, auch die eine oder andere Koloratur- oder Wut- arie. „La Tisbe“ besticht vor allem durch melodische und harmonische Einfachheit, nicht durch dramatisch ausladende Gesangsnummern. Nach 90 Minuten begannen denn auch trockene Rezitative und ariose Dacapos zu ermüden. Brescianello verzichtete in seiner Schäferoper auf einen Kontraste schaffenden Chor, lediglich vier Protagonisten sind am Geschehen beteiligt.
Als Librettovorlage diente die in Ovids „Metamorphosen“ überlieferte Sage von Pyramus und Thisbe - von Shakespeare im „Sommernachtstraum“ parodiert und in „Romeo und Julia“ adaptiert. Einzig der bereits satte Löwe sorgt in der Oper für ein bisschen Spannung, weil seine Anwesenheit die verboten sich Liebenden zu unreflektierten Handlungen veranlasst - was sie im Original in den Selbstmord treibt, bei Brescianello aber glücklich werden lässt. Nur der intrigante Alceste und die Schäferin Licori, die Alceste liebt, der es aber auf Tisbe abgesehen hat, stehen dem Paar auf der Bühne zur Seite. Richtig viel passiert da nicht, außer Phrasen wie „Liebe ist Narrheit, wenn man liebend leidet“ haben sich die vier nicht viel zu sagen.
Dem auf Barockinstrumenten musizierenden Ensemble Il gusto barocco war es vor allem zu verdanken, dass der Abend nicht in Gleichförmigkeit erstarrte. Hochkonzentriert bis zum Schluss, mit rhythmischem Drive und lebendiger Phrasierung hielt das Ensemble die Ohren wach und sorgte mit lustig schmetternden Jagdhörnern, fröhlich tirilierenden Blockflöten und sonor singendem Cello für so manchen musikalischen Höhepunkt. Nina Bernsteiner sang die Tisbe leidenschaftlich, mit farbenreichem Sopran, Tenor Julius Pfeiffer verlieh dem Pyramus eine schöne, aber etwas zu leise Stimme, während Bass Matteo Bellotto als Alceste ein wenig monochrom und am Geschehen unbeteiligt wirkte. Dagegen überzeugte Altus Flavio Ferri-Benedetti als Licori mehr durch die komödiantische Ausgestaltung der Travestie-Rolle denn durch sauberes Intonieren von Koloraturen.
Besprechung für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 2. Oktober 2012. Premiere war am 30. September.
eduarda - 4. Okt, 13:43
Sandrine Hutinet stellt auf der Esslinger Landesbühne Fontanes „Effi Briest“ in den gesellschaftlich luftleeren Raum
Esslingen - Schon wieder ein Roman auf der Bühne. Schon wieder „Effi Briest“, derzeit deutschlandweit beliebtes Adaptionsopfer, wenn es darum geht, mit Hilfe von Lehrplanthemen die Theater zu füllen. Deshalb wohl wird nun auch die Esslinger Landesbühne (WLB) fontanisiert. Wieder wird ein berühmter Roman auf sein Handlungsskelett reduziert, einzelne Charaktere - hier etwa die Kinderfrau Roswitha oder der Apotheker Gieshübler - werden bis zur Unkenntlichkeit zusammengestrichen, Dialoge zusammengepresst auf theatertaugliche Länge und der Stoff auf Teufel komm raus in die heutige Zeit katapultiert.
Warum gerade Fontanes ausschweifender Erzählstil ins Dramatische gebogen werden muss, befremdet, stellt er doch durch seine detaillierten, minuziösen Beschreibungen von Personen, ihrem Verhalten und ihrer Umgebung das genaue Gegenteil vom theatralischen Geist dar. Bei Fontane bedeutet das „wie“ oft mehr als das „was“, das seine Personage von sich gibt. Aber Letzteres ist für die Bühne eben das eigentlich Verwertbare.
Der Abend der Hauptdarstellerin
In der Inszenierung von Sandrine Hutinet, die „Effi Briest“ selbst umgeschrieben hat, ist Fontane fern. Sehr fern. Zunächst sei gesagt, dass es ein durchaus unterhaltsamer, kurzweiliger Abend geworden ist. Manchmal etwas albern in der Darstellung etwa der Briest-Eltern (gespielt von Nikolaos Elftheriadis und Kristin Göpfert), manchmal arg heulsusig in den hysterischen Ausbrüchen der Titelheldin. Aber langweilig nicht. Zweieinhalb Stunden legt sich die Hauptdarstellerin Lara Beckmann mit Haut und Haaren ins Zeug, um Effi Briest in einer bewusst aufdringlichen Mischung aus Gretchen, Heike Makatsch und Lolita lebendig werden zu lassen: Eine nervtötende Kindfrau, unreflektiert, naiv, ungebildet, ausgestattet mit einem Hang zu Gefühlsausbrüchen, zur Liebe aber lange noch nicht reif genug, wenn überhaupt fähig, bemitleidenswert allenfalls in ihrer Hilflosigkeit dem eigenen Unvermögen und dem ihres Mannes gegenüber. Lara Beckmann spielt das wahrhaftig und echt, und sie wird dafür am Ende vom begeisterten Publikum bejubelt. Es ist ihr Abend.
Wie im Roman wird die 17-jährige Effi auch in Hutinets Inszenierung von ihren Eltern an den gut situierten Beamten und über 20 Jahre älteren Baron Geert von Innstetten verheiratet. Eine gute Partie, denken sie sich. Effi zieht aus dem Kindheitsparadies auf Innstettens modriges Gut in einem verschlafenen Nest namens Kessin und wird dort mit ihrer inneren Leere konfrontiert. Denn der Mann ist immer auf Arbeit, im Ort ist nichts los, dazu lauert die gouvernantenhafte Bedienstete Johanna beständig hinter den Gardinen. Da kriegen die Wände Ohren, und die Nacht wird gesprächig. Im Hause Innstettens spukt es. Ein vor einiger Zeit verstorbener Chinese erscheint Effi im Alptraum und in der Realität. Die einsame Nacht gebiert Ungeheuer.
Die Ehe mit Innstetten bleibt körperlos. Wie das Kind gezeugt wurde, das Effi zur Welt bringt, bleibt ein Rätsel. Ralph Hönicke spielt den Innstetten als ungeheuer steifen, unsinnlichen, todlangweiligen Krawattenträger in dunklem Anzug, einer jener unangenehmen Menschen, die stets plötzlich in der Türe stehen, einen dadurch erschrecken und genauso schnell wieder verschwinden.
Dass sich Effi irgendwann aus Langeweile auf ein erotisches Abenteuer mit dem attraktiven dichtenden Major Crampas (Matthias Zajgier) einlässt, ist mehr als verständlich. Unverständlich bleiben Effis Schuldgefühle, die sie später dazu bringen, Innstetten die gesammelten Liebesbriefe Crampas‘ vor die Nase zu legen - nach dem beruflich bedingten Umzug der Eheleute nach Berlin, als die Affäre längst Geschichte ist. Unverständlich bleibt das, weil Sandrine Hutinet Fontanes radikale Kritik an gesellschaftlichen Konventionen einfach unter den Tisch fallen lässt, sein preußisches Sittenbild aus dem späten 19. Jahrhundert auf ein heutiges Ehedrama reduziert, das sich im gesellschaftlich luftleeren Raum abspielt. Wovon sich die Schuldgefühle Effis speisen, erklärt sich nicht. Und warum Innstetten dann, als er vom Fremdgang seiner Gattin erfahren hat, Effi verstößt, das Kind aber behält, zur Waffe greift und den Ex-Liebhaber erschießt, wo er doch eigentlich geneigt war, seiner „süßen, kleinen“ Effi zu verzeihen: Das bleibt ebenso wenig nachvollziehbar.
Effekte à la Hitchcock
Statt Gesellschaftsanalyse setzt Hutinet auf psychodramatische Effekte à la Hitchcock. Heftig wölben sich die überlangen Gardinen im Wind, die den quadratischen, kastenförmigen Raum des Bühnenbilds von Nicolaus-Johannes Heyse einrahmen. Eine geisterhafte Hand greift als Videoprojektion nach Effi, Blitze fahren in die Szene, elektronisch erzeugte Spukgeräusche lassen Thrilleratmosphäre aufkommen. Alles, um die Alpträume Effis möglichst plastisch zu machen. Immer wieder. Und lange bleibt offen, ob der gefühlskalte Ehemann nicht der Urheber dieses Spektakels ist - um seine hilflose Gattin in den Wahnsinn zu treiben, warum auch immer.
Fällt der gesellschaftliche Zwang als Motor für eigentlich überflüssige Handlungen aus, bleibt von Fontanes klarer Charakterzeichnung nicht mehr viel übrig. Der finale Nervenzusammenbruch Effi Briests - ihren Bühnen-Tod spart Hutinet zum Glück aus - zeigt das ganz deutlich: Im ganzen Müll, den sie sich von der Seele schreit, prangert Effi auch die Verlogenheit der Gesellschaft an, ihre Scheinmoral, ihre Zwangsnormen vorgeblicher Tugendhaftigkeit. Aber genau dieser Aspekt spielte an diesem Abend überhaupt keine Rolle. Auch weil Effis Eltern in Hutinets Fassung eigentlich ganz nette, sympathische Leute sind, die gerne mal verliebt herumturteln und Federball spielen.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 29. September 2012. Premiere war am 27. September.
eduarda - 30. Sep, 13:37
SWR-Rundfunkrat beschließt Orchesterfusion
Mainz/Stuttgart/Freiburg - Der barbarische Plan ist erwartungsgemäß Realität geworden: Die Fusion der beiden SWR-Orchester ist jetzt beschlossene Sache. In Baden-Württemberg soll es künftig nur noch ein Rundfunkorchester geben. Der Rundfunkrat, das oberste Gremium des Südwestrundfunks, beschloss gestern in Mainz mit deutlicher Mehrheit die Fusion des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart und des Sinfonieorchesters Baden-Baden/Freiburg. Der Standort des zukünftigen Orchesters ist wie so vieles andere noch unklar. Die Zwangsvereinigung soll 2016 eingeleitet werden und fünf Millionen Euro pro Jahr einsparen. Damit entschied sich der Sender gegen den Erhalt zweier bestens aufgestellter Spitzenorchester und vernachlässigt auf diese Weise weiter seinen Programmauftrag kultureller Vermittlung zugunsten von Mehrheitsfähigkeit und Quoten.
Der SWR hat sich zwar verpflichtet, keine Musiker zu entlassen. Der Abschmelzungsprozess wird durch Abgänge wie Ruhestand und Wegbewerbungen am Laufen gehalten. Der Aufbau und die Entwicklung hin zu einem neuen aufeinandereingespielten, perfekt harmonisierenden "Super-Orchester", von dem die Verantwortlichen reden, dürften aber Jahre in Anspruch nehmen.
Die Fusionsentscheidung entspricht der allgemeinen Tendenz in Deutschland zum Kulturabbau im Zeichen eines geistfernen, kapitalistisch motivierten Quoten- und Leistungsdenkens. Für die Orchesterszene heißt das: In den letzten 20 Jahren wurden von 168 Orchestern 37 abgewickelt oder fusioniert. Kulturzerstörungen, die sich niemals wieder rückbilden lassen.
Stimmen von Kollegen:
Lesen Sie
hier (www.nmz.de) den aufschlussreichen Bericht von
Juan Martin Koch zum Ablauf der SWR-Rundfunkratssitzung im Mainzer Kurfürstlichen Schloss.
Die Folgen des Beschlusses seien "schlicht barbarisch", kommentiert
Martin Mezger heute in der Eßlinger Zeitung, aber sie seien nicht dem SWR allein anzulasten: "Dass im reichen Baden-Württemberg die beiden einzigen Weltklasse-Orchester des Landes nicht in bisheriger Form erhalten werden, geht auf die gemeinsame Verantwortung von Land, Städten und Sender. Denn längst sind die in der Frühzeit des Rundfunks entstandenen Orchester keine bloßen Lieferanten mehr fürs sendereigene Schallarchiv, sondern regionale Kulturträger mit globaler Ausstrahlung. Es ist ein jahrzehntealtes Versäumnis, für diesen Sachverhalt keine entsprechenden Trägerstrukturen geschaffen zu haben. Die Fusion ist die Quittung." Deren Folgen dürften "die Spitzenleistungen zweier Spitzenorchester kappen". Das entstehende Fusionsorchester tilge die jeweils durchaus unterschiedlichen Traditionen der beiden Klangkörper, zudem werde das Spar- und Fusionsziel nur durch Personalreduzierung erreicht: "Frei werdende Musikerstellen werden auf lange Zeit nicht neu besetzt. Die Konsequenz ist eine Überalterung hinter den Notenpulten, verschärft noch durch die Gefahr, dass gerade die besten Musiker von anderen Orchestern abgeworben werden."
Götz Thieme schreibt heute in der Stuttgarter Zeitung: "Wieder werden in Deutschland zwei Orchester zwangsfusioniert. Zuletzt ist die Neue Elbland Philharmonie in Riesa mit dem Orchester der Landesbühnen Sachsen in Radebeul unter Verlust von Musikerstellen zusammengelegt worden. Und wie fragwürdig diese Entscheidung auch immer gewesen sein mag - sie ist nichts gegen die Stuttgarter Untat, die ein ganz anderes Kaliber hat. Es steht zu befürchten, dass mit dem gestrigen Votum der musik- und rundfunkpolitische Sündenfall eingetreten ist, der Nachahmer auf den Plan rufen wird.
Das Musikland Baden-Württemberg, das in der Fläche nach wie vor eine hervorragende Förderung bietet - man denke allein an die fünf Musikhochschulen, die vielen Musikschulen, die Popakademie, die Spitzenplätze beim Wettbewerb 'Jugend musiziert' -, verliert zwei erstklassige, ja, es verliert seine besten Orchester. Denn wie in zwanzig, fünfundzwanzig Jahren der aus beiden gebildete Klangkörper tatsächlich klingen wird, weiß keiner."
eduarda - 29. Sep, 11:31