Sonntag, 14. April 2013

Finales Schwadronieren

"Die Revolver der Überschüsse" – Ein neues Stück von René Pollesch von ihm selbst in Stuttgart uraufgeführt

Stuttgart - Im neuen Pollesch spielt eine Drehbühne mit. Mal zickt sie herum, mal kreist sie elegant um sich selbst. Eine echte Diva eben. In der Interimsspielstätte Nord des Staatsschauspiels Stuttgart, wo dieser neue Pollesch "Die Revolver der Überschüsse" jetzt uraufgeführt wurde, ist das ein guter Witz: "Wir können nicht bei jeder Krise einfach nur ins Theater gehen." Nee, geht in Stuttgart bald wirklich nicht mehr: Die Sanierung des Schauspielhauses zieht sich hin, weil die neue Drehbühne noch immer stottert. Weil ein Spielort fehlt, wird die laufende Saison demnächst abgebrochen, der Beginn der kommenden ist gefährdet.

Und sie dreht sich doch nicht! (Foto: Sonja Rothweiler)

In der Wortwurfmaschine

Im neuen Pollesch verunsichert die durchgedrehte Drehbühne ein Theaterensemble, das "mal was über die Dauer der Liebe" zu machen gedenkt, aber polleschgemäß in der Diskursfalle landet. Das Stück kommt nicht zustande, stattdessen läuft die Pollesch'sche Wortwurfmaschinerie aus Zitaten, Thesen und Eigenreflektionen an, die vom rollenkonturfreien Darstellerquartett unter artikulationsvirtuosem Hochdruck dauerbefeuert wird. Diesmal werden Adorno und Foucault verbraten, ebenso das Buch "Wofür es sich zu leben lohnt", aus dem der Titel stammt und in dem der österreichische Philosoph Robert Pfaller zu mehr Genuss und Lebensfreude auffordert: Ein Leben, welches das Leben nicht riskieren wolle, so Pfaller, beginne schließlich unweigerlich, dem Tod zu gleichen.

Das finale Schwadronieren über den Tod dürfte dann auch das Highlight des Abends sein: Auf Betten hinter der Kulisse dösend, flüstert man ins Mikro und in die Kamera so schöne Sätze wie Adornos "Der Tod ist das Stumpfeste und Geistloseste, was sich denken lässt. Er sorgt dafür, dass kein Gedanke je ganz ausgeschöpft werden kann und keine Liebe denkbar ist". Keine Utopie also ohne die Abschaffung des Todes, wird von der Leinwand hinunter gemutmaßt – mit schwer suggestiver Wirkung.

"Wir verpulvern gerade eure Subventionen!"


Derweil ging es in der vorangegangenen Stunde neben der einzig wahren Liebe, die "keine Exe" kennt, um Foucaults Begriff der Heterotopie: realisierte Utopien in Gestalt institutioneller Orte, die gesellschaftliche Verhältnisse reflektieren, indem sie sie repräsentieren, negieren oder umkehren. Räume, die einem ständigen Bedeutungswandel unterliegen. "Selbst dass sich zwei Päpste treffen ist derzeit kein Witz mehr. Der Katholizismus kennt keinen Ex-Papst. Aber jetzt ist alles anders", wird humort. Wie der Vatikan so auch das Theater und in diesem besonderen Fall sinnbildlich seine Drehbühne.

In der Wiederholungsschleife landet die Geschichte vom Gastspiel in der Stuttgarter Mehrzweckhalle, wo sich die Drehbühne nicht mehr stoppen und die verwirrten Schauspieler ihre Auftrittsorte nicht mehr finden ließ. Natürlich ist mit der Bühne "in der Art der russischen Konstruktivisten" diese im Nord respektive die noch utopische im unfertigen Schauspielhaus gemeint.

Da capo der Langeweile

Als Gelegenheitsarbeit über die derzeitige Stuttgarter Theaterkatastrophe unterhält der Abend durchaus. "Wir verpulvern gerade eure Subventionen", heißt es, während Pollesch Denken verpulvert und seine Darsteller gelenkig von der rotierenden Bühne ab- und wieder aufspringen oder durchs Gestrüpp der Ausstattung aus bunten geometrischen Sperrholzobjekten, Wohnzimmerschrankwand und stylischer Betten stolpern und turnen lässt.

Aber das äußerlich hyperaktive Theater, das mit kindlichem Spaß immer und immer wieder minutenlang die aktionsfreie Drehbühne zu dröhnenden Popklängen kreisen lässt – mal zu abgestandenen wie Fleetwood Macs "Big love", mal zu subtileren wie Andreas Doraus House-Groove-Nummer "Abteistraße" – gerät immer mehr zum Da capo der Langeweile und lässt vermuten, dass hier Zeit geschunden wurde. Silja Bächli, Inga Busch, Christian Brey und Lilly Marie Tschörtner als die vier Artikulationsvirtuosen sind freilich ein echtes Vergnügen, der Applaus am Ende dementsprechend herzlich.

Besprechung für www.nachtkritik.de. Die Premiere fand statt am 12. April 2013.

Donnerstag, 11. April 2013

Schlag auf Schlag

Der Multiperkussionist Martin Grubinger und Freunde in der Stuttgarter Liederhalle

Martin Grubinger (Foto: Promo)

Stuttgart – Klassikstars wirken in der Regel bierernst und scheinen oft eher von ihrem hohem Arbeitsethos getrieben als vom Spaß an der Sache. Bei Martin Grubinger, der als derzeit berühmtester Schlagzeuger die Musentempel und großen Festivals dieser Welt bereist, ist das anders. Wenn der Österreicher auf die Bühne springt, wirkt das so, als habe er seit Tagen und Nächten sehnsüchtig nur auf diesen einen lustvollen Moment gewartet. Im gut besuchten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle, wo der 29-Jährige jetzt mit befreundeten Musikern in einem reinen Schlagzeugprogramm seine Kunst zeigte, verkündete er nach fast jedem Stück schwitzend, nach Luft schnappend und mit leuchtenden Augen: "Mensch, hat das Spaß gemacht!"

Wie viel Arbeit hinter seiner Trommelkunst steht, in der er zigtausend Bewegungsabläufe koordinieren muss, kann man nur erahnen. Die dicke Hornhaut an den Händen, die Schwielen und Blasen, die von oft zehnstündigem Üben am Tag künden, sieht das Publikum nicht. Wer aber ganz genau hinschaut, kann das eine oder andere Pflaster erkennen.

Grubinger beginnt sein Programm in Stuttgart nicht mit Trommeldonner, sondern samtpfötig. Mit Andrew Thomas' "Merlin" für Marimba solo, aus der vor allem geheimnisvoll flüsternde und sakrale Klänge dampfen. So leise bearbeitet er die Holzklangstäbe mit vier Schlägeln, dass selbst lautes Atmen im Publikum zum Störfaktor wird. Extrovertiert geht es dagegen in Maki Ishiis "Thirteen Drums" zur Sache: eruptiv, von Wirbelattacken und harten Akzenten durchzuckt. Jetzt bearbeitet Grubinger Congas und andere afrikanische Trommeln. Ein Multiperkussionist spielt eben Tausende Instrumente. Wie ein Parcours wirkt die Bühne, die flächendeckend große bis winzige Schlaginstrumente – gruppiert in Inseln – bevölkern.

In Avman Dormans "Udacrep Akubrad" gibt es im Duo mit dem Perkussionisten Manuel Hofstätter vitale Marimba-Melodien im Klezmerstil auf die Ohren, kombiniert mit prasselnden Darbuka-Rhythmen, später Schlagwerkekstase und Marimbawispern per Handschlag. In Keiko Abes "The wave" sorgt das vierköpfige Perkussionensemble für einen Klangteppich aus ratternden Rhythmen, auf dem der Star Schlägel über die Marimba tanzen lässt, oder man schichtet gemeinsam Klangflächen.

Grubinger, der auch pfiffig durchs Programm führt, liegt Iannis Xenakis' "Pleiades" sichtbar am Herzen: Ein raffiniert mathematisch ausgetüfteltes Werk, in dem Klicktracks in den Ohren der sechs beteiligten Perkussionisten dafür sorgen, dass das Unisono-Trommeln in scheinbares Chaos auseinanderdriften und wieder zueinanderfinden kann. Grubinger hat neben seinen Kollegen Slavik Stakhov, Manuel Hofstätter, Sabine Pyrker und Rainer Furthner nun auch seinen trommelnden Vater auf die Bühne geholt, der seine Tourneen stets begleitet.

Längst ist das Publikum euphorisiert und jubelt, vom Spaß und von der Ekstase auf der Bühne angesteckt. In Carlos Jobims "Chega de Saudade" zeigt der Klassikstar auf dem Vibraphon, dass er auch Jazz kann, während Heiko Jung das Ensemble mit E-Bass-Klängen bereichert und Ismael Barrios Orozco auf der kistenartigen Cajon für brasilianisches Flair sorgt. In Matthias Schmitts "Ghanaia" schließlich bringt der Westafrikaner Louis Sanou sein exotisches Balafon zum Singen, und Vögel zwitschern, und Regen rauscht. Die Welt des Schlagwerks ist eben groß, fast scheint sie an diesem Abend unendlich.

Rezension für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 9. April 2013.

Dienstag, 9. April 2013

Die einzig wahre Frühlingssinfonie

Sylvain Cambreling und das Stuttgarter Staatsorchester mit Werken von Liszt, Schumann und Zender

Stuttgart – Dass Robert Schumanns dritte, eigentlich vierte Sinfonie die "Rheinische" heißt, und nicht wie seine erste nach dem Frühling benannt ist, geht aufs Konto der Rezipienten. Unbedingt stimmig sind die Beinamen nicht, die wie die meisten ihrer Art der Sehnsucht des Publikums entsprangen, Schall und Hauch fassbar zu machen. Von Schumann wurden die beiden Werke jedenfalls nicht so getauft. Die Euphorie aber, die die "Rheinische" am Sonntagmorgen im Sinfoniekonzert des Staatsorchesters in der Stuttgarter Liederhalle verstrahlte, ließ – angesichts des derzeitigen Jahreszeitenstillstands, der die Natur in ihrem Willen, zu keimen und zu sprießen, noch brutal unterdrückt – die Explosivität vorausahnen, mit der sich die gepeinigte Natur hoffentlich in Kürze Bahn brechen wird.

So kraftvoll und energiegeladen, so überschäumend freudig, so ekstatisch erblühend gelang dem Staatsorchester jedes Crescendo, dass die „Rheinische“ wahrlich den Namen Frühlingssinfonie verdient hätte. Jede der zielgerichteten, genauen Phrasierungen forderte Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling auf dem Dirigentenpodest mit wendigen Bewegungen ein und wirkte darin - immer auf dem Sprung - ein bisschen wie ein Löwendompteur.

"Lebenslauf. Individuum als Vielheit", stand als anspruchsvolles Motto über dem Konzert, wobei sich letzteres vor allem auf Hans Zenders 2010 uraufgeführtes "Issei No Kyo" („Das Lied vom einen Ton“) für Sopran und Orchester bezog, in dem der Komponist – Anhänger asiatischer Denkwelten respektive des Zen-Buddhismus – ein musikalisches Mosaik an Ich-Interpretationen zu präsentieren gedenkt. Der zugrunde liegende Vierzeiler des japanischen Dichters Ikkyu Soyun war von Zender zu diesem Zwecke zunächst mitsamt seiner deutschen, englischen und französischen Übersetzung zerstückelt und durcheinandergewürfelt worden.

Der vielseitigen Sopranistin Claudia Barainsky gelang das auskomponierte, polyglotte Rollenspiel aus kokettem Plauderton, vieldeutiger Poesie, theatralischer Extrovertiertheit und geheimnisvollen Zaubersprüchen exzellent. Spielend schaltete ihre flexible Stimme immer wieder auf ganz neue Tonfälle und Register um, meisterte riesige Intervallsprünge, während sich das Orchester gekonnt in die aufgeregt vibrierende, gestisch vielgestaltige Klangwelt aus nervösen Schraffuren, Schnarren, hektischen, explosiven Glissandi, näselnden Trompetensalven, Ewigkeitsglocken und so manch einem Espressivo stürzte. Eine Welt, die immer wieder von schroffen, grellen Piccoloflötentönen attackiert wurde, die Joseph Singer alias Meister Puko – der in Soyuns Gedicht zitierte Gründer eines musikalischen Bettelordens – virtuos aus einer Zuhörerloge aufs Orchester niederblitzen ließ.

Der Einstieg ins Konzert war indes noch betont ruhig vonstattengegangen. Cambreling – hier ganz Franzose – animierte das Staatsorchester dazu, Franz Liszts sinfonische Dichtung "Von der Wiege bis zum Grabe" minuziös und aufs Feinste abschattiert in Farbenmusik zu verwandeln. Nur der mittlere Satz "Kampf ums Dasein" ließ schon jenen energischen Furor ahnen, der das folgende Programm prägen würde.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 8. April 2013. Das Konzert fand statt am 7. April.

Montag, 25. März 2013

Katastrophengebiet Welt

Sibylle Bergs neues Stück "Angst reist mit" von Hasko Weber und ihr selbst am Stuttgarter Staatsschauspiel uraufgeführt

Fremder, karger Planet Welt mit Menschen obendrauf. (Foto: Sonja Rothweiler, Quelle: Stuttgarter Staatstheater)

Stuttgart - Angst geht um in Europa: Angst vor Europa. Irrationale Angst, ausgelöst durch die Finanz-, Euro- und Schuldenkrise, deren Zusammenhänge offenbar nicht einmal Experten wirklich erklären können. Über die Angst, die Europas fremdbestimmte BürgerInnen derzeit lähmt, gibt es jetzt ein Stück. Das ist gut. Sibylle Berg, die kluge, bissige Analytikerin gesellschaftlichen Niedergangs und der Vergeblichkeit aller menschlichen Mühen, hat es geschrieben und am Staatsschauspiel Stuttgart im "Nord" zusammen mit dem scheidenden Intendanten Hasko Weber in Szene gesetzt: "Angst reist mit", heißt es. Und im Untertitel ironisch: "Ein Reiseoperepos". Keine guten Aussichten verspricht uns Berg, die die derzeitige Stimmung sinnbildlich zu fassen sucht.

Es geht um vier bisher noch wohlstandsverwöhnte europäische Touristen, die auf einer Insel der "Dritten Welt" Urlaub machen wollen: Die beiden Online-Journalisten Kevin und Ansgar, Anfang 30, auf der Suche nach einer "Preisträgergeschichte" (Christian Schmidt und Marco Albrecht). Außerdem das körperlich und emotional längst auseinandergerückte Lehrerehepaar Karl und Karla, Mitte 50 (Jens Winterstein und Marietta Mequid). Er: hält Ausschau nach der "einheimischen Frau", sie: die Weltverbesserin, will "mit eingeborenen Kindern tanzen" und "Brunnenbauprojekte" besichtigen.

Aber was der Reiseveranstalter versprach – "die romantischsten Ferien des Lebens" – entpuppt sich als Werbelüge. Romantisch – zumindest in seiner düsteren Metaphorik – ist nur der "Unterwelt"-Chor, der das Geschehen auf der Bühne kommentiert: "Da beginnt das leise Grauen", singt er melancholisch, "allein mit sich in tiefer Nacht. / Da beginnen sie zu ahnen, / was sie auf dieser Erde sind."

In der Tat sind die vier Reisenden auf sich selbst zurückgeworfen, auf ihre Nichtigkeit, innere Hohlheit, sexuelle Frustration, Gefühllosigkeit. Die Insel: wüst und leer. Sie ist Projektionsfläche für die Ängste vor dem Fremden und vor sich selbst. Das Unbewusste stülpt sich nach außen. Dort lauert Kannibalentum, und die vier werden Opfer einer brutalen Geiselnahme. Geiselnehmer ist das zweiköpfige Insel-Empfangskomitee (Minna Wündrich und Jonas Fürstenau): diktatorische Animateure, weiß gekleidet wie Psychiatrie-Personal; weiße Schminke im Gesicht deutet auf Zombietum.

Auf der Bühne baut sich eine kalte Kunstwelt auf, ein fremder, karger Planet. Die runde, leere, angeschrägte Spielfläche dreht sich zuweilen, und gibt an der angehobenen Seite den Blick frei in einige skurril gefüllte Räumchen. Hier zwängt sich auch gelegentlich der kurios verkleidete Chor hinein und glotzt die Zuschauer aus allerlei fantastischen Sehorganen an. Über der Drehbühne: Videoprojektionen und die Schaltzentrale der beiden Zombies.

Letztere sind offenbar Teil eines globalen geheimnisvollen Plans, der mit einem Schlag an verschiedenen Orten der Welt eine Milliarde Touristen unter Kontrolle bringen soll: "Menschen, die freiwillig zur Masse werden, um bewusst den eignen Willen aufzugeben". Das gefällt den Männern: "Ich muss gestehen, dass ich mich in der versorgten Abhängigkeit nicht unwohl fühle", sagt Ansgar.

Sextourismus, Tourismus in Katastrophengebiete und Diktaturen, der zerstörerische Umgang mit der Natur, die völlige Natur- und Selbstentfremdung – all das spießt Berg auf in ihrem Stück, das unterhält, wenn man hineinhört in den entlarvenden Wort- und überhaupt Witz. Schlag auf Schlag geht es mit Sprüchen wie: "Das sind keine Schlangen, das sind mehrfach verwendete Kondome" oder "Die Dritte Welt ist mitunter eine Zumutung". Es ist viel und muss erst nachwirken. Die Inszenierung jedenfalls erstarrt vor der Textmenge und nutzt das Potential seiner Schauspieler zu wenig.

Am Ende springt Karla ins Wasser und verbrennt. Die Männer essen Kokosnüsse, und auf der Leinwand sieht man einen Atompilz aufsteigen. Die beiden Zombies rezitieren Heidegger, und der Chor singt elegisch: "Schau an, da sind die klaren Flüsse, / der Wald, der Greif, der neue Aal. / Für euch, ihr traurigen Gestalten, / kommt nun das letzte Abendmahl." Die bessere Welt wäre vielleicht die ohne Menschen, denkt Sibylle Berg, und hat offenbar keine Angst davor.

Rezension für nachtkritik.de. Die Premiere fand statt am 23. März 2013.

Montag, 18. März 2013

Smalltalk mit der eigenen Leiche

„Attacca“-Konzert des SWR-Radio-Sinfonieorchesters im Stuttgarter Theaterhaus

Stuttgart - Das war es nun: das letzte „Attacca“-Konzert des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart (RSO) unter den programmatischen Fittichen von Hans-Peter Jahn - seit 1989 leitender Redakteur für Neue Musik des SWR und demnächst Ruheständler. Jahns Position wird es in Zukunft so nicht mehr geben. Sein Nachfolger Björn Gottstein muss sich mit einer halben Stelle zufrieden geben. Sparpolitik an brisanter und empfindlicher Stelle, denn die Förderung zeitgenössischer Kunstmusik muss Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sein, gerade angesichts der zu Jahresbeginn eingeführten allgemeinen Zwangsgebühren. Die „Attacca“-Reihe wurde bereits 2009 zum Opfer von Sparzwang und Quotendruck, indem sie auf einen Tag eingedampft wurde.

Erfolg beim Publikum


Dabei zeigte sich besonders in jüngster Zeit, dass Jahns langjähriges Wirken auch in Hinsicht auf Zuschauerzahlen Früchte trägt: Das von ihm künstlerisch geleitete Eclat-Festival für Neue Musik konnte im Februar eine Platzausnutzung von 90 Prozent verbuchen, und auch beim „attacca“-Konzert war jetzt der große Saal im Stuttgarter Theaterhaus wieder voll.

Aufgeführt wurde „Changeover“ (Seitenwechsel) des slowenischen Komponisten Vito Zuraj, der für dieses 20-minütige Orchesterstück 2012 den ersten Preis des Stuttgarter Kompositionswettbewerbs gewonnen hat. Ein Werk mit Riesenaufwand: 114 Musiker sind gefordert, von denen sich ein Teil zwecks Raumklang-Wirkung in gemischten Instrumenten-Grüppchen um die Zuschauer herum positioniert. Ein Klangwald baute sich auf, aus dem allerlei seltsame, aufgeregte, auf jeden Fall mitteilungsbedürftige Geschöpfe zu tönen schienen. In dem es zwitscherte, brummte, schepperte, klopfte, krächzte.

Riesenpalaver aus Einzelstimmen

Das war zuweilen ein Riesenpalaver aus Einzelstimmen, das sich verschachtelt und hochkomplex in Klangfeldern zusammenfand und in wogenartigem Wechsel mal die orchestrale Gegenwelt des Kollektivs auf der Bühne kontrastierte, dann sich ihr anschloss oder im plötzlichen, überraschenden Tutti-Klang ihr gleichgeschaltet wurde. Ein ambitioniertes, klanglich sehr reizvolles, allerdings recht überladenes Werk, das die Ohren beim ersten Hören überfordert. Nur: Welches Orchester wird sich einem derart aufwendigen Stück noch einmal zuwenden? Da sind Spezialisten wie das RSO und das Frankfurter Ensemble Modern gefragt, an deren Dirigierpult an diesem Abend Johannes Kalitzke für die exakte Umsetzung der komplexen Partitur sorgte.

Das Thema Raumklang beherrschte die Dramaturgie des gesamten Konzerts. So auch die Uraufführung von Ulrich Kreppeins „Labyrinth“ für ein Bühnenorchester und im Saal verteilte Solistengruppen. „Labyrinth“ zieht seinen Reiz aus einer harten Schnitttechnik: Aus bewusst trägen, sich gelegentlich reibenden Orchesterklangflächen heraus vollziehen sich, markiert durch Peitschenknallen, blitzschnell stilistische Gesichtswechsel, in denen schumanneske Klaviersphären, expressionistische Streichquartettklänge, sinfonische Dramatik hörbar wird.

Die beiden Werke für großes Orchester umschlossen zwei moderne „Klassiker“ in Minimalbesetzung. Zunächst sorgte György Ligetis an Beckett orientiertes Ein-Mann-­Theaterstück „Rondeau“ von 1976 für einige Lacher: Darin gerät ein monologisierender Schauspieler (Maarten Güppertz) in eine tödliche Wiederholungsschleife, die ihn mehr und mehr in ein völliges Identitätswirrwarr stürzt. Dialogpartner sind eine gelegentliche Tonbandstimme sowie seine eigene Leiche.

Wohlfühlklänge vom Minimalisten

Wohlfühlklänge vom Minimalisten Steve Reich gab es anschließend in „New York Counterpoint“ für Klarinette und Tonband von 1985. Sebastian Manz fügte sein Instrument in das Geflecht von zehn zuvor selbst aufgenommenen Klarinettenstimmen, die nun von Band zugespielt wurden, ein. Manche Zuhörer lehnten sich mit den meditativ gleichförmigen Schönklängen im Gehörgang sichtbar entspannt zurück.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 15. März.

Donnerstag, 14. März 2013

„Det is die Berliner Luft, Luft, Luft“

Sozialkritische Groteske: Der Einakter „Rudimentär“ des Expressionisten August Stramm in der Stuttgarter Tri-Bühne

Kampfszenen in der Dachmansarde: Der arbeitslose Willi (Nickel Bösenberg) und seine Gefährtin Marjell (Susan Ihlenfeld) kriegen sich vor lauter Elend in die Wolle. (Foto: Stefan Kirchknopf)

Stuttgart - Schriftstellerkollege Kurt Schwitters urteilte über ihn: „Die Verdienste Stramms um die Dichtung sind sehr.“ Ein solcher Nonsens-Satz dürfte August Stramm, dessen Einakter „Rudimentär“ jetzt in der Stuttgarter Tri-Bühne als Kooperation mit den Thêatres de la Ville de Luxembourg Premiere hatte, gefallen haben. „Rudimentär“ ist ein schwarzhumoriges Stück mit explosivem Inhalt.

„Rudimentär“ steht dick auf dem Zeitungsblatt, das kopfüber an der Wand einer kleinen Berliner Dachmansarde klebt und immer wieder die Aufmerksamkeit des jungen Mannes auf sich zieht, der eigentlich gerade damit beschäftigt ist, sich mit seiner Gefährtin umzubringen. Der Gashahn ist schon aufgedreht. Aber das fremdartige Wort, dessen Bedeutung sich dem Manne entzieht, lenkt ihn immer wieder ab. „Ru-di-menta“, brabbelt er nachdenklich, „wie det klingt“. „Rudi wat?“, fragt die junge Frau.

Desolate Zustände

August Stramm, ein dichtender Postinspektor, der mit experimenteller Lyrik und Theaterstücken seinerzeit für Furore sorgte und heute zu den bedeutenden Expressionisten gezählt wird, kam 41-jährig als Kompanieführer im Ersten Weltkrieg um. In „Rudimentär“ von 1910 nahm er einerseits naturalistisch und sozialkritisch die desolaten Zustände in Berlin aufs Korn, das durch die rasante Industrialisierung aus allen Nähten platzte. Seine beiden Protagonisten Willi und Marjell sind arbeitslos, arm und hungrig und müssen ihre Behausung - eine winzige Bruchbude, die mit alten Zeitungen tapeziert ist und nur ein großes Bett, Herd und eine Wäscheleine beherbergt - auch noch mit einem Chauffeur als Schlafgänger teilen.

Andererseits ist Stramms Bühnenpersonal ein grober, tumber Haufen, der sich beinahe gegenseitig umbringt und nur nebenbei bemerkt, dass der Säuglingsnachwuchs bereits das Zeitliche gesegnet hat. „Det kricht ja keene Luft nich“, schreit die Mutter theatralisch, „Jott, Fränzken, wir haben dir jemordet“.

Der Plan der Selbstentleibung tritt ohnehin bald in den Hintergrund. Der vom vermeintlich ausströmenden Gas erwartete Tod will nicht eintreten. Man findet noch eine Flasche Schnaps, dafür lohnt es sich ja zu leben. Oder doch zu sterben? Es geht deftig zur Sache: Im Kampf um die Branntweinpulle tritt Marjell Willi zwischen die Beine, der haut ihr die Faust auf die Nase. Der eintreffende Chauffeur, der sein Schlaflager in Anspruch nehmen will, hat auch nichts anderes im Sinne, als Marjell an die Wäsche zu gehen - freilich für ein paar Münzen. Das schafft Mittel zur Nahrungsbeschaffung, aber auch Eifersucht. Gesichter werden gegen die Tür geschlagen, Füße gequetscht und Fäuste in Mägen gehauen. Am Ende stellt sich heraus, dass das Gas abgestellt war. Man ist erleichtert, dass der „Kleene“ einen „natürlichen Tod“ starb, und geht raus auf die Straße - zum Flanieren.

Die kurzweilige Inszenierung von Jean-Paul Raths setzt in der Tri-Bühne auf schnellen, präzisen Kampf-Slapstick, in dem auch Metzgermesser durch die Gegend fliegen. Susan Ihlenfeld als Marjell, Nickel Bösenberg als Willi und Pitt Simon als Chauffeur gelingt es exzellent, in der Übertreibung doch auch die Gewalt der Verzweiflung aufscheinen zu lassen. So bleibt dem Publikum immer wieder das Lachen im Halse stecken.

Doppeldeutige Qualitäten

Raths belässt die Handlung im Berlin vor dem Ersten Weltkrieg, wie Bühnenbild und Kostüme von Gitti Scherer deutlich machen. Und am Anfang amüsieren kurze, uralte Stummfilmchen mit grimassierenden Menschen, albern tänzelnden wilhelminischen Polizisten und Quickies in Oldtimern. Dazu gibt’s stilecht Klänge vom Stummfilmpianisten Sebastian Huber, der auch nach dem Vorspann das Bühnengeschehen dezent musikalisch untermalt - immer wieder den Schlager „Det is die Berliner Luft“ zitierend, was angesichts eines offenen Gashahns doppeldeutige Qualitäten erhält.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 14. März 2013. Premiere war am 9. März.

Infos:
www.tri-buehne.de
Die nächsten Vorstellungen: 18. bis 21. April.

Dienstag, 12. März 2013

Ein Himmel voller Leuchten

Das Stuttgarter Theater der Altstadt bietet mit der Fassbinder-Adaption „Angst essen Seele auf“ einen respektablen Beitrag zum Thema Rassismus

Zärtliche Gefühle: Johanna Hanke als Emmi und Benjamin Dami als Ali. (Foto: Haymann)

Stuttgart - Der Bühnenhimmel im Stuttgarter Theater der Altstadt hängt voller Leuchten: weiße, grüne, blaue, eine aus rotem Wuschelplüsch oder verziert mit orientalischen Arabesken, auch ein schicker Lüster ist dabei. Das soll wohl die Vielfalt, die Unterschiede spiegeln, die sich in den Dingen zeigen, die man täglich nutzt, die man bei anderen Menschen aber nicht unbedingt akzeptieren will. Wer anders aussieht, anders spricht, wird eher gemobbt, verprügelt, gedemütigt - wie jener junge Mann in Rainer Werner Fassbinders „Angst essen Seele auf“, den alle Ali nennen, „weil alle Ausländer so heißen“.

Mit der Bühnen-Adaption dieses Kinofilms aus dem Jahre 1974 ist dem kleinen Stuttgarter Theater der Altstadt jetzt ein respektabler Abend zum Thema Rassismus gelungen. Einmal wegen der beiden großartigen Darsteller des ungleichen Liebespaars: Johanna Hanke als Emmi mit dem großen Herzen, Putzfrau, verwitwet und jenseits der 60, und Benjamin Dami als Ali, ein junger Marokkaner, der als Lagerarbeiter schuftet. Die beiden Einsamen lernen sich in Alis arabischer Stammkneipe kennen und verlieben sich. Eine Liaison, die in den Augen der Emmi-Kinder, der Nachbarschaft, der Kolleginnen nicht sein darf. Ausländer seien „faule Schweine, die hier auf unsere Kosten leben - und wenn sie arbeiten, dann nur schwarz oder im Döner-Imbiss“. Man kennt die Sprüche.

Fassbinders Stück ist fast 40 Jahre alt, aber noch lange nicht Geschichte an vielen Orten dieser Republik. „Der will doch nur dein Geld“, sagen sie zu Emmi. Später arrangiert man sich - aus eigennützigen Gründen. Weil die Mutter den Nachwuchs hüten soll, weil der starke Ali im Haus helfen soll, weil der Lebensmittelhändler die Stammkundin nicht verlieren will.

Alles keine Leuchten, diese Menschenhasser, Spießer, Neidhammel. Aber unter ihren feindseligen Blicken wird die Liebe mürbe. Emmi, die den Hass der anderen nicht erträgt, behandelt Ali zunehmend als vorführbares Objekt, und Ali treibt es mehr und mehr zurück zur Wirtin seines Stammlokals. Hanke und Dami spielen das Paar anrührend und glaubwürdig - vom Aufglimmen der ersten Zuneigung über leidenschaftliches Turteln bis hin zum großen Misstrauen. Brigitte Mira, die berühmte Film-Emmi, hat man schnell vergessen, wenn Hankes Emmi arabische Schleiertänze aufführt oder hitzig entscheidet, Ali zu heiraten, weil der Vermieter ihn sonst nicht im Haus duldet. Wuschelkopf Dami spielt den Ali als einen einfühlsamen, melancholischen Mann. Nie wirkt Alis brüchiges, aber sehr poetisches Deutsch, das mit „Angst essen Seele auf“ sprichwörtlich geworden ist, aufgesetzt.

Regisseurin Yvonne Groneberg hat das alles in ruhigem Szenenfluss präzise inszeniert und zusammen mit den Ausstattern Marina Zydek (Kostüme) und Emanuel Schulze (Bühne) viele stimmige Bilder gefunden. Etwa wenn Emmi und Ali Urlaub in Kenia machen und dort im Hotel, ermuntert von zwei Animateuren, fröhlich den Belafonte-Banana-Song performen. Da demaskiert sich der weißhäutige Palmwedler im Sarotti-Mohr-Ganzköper-Kondom plötzlich und fragt Ali: „Was hat die Alte dir denn gezahlt?“ Da fühlt man sich doch wieder ganz zu Hause, wo der anonyme Mob aus fiesen Gaffern und Prüglern weiße Masken trägt. Trefflich auch die Szene beim Lebensmittelhändler, der sich weigert, Ali zu bedienen. Als dieser ängstlich den Laden verlässt und seinen Rucksack auf dem Tresen vergisst, tritt dem Krämer angesichts des vermeintlichen Attentäter-Ranzens der Angstschweiß auf die Stirn, und er schreit panisch nach seiner Gattin. Da ist das Stück behutsam aktualisiert worden.

Ali hat im Theater der Altstadt auch einen Namen: El Hedi ben Salem - so hieß der Hauptdarsteller in Fassbinders Film. Das hat Einfluss auf den Schluss des Stücks, der das persönliche Ende im Leben des Schauspielers Salem aufgreift: Ali landet nicht im Krankenhaus mit Magengeschwüren vor einer weinenden Elli, sondern im Gefängnis.

Das angehängte Happy End in Stuttgart, das Ali in Freiheit zeigt, die beiden ihre Liebe wiederfinden lässt und „Vertraue mir!“ flüstern lässt, wirkt indes nicht so ganz von dieser Welt. Weil auch das quirlige Ensemble mit Lucia Schlör, Elif Veyisoglu, Sebastian Schäfer, Lou Bertalan, die alle mehrere Rollen spielen, sowie die fünf Statisten ihr Sache überzeugend machten, gab es bei der Premiere am Ende viel Jubel für einen sehenswerten Abend.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 12.3.2013. Premiere war am 8. März.


Infos: www.theater-der-altstadt.de
Die nächsten Aufführungen: 13. bis 16. und 18. bis 21. Juni.

Dienstag, 5. März 2013

Das Leben, die Hölle

Corinna Harfouch und Catherine Stoyan in „Was geschah mit Baby Jane?“ am Stuttgarter Staatsschauspiel

Zwistiglich vereint: Catherine Stoyan (Jane Hudson, genannt „Baby Jane“) und Corinna Harfouch (Blanche Hudson) in „Was geschah mit Baby Jane?“ im Kammertheater. (Foto: Sonja Rothweiler/Staatstheater)

Stuttgart− Einem Schattenreich gleicht dieses Haus. Die Bühne ist zu Beginn noch rabenschwarz, dann fährt die dunkle Gazewand hoch und gibt den Blick frei in eine überdimensionale Puppenstube. Zwei Stockwerke, vollgestopft mit antiken Möbeln und einem riesigen Kronleuchter im engen Flur. Unten hat Bühnenbildner Volker Hintermeier das Wohnzimmer mit Bechstein hingebaut, rechts eine kleine Küche. Die Zeit steht still, das Ticken der Empire-Uhr: ein Hohn. Links oben das Zimmer von Blanche, die dort im Rollstuhl gefangen sitzt, die Treppe nach unten: ein unüberwindbares Hindernis. Rechts oben jenes von Jane, ein Kinderzimmer mit Schaukelpferd und einer einsamen Goldenen Schallplatte an der Wand. Seit 30 Jahren machen sich die beiden Schwestern in diesem Haus das Leben zur Hölle. Jane, einst ein gefeierter Kinderstar, Familienernährerin. Dann brach die Karriere ab, derweil Blanche zum Filmstar avancierte, bis ein mysteriöser Autounfall ihr Diven-Dasein jäh zerstörte. Sie sitzt seither im Rollstuhl, in ihrer Villa in Beverly Hills, gepflegt von ihrer Schwester, durch sie auch hermetisch ferngehalten von der Außenwelt. Nur Elvira, die Haushaltshilfe, hat gelegentlich Zugang. Blanche kommandiert, Jane hält sie in Schach, unterschlägt die Fanpost an die Schwester, weist die Nachbarn ab, kippt Whiskey in sich rein. Die Isolation gebiert Ungeheuer.

Auch im wahren Leben Schwestern

„Was geschah mit Baby Jane?“ hatte jetzt am Stuttgarter Staatsschauspiel Premiere. In der filmischen Vorlage von Robert Aldrich aus dem Jahre 1962 nach dem Roman von Henry Farrell, die einen kritischen Blick hinter die Glitzer-Fassade Hollywoods warf, quälten sich Bette Davis und Joan Crawford als gestrandete Sternchen. Im Stuttgarter Kammertheater sind es Corinna Harfouch als Blanche und Catherine Stoyan als Jane - auch im wahren Leben Schwestern -, die sich in ihrer konkurrierenden Ruhm- und Eifersucht gegenseitig vernichten. Christian Weise, auch Spezialist für Slapstick und Skurriles, hat Regie geführt - und hat eine ausgewogene Balance gefunden zwischen psychodramatischer Zuspitzung und ironischer Brechung. Daraus entsteht die Spannung des Abends, der am Ende bejubelt wird, weil er getragen wird von zwei phänomenalen Hauptdarstellerinnen. „Rollstuhlhippe“, schreit Stoyan, „widerliches versoffenes Stück Scheiße“, kontert Harfouch. Solcher lustvoll hasserfüllter Schlagabtausch übertüncht zuweilen die Schwächen des Film-Stoffs, der auf eine Aufdeckung der gemeinsamen Familiengeschichte fast gänzlich verzichtet und boulevardesk an der Oberfläche des Schwesternkrieges bleibt.

Catherine Stoyan mit ihrem Faible für das komische Fach kann brillieren, weil sie das hohe Maß an Übertreibung, das ihre Rolle fordert, glaubwürdig als Attribute eines sich steigernden Wahnsinns zu ergründen weiß. Das ist hohe Schauspielkunst: die Grenzen, die die Darstellung psychisch gestörten Verhaltens bei Überschreitung schnell albern wirken lassen, auf den Millimeter genau auszuloten. Das gelingt ihr in plötzlichen Gewaltausbrüchen, wenn sie der am Boden liegenden Blanche im Blutrausch in die Nieren und ins Gesicht tritt, ebenso wie in hysterischen Heulkrämpfen, wenn sie besoffen in ihre Rolle als Kinderstar verfällt, immer und immer wieder die guten alten Zeiten heraufbeschwörend, als sie noch Papis Liebling war. Oder wenn sie ihrer Schwester auf dem Schoß sitzt, sich wie ein Baby von ihr trösten lässt, um ihr beim Aufstehen sofort wieder aggressiv Lügen zu unterstellen.

Corinna Harfouch muss im letzten Drittel mit blutigem Kopf und zugeklebtem Mund ans Bett gefesselt verharren. Jane hält die Zügel jetzt kürzer, nachdem sie erfahren hat, dass Blanche ihr Haus heimlich verkaufen will, um mit der Haushälterin zusammenzuziehen und Jane in eine Nervenklink einzuliefern. Harfouch ist grandios als Lästermaul und noch immer divenhafte Zicke: Wenn sie vor dem Fernseher hockt und die x-te Wiederholung ihres Films „Mond über Manhattan“ anschaut, Regisseure als „Vollidioten“ und „Flachzangen“ beschimpft oder litaneiartig wiederholt, dieser Film habe nur wegen ihres Namens ein Vermögen eingespielt.

Blaue Flecken an den Oberarmen zeugen von Harfouchs hartem Proben- und Körpereinsatz: Akrobatisch, wie sie kopfüber rücklings die Treppe hinunterrutscht, um an das rettende Telefon zu gelangen. Bis zum letzten Augenblick behält sie ihre Grandezza, wenn sie, schon blutend am Boden liegend, den ahnungslosen Musiker Edwin anfährt: „Könnten Sie mir bitte mal helfen?“

Wer hier Täterin ist und wer Opfer, bleibt in der Waage. Blanche hat ihre Schwester mit einer Lüge lebenslang an sich gefesselt. Jane glaubt noch immer, sie sei schuld am schlimmen Unfall. Zwei Opfer einer Lebenslüge - und ein drittes: Jane erschlägt die Haushälterin (Anna Windmüller). Sie wusste zuviel.

Drama mit Live-Musik

In dieser Isolationshölle spielen andere Personen so gut wie keine Rolle. Das Stuttgarter Ensemble kommt vor allem als Telefonstimme oder als Nachbarin zum kurzen Einsatz. Außer Benjamin Grüter, der den arbeitslosen Musiker Edwin mimt, den Jane sich kauft, um an ihrem Comeback als Shirley-Temple-Verschnitt zu arbeiten. Grüter, neben Katharina Ortmayr als skurriler Mutti-Mutter im schrägen Oma-Outfit mit verkorkster Perücke (Kostüme: Andy Besuch), ist die Lachnummer des Abends: fantastisch in seiner Verklemmtheit, seiner aufgesetzten Geschäftigkeit, seinem schnöden Überlebensdrang. Ja, und er spielt ganz ordentlich Klavier: Beethovens Mondscheinsonate, erster Satz.

Überhaupt ist es einer der attraktiven Kennzeichen des Regie-Stils Weises, Schauspieler auch musikalisch zu fordern. Das hat in Stuttgart schon einige große Theateraugenblicke gebracht, und auch Catherine Stoyan kann mit ihrer Varieté-Kindergesangsnummer „Brief an meinen Papi“ punkten. Ohnehin setzt Weise Live-Bühnenmusik immer sehr geschickt zur Taktung seiner Stücke ein. An diesem Abend sorgen Jens Dohle und Falk Effenberger mit saftigem E-Gitarren- und Synthie-Sound für atmosphärisch dichte Übergänge in den regelmäßigen szenischen Breaks, die den Abend strukturieren und spannend halten.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 4. März 2013. Premiere war 2. März.

Montag, 4. März 2013

Am Ende in klanglicher Balance

Das Stuttgarter Kammerorchester mit dem Barockexperten Fabio Biondi in der Stuttgarter Liederhalle

Stuttgart - Applaus nach dem ersten Satz zeugt in Stuttgart selten von völliger Ahnungslosigkeit in Sachen Konzertriten. So hatte auch das verfrühte Klatschen einiger Zuhörer, das im jüngsten Konzert des Stuttgarter Kammerorchesters (SKO) im Mozartsaal Pietro Nardinis Violinkonzert op. 1,1 unterbrach, seinen Ursprung wohl im unbedingten Willen, spontane Begeisterung über die mitreißende Interpretation eines packenden Stücks zu bekunden.

Die noch dem Barock verpflichtete Sprache Nardinis, sein rhythmischer Drive, seine zündende Harmonik und eingängige Melodik wurden vom SKO und dem Geiger Fabio Biondi, der diesen Abend mit Werken des Barock und der Frühklassik als Gast vom Konzertmeisterpult aus leitete, leicht, luftig, beweglich und präzise umgesetzt. Und Biondi als Solist zelebrierte nun seine ganze Kunst der subtilen Phrasierung, des detailreichen Spiels, einer avantgardistisch anmutenden Farbensuche und -findung. Die virtuose Palette an Läufen, Trillern, Doppelgriffen verliert bei ihm dank gelenkigster Bogenführung alles rein Artifizielle, wird zum Spiel von Schatten und Licht. Ein Ton, in dem es zwar auch, aber nicht nur um Schönheit geht, der flüstern, auch heiser hauchen und dann sehr plötzlich explodieren kann.

Nardinis Violinkonzert beendete den Abend. Jetzt befanden sich Solist und Orchester in perfekter klanglicher Balance, man war aufeinander eingespielt. Das war in Vivaldis g-Moll-Violinkonzert RV 319 noch nicht gegeben. Denn Fabio Biondi, der mit seinem Ensemble L‘Europa Galante längst zu den bedeutenden europäischen Protagonisten der historischen Aufführungspraxis gehört, spielte seine Violine mit Barockbogen. Und der produziert wegen seiner besonderen Krümmung, seines geringeren Gewichts und einer schüttereren Haarbespannung obertonreichere, aber eben auch viel leisere Töne als heutige Bogen. Und da das SKO leider die moderne Variante benutzte, verschmolz Biondis Spiel an manchen Stellen zu sehr mit dem brillant-breiten Sound des Kollektivs und wirkte zu matt - zumal das SKO als nichtspezialisiertes Ensemble mit der quirligen Beweglichkeit und feinnervigen Dynamik Biondis nicht wirklich mithalten konnte.

Solche Dinge fielen im Concerto grosso op. 3,3 von Francesco Geminiani naturgemäß weniger ins Gewicht. Und dass in Gaetano Pugnanis B-Dur-Sinfonia der pointiert gesetzte kollektive Schlusszupfer zum aufregendsten Ereignis wurde, mag auch mit der Qualität des Stücks zusammenhängen. Dagegen brachte das SKO in der Sinfonia Nr. 21 KV 134 des jugendlichen Mozart, inspiriert durch die Klangfantasie Biondis, die musikalischen Knospen zum Blühen: luftig-lustiges Pulsieren ebenso wie orchestrale Polyphonie.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 1. März.

Freitag, 1. März 2013

Perkussive Lust

Das Freiburger Barockorchester in der Stuttgarter Liederhalle mit Alla-Turca-Kompositionen

Stuttgart - Ein paar Takte der Ouvertüre zu Mozarts „Entführung aus dem Serail“, dann unterbricht infernalischer Trommeldonner das Allzubekannte. Alles zuckt zusammen: Die drei Perkus­sionisten, die im Konzert des Freiburger Barockorchesters (FBO) im Mozartsaal der Stuttgarter Liederhalle immer wieder für Paukenschlag-Effekte sorgten, legten erst einmal eine gediegene Schlagwerkimpro hin, bevor es auf gewohnten Wegen weiterging. Eine Hommage an die Musik der Janitscharen, der Militärkapellen der Osmanen, die, nachdem die Macht der Türken gebrochen war, vor allem in Mozarts Wien für wohlige Gänsehaut sorgte und von den Komponisten auf der Suche nach neuen Klängen mit Vorliebe als greller Kontrast in eigene Werke eingebaut wurde.

Kompositorisches Wohlwollen fand vor allem der wohlstrukturierte Lärm von Piccoloflöte, Becken, Trommel, Schellenglocken und Triangel, der so schön nach Säbelrasseln klang. Die Imitation des türkischen Kolorits wirkte auf melodischer und harmonischer Ebene dagegen eher unbeholfen, oder es entstand wie bei Mozart ein ganz eigener exotisch-folkloristischer Sound.

Mozart ließ sich die Möglichkeit zu spektakulärem Radau natürlich nicht entgehen, schrieb aber auch berühmte Alla Turcas, die ohne Trommelfeuer auskommen: die A-Dur-Klaviersonate und das A-Dur-Violinkonzert etwa. Auch letzteres kam beim Konzert des FBO zur Aufführung. Es geriet allerdings als einziger Programmpunkt etwas schläfrig, nicht wegen des sichtbar gutgelaunten und fetzig aufspielenden FBO, sondern wegen seines Konzertmeisters Gottfried von der Goltz, der sich solistisch einfach nicht willens zeigte, mal aus sich heraus- und über sich hinauszugehen.

Ohnehin standen vor allem Raritäten von türkisch inspirierten Mozart-Zeitgenossen auf dem Programm: Christian Cannabichs Ballett-Suite „Les fêtes du sérail“ etwa, eine etwas steife, vielleicht beabsichtigt in starren Harmoniefolgen verharrende Musik, die erst durch die Schlagwerkgruppe und ihr Schnarren, Schnattern und Scheppern klangliche Veredlung erfuhr. Oder Glucks Ballett-Pantomimen-Suite „L‘Orfano della Cina“, die theatralisch auch mit Gewittergrummeln und Sturmheulen garniert wird, aber eben auch mit zarten, zerbrechlichen Glöckchentönen Aufsehen zu erregen weiß.

Es waren die exzellenten Schlagzeuger Murat Coskun, Michael Metzler und Charlie Fischer, die aus diesem Abend ein Ereignis machten, in dem sie ihre Stimmen frei, genüsslich und mit großer Klangfantasie umsetzten. In dieser perkussiven Qualität wird man auch die Sinfonia Turchesca des Mozart-Schülers Franz Xaver Süßmayr wohl nur ganz selten hören: schon wegen der ungeheuren Raffinesse, mit der die drei Meistertrommler orchestrale Läufe und Melodien in schillernd-metallische Legierung tauchten.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 27.2.2013.

Montag, 25. Februar 2013

Gleichschritt führt zum Eklat

Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR mit Antoni Wit und Johannes Moser im Beethovensaal

Stuttgart - Eigentlich wächst in der Steppe ja nichts als Gras und Kraut. Das hinderte den romantischen polnischen Komponisten Zygmunt Noskowski 1896 aber nicht daran, sein sinfonisches Poem „Die Steppe“, in dem es auch um blutige Kampfgetümmel und eine große Liebe geht, als Schmachtfetzen anzulegen: Über luftiger Streichersahne und Paukengrummeln schwelgen Hörner, Trompeten, Klarinetten um die Wette. Noskowski ließ nichts aus: himmelblaue Harmonien, mächtige Blechbläserchöre, zackige Märsche, honigsüße Melodien, dramatische Klangballungen – für das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart (RSO), das mit diesem Stück jetzt sein Konzert im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle begann, ein geeigneter Warmspieler, um mit dem polnischen Maestro Antoni Wit am Dirigierpult zusammenzufinden.

Glänzendes Teamwork bewiesen Wit, das RSO und der Solist Johannes Moser dann in Witold Lutoslawskis Cellokonzert von 1970: einem noch immer neutönenden Meisterwerk, spannend interpretiert. Der Cellist beginnt alleine: Pochende Tonrepetitionen werden unterbrochen von kleinintervallischem Gewusel − ein langes Palaver, bis das Orchester, aufgefächert in viele nervöse Stimmen, interveniert und stört. Konzipiert ist das Konzert als ständige Auseinandersetzung zwischen Individuum und Kollektiv. Nach Verständigung wird gesucht, der Gleichschritt des Cellisten mit dem Orchester führt aber in die Eskalation. Moser spielte die Rolle perfekt, machte dem Orchester auch gestisch zuweilen klar, dass es ihm mal im Mondschein begegnen kann. Das Publikum jubelte.

Elektrisierende Spannung verbreitete das RSO dann auch in Prokofiews Fünfter Sinfonie. Hochkonzentriert ließ man die Rhythmen rattern, drohend marschieren, spotten und klagen. Phänomenal tönte das RSO die Farben ab, arbeitete jeder einzelne sichtbar am optimalen Gesamtklang, nicht nur Sebastian Manz an der Klarinette. Und Maestro Wit sorgte für die Spannungskurve. Wunderbar!

Besprechung für die Stuttgarter Nachrichten vom 23.2.2013. Das Konzert fand statt am 21.2.

Dienstag, 19. Februar 2013

Zuckende Körper, qualmende Bögen

Das französische Ensemble Quatuor Ebène in der Stuttgarter Liederhalle

Stuttgart - Die Unkenrufe der Klassik-Konzertveranstalter, das Streichquartett sei tot, bestätigen sich in der Realität nicht. Wer am Sonntagabend die Russ-Kammermusikreihe in der Stuttgarter Liederhalle besuchte, konnte mal wieder eine lange Warteschlange an der Abendkasse erblicken. Zu Gast im prall gefüllten Mozartsaal war das französische Quatuor Ebène, ein Ensemble junger Männer, das sicherlich mitverantwortlich ist für den Aufwind, in dem sich die Gattung derzeit befindet. Grund: Homogener Einheitsschönklang war gestern. Heute zählt die klangliche Individualisierung der vier Stimmen. Sie beschert dem Streichquartettsound eine Riesenfarbpalette, die das Quatuor Ebène vorbildlich kultiviert hat - wodurch die Ohren durch knisternde Spannung, hochexpressive innere Bewegtheit und intellektuelle Tiefe durchweg in Bann gehalten werden.

Im B-Dur-Divertimento des 16-jährigen Mozart etwa dominierte ein herber, natürlicher, eher ungeschliffener Klang. Zusammen mit dem ungeheuren rhythmischen Drive, den die vier zuweilen mit zuckenden Körpern und qualmenden Bögen entfachten, verpasste er dem oft so lapidar interpretierten Werkchen einen atemberaubenden inneren Druck.

In Mendelssohns a-Moll-Quartett, dem romantischen Meisterwerk eines 18-Jährigen, sorgte die ständige Abtönung der Klangfarben, die auch mit der Anpassung des Tempos an den Augenblick einherging, für luftige Gewebe, geisterhaftes Flirren, Schatten und Licht. Eine ungeheuer intensive Interpretation, fein ausgearbeitet bis ins Detail. Jubel und Bravorufe deshalb schon vor der Pause. Da stand Beethovens spätes Quartett op. 132 noch bevor, in dem der dritte, meditativ überlange Satz - der 'Heilige Dankgesang' - von Raphaël Merlin am Cello, Bratschist Mathieu Herzog und den beiden Geigern Pierre Colombet und Gabriel Le Magadure, die sich an diesem Abend als Primarius abwechselten, in eine irisierende Klangstudie verwandelt wurde.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 19.2.2013. Das Konzert fand statt am 17.2.

Montag, 18. Februar 2013

Schule, Stress, SM

Die Junge WLB Esslingen spielt „Frühlings Erwachen“ frei nach Frank Wedekind

Tobias Strobel (links, Moritz) und Hanif Jeremy Idris (Melchior) in der WLB-Produktion „Frühlings Erwachen“. (Foto: Pieth)

Esslingen - In Sachen Sexualakt und seine möglichen Folgen dürften pubertierenden Jugendlichen heute genügend Quellen der Erkenntnis zur Verfügung stehen. In Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ glaubt die 14-jährige Wendla noch an den Klapperstorch: Sie wird, ohne es zu wissen, schwanger, und genauso wenig ist ihr bewusst, dass an ihr die Abtreibung vorgenommen wird, an deren Folgen sie dann elend krepiert. Sie sei an „an der Bleichsucht“ gestorben, lässt ihre Mutter auf den Grabstein ihrer Tochter gravieren.

Eine „Kindertragödie“

Eine „Kindertragödie“ untertitelte der skandalumwitterte Bürgerschreck Wedekind ironisch sein 1891 geschriebenes, aber erst 1906 in einer zensierten Fassung uraufgeführtes Drama, in dem er der wilhelminischen Gesellschaft den Spiegel vorhielt: „Kindertragödie“, weil die Eltern ihrem pubertierenden Nachwuchs das Erwachsenwerden absprechen und ihm die Aufklärung verweigern - woraus eine tödliche Katastrophenkette erwächst: Auch der Schüler Moritz stirbt. Er entflieht dem Schuldruck durch einen Kopfschuss. Melchior, der Wendla schwängerte, wird wegen einer Aufklärungsschrift für seinen in diesen Dingen unbedarften Freund von den Lehrern für die Selbsttötung Moritz’ verantwortlich gemacht, fliegt von der Schule und landet in einem Erziehungsheim. Er droht am Ende an seinen Schuldgefühlen zugrundezugehen.

„Frühlings Erwachen“ hatte jetzt an der Jungen WLB im Studiotheater am Zollberg in einer heutigen Bearbeitung von Nuran David Calis Premiere. „Live fast, die young“, lautet nun der coole Untertitel. Die Personage ist von 37 Figuren auf sechs zusammengeschmolzen: Die Erwachsenenwelt, Lehrer und Eltern, ist so gut wie elimiert, sieht man einmal vom Vater Moritz’ ab, der am Ende als gebrochener Mann auf die Bühne schluppt und den Freunden vom Sohn hinterlassene Geschenke weitergibt.

Die sechsköpfige Clique aus 14- und 15-Jährigen ist ansonsten allein mit sich auf der Bühne: Party, chillen, kein Bock auf Schule. Haschischrauchen, Wulle-Bier kippen, SMS-Schreiben. Schmetterlinge im Bauch, erstes Verliebtsein und sexuelle Erregung, eine unbeabsichtigte Schwangerschaft und die Frage „Was nun?“. Regisseur Christian Müller lässt Technobeats wummern zwischen den Szenen, immer wieder erklingt Cluedos sentimentales „So sehr dabei“. Aus dem gesellschaftskritischen Tabubrecher ist ein sehenswertes, schnell getaktetes, freilich auch vergleichsweise braves Jugendstück über die Lebensrealität und das Lebensgefühl heutiger Pubertierender geworden. Es geht um Lebenssinn, Zukunftsträume, Beziehung und Liebe und auch ein bisschen um sexuelle Selbstfindung.

Einiges ist vom Originaltext geblieben, vieles im heutigen Jargon überschrieben. Klapperstorch war gestern. Schuldruck, häusliche Gewalt und SM-Fantasien bleiben. Weiterhin wird Martha von ihren Eltern blutig geprügelt, Moritz scheitert an Lernstress und gefährdeter Versetzung, Wendla zwingt Melchior, sie zu schlagen. Aus der homoerotischen Liebesszene ist freilich schon nur noch ein flüchtiger, feuchter Kuss geworden, den Hans dem verdutzten Melchior auf den Mund drückt. Die berühmte Gruppenmasturbationsszene ist gestrichen, dafür stellen Moritz und Melchior ihr Schamgefühl in einer Wettentkleidung auf die Probe. Wendla wird schwanger, rammt sich eine Flasche in den Bauch, als sie merkt, dass Melchior es nicht ernst mit ihr meint. Verantwortung für sein Tun muss dieser erst noch lernen. In der Schlussszene erscheint ihm Moritz nicht als depressiver Zombi mit dem Kopf unterm Arm, sondern spricht fröhlich und körperlich intakt als Videoprojektion zu ihm: „Dein Leben ist Unterlassungssünde (...). Du musst einfach vertrauen“.

Überdimensionale Gummischläuche

Die Bühne von Gitti Scherer ist zunächst leer, bevor knallbunte, überdimensionale Gummischläuche in U-, I- und Spiralform hineingeworfen werden, die sich variationsreich in chillige Sitz- und Liegeflächen zusammenlegen oder -stecken lassen. In deren Windungen kann man sich verheddern oder in bestimmten Liegepositionen auch mal einen leise vibrierenden Riesenphallus zwischen den Beinen wachsen lassen.

Tobias Strobel als lernwütiger, schüchterner, verschämter Moritz, der sich von weiblicher Anwesenheit stets verwirrt zeigt, spielt auch das Bekifftsein perfekt. Genauso mitreißend weiß Hanif Jeremy Idris die Coolness, unschuldig aufglimmende Sexualität, intellektuelle Überlegenheit und Sensibilität Melchiors in seiner Darstellung zu vereinen. Annegret Taube als Wendla, Franziska Theiner als Martha und Caroline Betz als in der Liebe erfahrene Ilse wissen den Grenzbereich zwischen hysterisch kichernden Hühnern und schon erwachsener zarter Annäherung an das anderer Geschlecht bis hin zu sexueller Begierde glaubhaft auszuloten. Und auch Martin Frolowitz überzeugt als Hans, der in seiner noch kindlichen Albernheit und doch schon homoerotischen Träumerei einsam bleibt.

Alles gut und schön so weit, wenn nicht „Frühlings Erwachen“ über dem Abend stünde. Wedekinds Gesellschaftskritik hatte eine knallharte Zielrichtung: Die Eltern werden aus Prüderie und verlogener Sexualmoral zu Mördern ihrer Kinder. Wedekind kämpfte für die Befreiung des Sexus in Zeiten, da der Großteil der Gesellschaft sich beim Gedanken, „die Krone der Schöpfung“ sei triebgesteuert, noch angewidert abwandte. Calis geht von der Beseitigung solcher Missstände aus. Darin entschärft er aber die Vorlage. Angesichts von Berichten, die von Jugendlichen handeln, die ihren Umgang mit Sexualität aus Pornofilmen im Internet lernen, angesichts der Zwänge normierter Sexualität, der Debatten über Vergewaltigung und „Pille danach“, angesichts zur Prostitution gezwungener Jugendlicher, Missbrauchskandale und Kinderpornographie gäbe es genügend Ansätze, die Gesellschaftskritik in „Frühlings Erwachen“ auf die veränderten Zustände zu übertragen: Themen, denen sich Wedekind selbst heute wohl auch zugewandt hätte.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 18.2.2013. Premiere war am 15.2. Die nächsten Aufführungen: 16. und 22. März an der WLB-Studiobühne am Zollberg.

Samstag, 16. Februar 2013

Frischer Wind mit der nimmersatten Liebe

Der Tenor Werner Güra mit einem Liederabend bei der Hugo-Wolf-Akademie

Stuttgart - Werner Güra ist ein lyrischer Tenor von hohem Rang: Kunstliedexperte mit weichem, sattem, warmem Timbre und bemerkenswert deutlicher Textartikulation. Dass ihm reiche Farben über seinen gesamten Stimmumfang zur Verfügung stehen, davon konnte man sich auch jetzt beim Liederrezital der Internationalen Hugo-Wolf-Akademie in der Stuttgarter Staatsgalerie einen Eindruck verschaffen. Einzig bei den höchsten Tönen zeigte Güra leichte Schwächen; hier kraftstrotzte er ein wenig oder ließ sie in plötzlicher Zaghaftigkeit tonlos verglimmen.

Ausdrucksvoll ist Güras Stimme immer, keine Frage. Doch was die Gestaltung der Lieder, was die Textausdeutung betrifft, dürfte man von einem Sänger dieses Ranges ein bisschen mehr erwarten, als er an diesem Abend mit Liedern der französischen Romantiker Reynaldo Hahn und Henri Duparc sowie Franz Schuberts und Hugo Wolfs zu bieten bereit war. Hahns barockisierendes „À Chloris“ oder Duparcs „Extase“ - sinnliche, emotionale Farbenstücke - gerieten zu schönen, aber viel zu abgeklärten Stimmungsbildern. Und durch die innere Gelassenheit, die Güra über weite Strecken an den Tag legte, fehlte Schuberts „Alinde“ oder „Der Fischer“ der spannungsvolle Aufbau.

Eine gewisse Gleichförmigkeit in der Gestaltung überlebte die Pause und ging dann auf Hugo Wolfs Mörike-Vertonungen über. Erst im Lied über die „Nimmersatte Liebe“, die „mit Küssen nicht zu stillen“ ist, kam plötzlich ein frisches Lüftchen auf in der schläfrigen Atmosphäre des Abends. Jetzt war Ironie, Witz, Humor angesagt, jetzt zeigte Güra endlich differenzierende Gestaltungsfreude durch musikalische Zuspitzung, leichte Übertreibung, Stimmverstellung und brachte dadurch das Publikum wenn nicht zum Lachen, so doch zum Schmunzeln: ob im „Tambour“, in dem ein hungernder Regimentstrommler sich die Schmankerl der mütterlichen Küche herbeiträumt, oder in der „Storchenbotschaft“, in der der Klapperstorch die Schäfersfamilie gleich im Doppelpack besucht und dementsprechend Zwillinge zurücklässt.

Begleitet wurde Güra von seinem langjährigen Klavierpartner Christoph Berner: ein Mann mit Sinn für die kontrapunktische Funktion des Klaviers, fähig zu französischem Farbenrausch ebenso wie zu klassischer Klarheit und zu witzigen Tonmalereien.

Dass die Klangbalance zwischen Pia­nist und Sänger nicht immer stimmte, dass Berner gelegentlich etwas zu laut wurde, mag an der problematischen Akustik des Vortragsraumes in der Stuttgarter Staatsgalerie gelegen haben - ohnehin ein Ort, der auch atmosphärisch nicht wirklich für einen Konzertabend geeignet scheint.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 16.2.2013. Das Konzert fand statt am 14.2.

EDUARDAS UNIVERSUM

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Wer ist Eduarda?

Eduarda bin natürlich ich! Diesen Spitznamen verpasste mir ein Freund in meiner Anfangszeit als Musikkritikerin in Erinnerung an den berühmten Eduard Hanslick.

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