Dienstag, 8. Februar 2011

Das gekaufte Kind

Gerhart Hauptmanns Sozialdrama "Die Ratten" am Alten Schauspielhaus Stuttgart

Das Familienglück muss verteidigt werden, notfalls mit Gewalt: (von links) Herr John (Ralf Stech), Frau John (Stefanie Stroebele) und Bruno (Jens Woggon). Foto: Beate Zoff.

Stuttgart - In den alten Berliner Wohnanlagen ehemaliger Arbeiterviertel sind Ratten auch heute noch präsent. Man hört sie gelegentlich des Nachts in den Zwischenwänden knabbern, und in nicht sanierten Häusern steigen sie manchmal aus der Kanalisation über die Toilette zu den Menschen hinauf. Dann muss der Kammerjäger kommen.

So scheu wie heute traten die ­schlauen Überlebenskünstler in Berliner Mietskasernen der Jahrhundertwende nicht in Erscheinung. Als dreiste Nager an den Fundamenten der menschlichen Behausungen hat Gerhart Hauptmann sie dann auch in seinem Sozialdrama "Die Ratten" von 1911 zum Symbol einer moralisch unterhöhlten Gesellschaft mutieren lassen, die aus dem Gleichgewicht geraten ist. Im Hinterhof-"Milljöh" spielen sich Tragödien ab, vor denen das situierte Bürgertum die Augen verschließt. Am Ende sind zwei Tote zu beklagen.

Komisch und tragisch


Am Stuttgarter Alten Schauspielhaus hatte diese "Berliner Tragi­komödie", so der Untertitel, jetzt in einer sehenswerten Inszenierung von Manfred Langner, dem Intendanten der Schauspielbühnen Stuttgart, Pre­miere. Die Aktualität der "Ratten" in Zeiten, da die Diskrepanz zwischen Arm und Reich immer größer wird, ist offensichtlich. Und Beate Zoff hat das sensibel in ihr Bühnenbild einfließen lassen: Ein auf die Spitze gestelltes riesiges Quadrat - in der Mitte geteilt - steht als Bild für die gefährdete soziale Balance in unserer Gesellschaft. Oben blickt man in einen Speicher, wo der abgehalfterte Theaterdirektor Hassenreuter seine staubige Kostümkollektion aufbewahrt, sich regelmäßig mit Gespielinnen verlustiert oder mit seinem Schauspielschüler Spitta absurde Diskussionen über Theaterästhetik führt, während sich unten, in der schäbigen Küche des Maurerpoliers John und seiner Frau, Tragödien abspielen.

Frau John hat sich nämlich in den Kopf gesetzt, sich über den Verlust des eigenen Kindes mit dem Neugeborenen der alleinstehenden polnischen Putzfrau Piperkarcka hinwegzutrösten, auch um ihre Ehe zu retten. Die John dringt solange auf das verzweifelte Mädchen ein, bis diese ihren Nachwuchs für Geld hergibt. Die John gibt das Kind als ihr eigenes aus. Der auf Montage arbeitende Gatte glaubt‘s, und das Familienglück scheint perfekt. Da will die schuldbewusste Piperkarcka ihr Kind zurück. Die John will es aber partout nicht hergeben und hetzt ihren Bruder Bruno zwecks Einschüchterung auf die eigentliche Mutter. Bruno kann nicht anders: Er bringt Piperkarcka um. Nachdem ihr Lügengerüst zusammengebrochen ist, hängt sich die John im Dachstuhl auf.

Gespielt wird eine gekürzte, inhaltlich dezent an die Gegenwart angepasste, aber im originalen Berliner Soziolekt gesprochene Fassung. Eindeutig hat sich Manfred Langner aber nicht für eine zeitliche Verortung entschieden. Die Kleidung etwa ist heutig, während sich gerade in der Person des Theaterdirektors - etwa in seiner antiquierten Auffassung von Theater - vergangene Zeiten offenbaren: Niemand steht heute mehr an der Rampe und skandiert die Monologe der Klassiker mit hohlen ­Gesten.

Die tragische Ebene, die wie in der antiken Tragödie unausweichlich auf die Katastrophe zusteuert, gelingt an diesem Abend eindrücklich. Dass dagegen die ohnehin problematische komische Seite der "Ratten" im Ohnesorg-Theater steckenbleibt, stärkt die Schwächen des Stücks, in dem Komödie und Tragödie nebeneinander ablaufen und sich nicht verschränken wollen, wie es in der Tragikomödie eigentlich der Fall ist. Oft zu überkandidelt und eindimensional agieren hier die Darsteller: die Theaterdirektorentochter Walburga, die eigentlich die einzige Mitfühlende unter den Bessergestellten bleibt (oft etwas albern: Carolin Elsner), auch der Student Erich Spitta (mit Hang zur Übertreibung: Stefan Rosenthal), die drogenabhängige Selma Knobbe (oft schrill lamentierend: Martine Schrey) und der Hausmeister (ständig kaugummiknatschend: Christian Sunkel).

Nager auf zwei Beinen

Ansonsten offenbart die Inszenierung viel Sinn sowohl fürs handfeste Komödiantentum als auch für den Aufbau tragischer Spannung. Andreas Klaue kann als eitler, geistig betonierter, sich ständig selbst überschätzender Theaterdirektor gerade im Zusammenspiel mit seinem Schauspielschüler Spitta (Stefan Rosenthal) sein komisches Talent entfalten - das ist unterhaltsam, auch wenn der Rolle durch boulevardeske Verharmlosung jede Gefährlichkeit entzogen wird.

Ein sicheres Händchen für die Besetzung von Typen beweist der Regisseur nicht nur in diesem Fall. Ralf Stech als rechtschaffener, treusorgender Familienmensch John überzeugt genauso wie die langsam aus der Spur geratende, in ihrem Wollen hysterisch ambitionierte und am Ende daran zerbrechende Frau John alias Stefanie Stroebele. Authentisch und darin sehr berührend spielt Nora Huetz die Piperkarcka, und Jens Woggon als Bruno ist die eigentliche Ratte im Stück: Während die Nagetiere ansonsten nur durch leises Fiepen oder als Plüschtiere in Lebendfallen in Erscheinung treten, ist Bruno der eigentliche Bote des drohenden Unheils, der statt der Ratten aus dem Kellerverschlag kriecht: gefährlich, zwielichtig, leicht debil. Ein ­lebendes Pulverfass.

Aufführungen bis 12. März täglich außer sonntags um 20 Uhr.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 8.2.2011. Premiere war am 3.2.

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