Samstag, 8. November 2014

Erinnerungen ans Glück

Der russische Pianist Grigory Sokolov mit einem brillanten Konzert im Stuttgarter Beethovensaal

Stuttgart - Grigory Sokolov steuert schnurgerade auf den Flügel zu. Abgedunkelt ist der Stuttgarter Beethovensaal, die Bühne im Dämmerlicht. Sokolov dreht sich schon beim Verbeugen in die Arbeitshaltung des Pia­nisten, ernst, ohne Lächeln, und überträgt den Schwung der Bewegung in den ersten Ton des Präludiums, das Johann Sebastian Bachs B-Dur-Partita eröffnet. Und schon ist man drin im Hörsog seines Klangkosmos, in einer anderen Welt, einer anderen Logik, und doch einer, die wohl jeder versteht, ob Laie oder Profi - so intensiv, dennoch selbstverständlich, so über jede technische Schwierigkeit erhaben, so emotional durchwirkt, dennoch durchdacht formt Sokolov die Gedanken, die polyphonen Geflechte, die Melodien.

Atemlos reihen sich die vermeintlichen Tanzsätze aneinander, sanft, schwungvoll, weich, um endlich zur Sarabande zu gelangen, das der russische Pianist als den gewichtigsten Satz der Suite herausarbeitet: als ihr schwermütig pochendes Herz - Memento mori. Auch die folgenden Menuette verdunkelt die Seele des Melancholikers. Und der finalen Gigue, hell, quirlig, leicht hingetupft, verpasst Solokov Beethoven’sche Dramatik. Geschickt, denn es folgt dann ja Beethoven - in Gestalt seiner frühen D-Dur-Sonate op. 10 Nummer 3.

Auch diese baut Sokolov um den langsamen zweiten Satz herum, das „Largo e mesto“, das Zentrum wird: selbstvergessen, versunken, voller Weltschmerz. Beethovens Impulsivität überführt der Russe in den schnellen Sätzen in zackig gesetzte Kontraste, deutliche Akzente und zielgerichtete Crescendi, die pointiert abgeschlossen werden. Überrascht wird das Ohr vor allem durch plötzliche sehr, sehr leise, dennoch feinste Abschattierungen. Bach und Beethoven - Ähnliches ausdrücken mit anderen Mitteln: Sokolov macht sie zu Brüdern im Geiste. Das ist nicht ganz historisch, aber legitim, wenn man Sokolov als einen Romantiker durch und durch versteht. Als einen, der die Musik als ein eigenes Reich betrachtet, in das er während der Dauer des Konzerts abtaucht und sein Publikum mitreißt. Eine Welt, in dem sich der Künstler dem Unaussprechlichen annimmt, der unstillbaren Sehnsucht, den unendlichen Ahnungen.

Ja, Sokolov, der stille Verweigerer jeglichen Starrummels, ist ein Romantiker. Weswegen Chopins h-Moll-Sonate zum Höhepunkt des Abends wird. Der 64-Jährige, gedrungen, gebeugt, längst weißhaarig, spielt das Werk eines 34-Jährigen als große Herbststurmsonate. Der Introvertierte erzählt vom ersten Ton an die Geschichte eines Lebens. Was wäre alle Musik, wenn ihr nicht auch der große Schmerz innewohnen würde? Die Erkenntnis der Endlichkeit, Erfahrungen des allgegenwärtigen Todes. Sokolov sinniert, erinnert, reflektiert. Lässt Furor als Lebensenergie aufbrausen und wieder verschwinden. Lässt den poetischen Augenblick wirken, innehalten in der schönen Melodie: flüchtige Erinnerungen ans Glück, dann wieder gedämpfte Lebensfreude, Liebe, Einsamkeit. Farben, Nuancen, Schattierungen zeigt er, in denen man Skrjabin und Janacek herauszuhören meint. Kann man Chopin besser spielen, ergreifender? Atemlos lauscht das Publikum. Es ist diszipliniert. Es weiß: Jeder Huster würde dieser hermetischen, vielbedeutenden Klangwelt Risse verpassen.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 7. November 2014.

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