Montag, 20. Dezember 2010

Polyphones Donnerwetter

Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR mit Werken Sergei Prokofjews

Stuttgart - In eine faszinierende, irritierende, grelle Klangwelt tauchten die Zuhörer am Freitag in der Stuttgarter Liederhalle ein: In Sergei Prokofjews dritter Sinfonie aus dem Jahre 1928 fließen mehrere Klangschichten übereinander. Disparate Gedanken eigentlich, die sich in lärmenden Klangballungen zusammenfügen, dunkel, gewalttätig, eruptiv. Im Untergrund pulsieren stets die Maschinen, deren Motorik mal marschmäßig überhand nimmt oder dezent vor sich hin rattert. Atmosphärisch steht die Dritte ganz im Lichte des "Tanzes des Stahls", wie ein kurz zuvor entstandenes Ballett Prokofiews heißt.

Weil das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR ein besonderes Faible für moderne Klänge hat, wurden die unterschiedlichen Schichten auch gut hörbar. Der amerikanische Dirigent James Gaffigan sorgte für den großen Bogen und die Bändigung des hochkomplexen Materials und animierte das Orchester zu beeindruckender Transparenz im polyphonen Donnerwetter.

Mit Prokofiews erstem Violinkonzert (von 1916/17) wurde es dann klassizistisch klar. Die Solistin Carolin Widmann fand nach kleinen Anfangsschwierigkeiten zu einem inspirierten Spiel in diesem weniger emotional als vielmehr rhythmisch ambitionierten Dreisätzer, der eher auf fahle, harte Klanglichkeit setzt, denn auf verträumte Kantilenen und spätromantischen Schmelz. Letzteres tritt erst im Finale sachte in Erscheinung.

Flankiert wurden die beiden Werke von Franz Liszts "Mephisto-Walzer" Nr. 1 und Richard Strauss' "Tanz der sieben Schleier" aus der Oper "Salome". Eine dramaturgisch kluge Wahl in diesem Konzert der Kulturgemeinschaft, weil sich die plastische, farbige Bildlichkeit der beiden Werke wunderbar mit dem hochexpressiven, kühlen Sog Prokofjews ergänzte. Dass Strauss' Salome-Tanz im Vergleich zu den Kompositionen des Russen recht traditionalistisch wirkte, daran konnte Prokofjew – hier Welten entfernt von seinen populären Stücken "Peter und der Wolf" oder der "Symphonie classique" – nur gewinnen.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 20.12.2010. Das Konzert fand statt 17.12.

Samstag, 18. Dezember 2010

Schatten und Licht

Die Münchner Philharmoniker mit Thomas Hengelbrock und Sergei Khachatryan beim Stuttgarter Meisterkonzert

Sergei Khachatryan
Sergei Khachatryan

Stuttgart - Sergei Khachatryans Stradivari ist eine glückliche Geige: Denn der junge Armenier greift so feinfühlig und so ausdrucksstark zu, dass sich dies auf Dauer einfach veredelnd auf die Seele des Instruments auswirken muss. Selbst im allerleisesten Piano schwingt und singt der Ton und trägt weit. Im jüngsten Meisterkonzert mit den Münchner Philharmonikern in der Leitung von Thomas Hengelbrock in der Stuttgarter Liederhalle bewies Khachatryan seine Klasse in Dmitri Schostakowitschs zweitem Violinkonzert. Dessen unterschiedliche Tonfälle, die zwischen Trauergesang, Wut und Groteske changieren, berührten unmittelbar, weil es dem 25-Jährigen gelang, jeden Ton in all seinen möglichen emotionalen Facetten und Farben ganz auszuleuchten und zu durchdringen.

Die Kommunikation mit den Münchner Philharmonikern funktionierte perfekt, was für dieses Werk und seine kammermusikalische Tendenz, die für den Spätstil Schostakowitschs so typisch ist, unabdingbar ist. So ging der erste Satz in seiner plastisch und dramatisch artikulierten Auseinandersetzung zwischen Sologeige und Orchester genauso nahe wie der gemeinsame, unendliche Trauergesang des Adagios und das dialogisierende Finale, eine zwischen Witz und Bedrohung wechselnde Groteske. Keine Frage: Von Sergei Khachatryan wird man noch viel hören.

Vor dieser auf das Wesentliche reduzierten Musik hatten die Münchner im Orchesterstück „Malebolge“ des britischen Komponisten Simon Wills, Jahrgang 1957, ausgiebig Gelegenheit, ihr instrumentales Farbspektrum voll zur Entfaltung zu bringen. Das Werk, in dem sich der Komponist auf Dantes „Göttliche Komödie“ bezieht, genauer auf den achten Kreis der Hölle, fährt enorme Klangkulminationen auf und hält das ganze Orchester konsequent auf Trab - in einer stilistischen Mischung quer durch die Jahrhunderte.

So richtig auftrumpfen konnten die Münchner aber vor allem in Schuberts Großer C-Dur-Sinfonie. Aus der ungewöhnlichen Sitzordnung - links die ersten Geigen, Celli und Bässe, rechts die zweiten Geigen und Bratschen und als geschlossener, jetzt sehr homogener Block die Bläser in der Mitte - ergaben sich überraschende, feine Farbmischungen vor allem im Bläsersatz und wirkungsvolle räumliche Effekte.

Im Kopfsatz und im Finale dominierten die donnernden Gesten, was das Orchester aber nicht davon abhielt, gelegentlich die für Schubert typischen harmonischen Schatten-Lichtspiele genüsslich auszukosten. Etwas zu blockhaft und marschmäßig und zu hart akzentuiert geriet das Andante con moto. Nicht nur im Scherzo, sondern tendenziell in allen Sätzen sorgte Thomas Hengelbrock für vorantreibende Tempi und den Blick nach vorn.

Die Spielfreude und der Elan des Orchesters rissen das Publikum ganz offensichtlich mit. Zwischen den Sätzen hörte man immer wieder bewunderndes Tuscheln. Am Ende gab's dicken Applaus.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 18.12.2010. Das Konzert fand statt am 16.12.

Freitag, 10. Dezember 2010

Freiheit versus Staatsräson

Vor der Premiere: Donizettis „Maria Stuarda“ konzertant an der Stuttgarter Staatsoper

Singt die Rolle der Königin Elisabeth: Mezzosopranistin Ezgi Kutlu (Foto: Stuttgarter Staatsoper)
Mezzosopranistin Ezgi Kutlu

Stuttgart - Die italienischen Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts hegten eine besondere Vorliebe für Schillers Dramen: vor allem wegen ihrer politischen Themen und moralischen Konflikte. Berühmt sind heute vor allem Gioachino Rossinis „Wilhelm Tell“ und die „Don Carlos“-Adaption von Giuseppe Verdi, der noch drei weitere Schiller-Dramen vertonte: „Die Jungfrau von Orléans“, „Die Räuber“ und „Kabale und Liebe“ (bei Verdi: „Luisa Miller“); letztere hatte kürzlich an der Stuttgarter Staatsoper Premiere.

Jetzt widmet sich die Staatsoper einer weiteren Schiller-Oper: Donizettis romantischer Belcanto-Oper „Maria Stuarda“, in der es um den Machtkampf zwischen der englisch-protestantischen Königin Elisabeth I. und ihrer Gefangenen, der schottisch-katholischen Renaissance-Fürstin Maria Stuart, geht. Eine Auseinandersetzung, die mit dem Tod der Titelheldin auf dem Schafott enden wird.

„Maria Stuarda“ brachte dem Komponisten kein Glück. Kurz vor der Uraufführung 1834 wurde sie von der Zensur verboten. Dabei wurden wohl Inhalte beanstandet, mit denen sich schon Schillers bei der Uraufführung des Trauerspiels 1800 Ärger eingehandelt hatte: etwa das frei erfundene Zusammentreffen der beiden Rivalinnen, in dem Elisabeth, die in den engen Grenzen ihrer Rolle als weibliche Monarchin gefangen bleibt, schlecht wegkommt gegenüber Maria Stuart. Die findet zu einem selbstbestimmten Leben, nachdem sie sich über jegliche Todesangst hinweggesetzt hat. Staatsräson versus innere Freiheit: Ein solches Thema musste die Zäsurbehörden hellhörig machen.

Als das mehrfach umgearbeitete Libretto die Zensur endlich passieren konnte, hatte sich das Werk vom Original so weit entfernt, dass es keine Überlebenschance mehr hatte. Wiederentdeckt wurde „Maria Stuarda“ erst im Zuge der Donizetti-Renaissance in den 1960er-Jahren.

Die Stuttgarter Staatsoper bringt „Maria Stuarda“ aus Kostengründen jetzt konzertant auf die Bühne. Die Rolle der Königin Elisabeth hat die junge türkische Mezzosopranistin Ezgi Kutlu übernommen. In Ankara geboren und aufgewachsen, dort und in den USA musikalisch ausgebildet, lebt und arbeitet sie seit drei Jahren in Deutschland, wo sie als Ensemblemitglied der Nürnberger Staatsoper begann und jetzt freischaffend tätig ist. In Nürnberg sei sie die einzige lyrische Mezzosopranistin am Haus gewesen, so Kutlu. Da sei keine Zeit für die so wichtigen Gastspiele geblieben. Ezgi Kutlu war in Stuttgart schon mehrmals zu hören: als Ragonde in Rossinis „Le Comte Ory“, als dritte Dame in der „Zauberflöte“ und als Annio in Mozarts „La clemenza di Tito“. Die 30-Jährige singt die Elisabeth zum ersten Mal. Kutlu mag die Rolle, nicht nur weil sie ebenfalls an einem 7. September geboren wurde. Es mache einfach Spaß, jemanden zu spielen, der so ganz anders ist als man selbst. „Gegenüber den Sopranen dürfen wir Mezzosoprane die interessanteren Charaktere spielen: die Hosenrollen, die bösen Weiber - und nicht immer die ach so unschuldigen, weichen Frauen, die dann sterben müssen. Es gibt viel mehr Farben.“

Auch wenn auf der Bühne gerne Schwarz-Weiß gemalt werde, Elisabeth eben die Hexe sei und Maria der unschuldige Engel: In der Realität gebe es tatsächlich viel mehr Grautöne im Menschen, aber für die Dramatik sei das Plakative eben nun mal das Wirkungsvollere.

Vorbericht für die Eßlinger Zeitung vom 10.12.2010. Die Premiere beginnt an diesem Sonntag um 15 Uhr im Opernhaus.

Montag, 6. Dezember 2010

Kämpferische Träume

Finale beim Stuttgarter Theaterfestival SETT mit deutsch-mosambikanischer Produktion

Martin König (Tom), Yahi Nestor Gahe (Vater von Tom), Steve Bimamisa (Musiker), Cathrin Zellmer (Marie), Lucrécia Paco (Mutter von Tom). Foto: Stefan Kirchknopf

Stuttgart - Am Ende griff man auf den Anfang zurück: Das politisch ambitionierte zweiwöchige Stuttgarter Europa-Theater-Treffen (SETT), das seit 1993 alle zwei Jahre von der Tri-Bühne veranstaltet wird, ging jetzt mit der Produktion „Kämpferische Träume“ zu Ende, mit deren Uraufführung das Festival begonnen hatte. In dem Stück der mosambikanischen Schriftstellerin Paulina Chiziane wird das diesjährige Thema des Festivals - „Symphonie des Geldes“ - in einer liebenswürdigen Romeo-und-Julia-Geschichte mit Happy End verarbeitet, die in Namibia spielt, wo die Apartheid zwar offiziell beendet ist, aber in den Köpfen und vor allem in der „Apartheid des Geldes“ weiterlebt: Tom, ein Landarbeiter, liebt Marie, die Tochter eines deutschstämmigen Großgrundbesitzers, für den er schuftet. Und Marie liebt Tom. Er ist bitterarm und schwarz, sie ist reich und weiß. Beide könnten eigentlich nicht zueinanderkommen, die Eltern verbieten der Tochter jeglichen Kontakt.

Aber als Marie schwanger wird, flieht sie mit Tom zu dessen Eltern, die über die Liaison zunächst auch nicht gerade glücklich sind, sie dann aber liebevoll aufnehmen. Hier lernt Marie, mit bitterer Armut zu leben. Doch es tut sich was in ihrer neuen Heimat, dem kleinen Dorf Otjivero, das es tatsächlich gibt. Hier startete ein Pilotprojekt mit der Einführung eines kleinen, bedingungslosen Grundeinkommens für jeden, das nicht nur kurzfristig die Not lindern, sondern auch neues Potenzial freisetzen soll hin zu einer selbständigen Arbeit. Die macht selbstbewusst. Am Ende des Stückes steht der Widerstand gegen die Ausbeutung.

Mitreißende Energie

Die Tri-Bühne-Intendantin Edith Koer­ber hat „Kämpferische Träume“ selbst inszeniert: mit Schauspielern der Tri-Bühne und des Teatro Avenida aus Maputo in Mosambik. Und aus dieser Kooperation nährt sich die mitreißende Energie dieser Produktion. Zwar wird die Rolle des Tom von Martin König gespielt, der mit dunkler Farbe angemalt ist - das wird gewiss ironisch reflektiert, wirkt dennoch im Rahmen einer Koproduktion mit einem afrikanischen Theater befremdlich.

Aber mit der Mosambikanerin Lucrécia Paco und Yahi Nestor Gahe von der Elfenbeinküste als Eltern von Tom hat man ein quirliges Darstellerpaar gefunden, das durch lustige Tanzeinlagen und afrikanische Gesänge für gute Stimmung und Wärme sorgt und durch veritable Slapstickeinlagen überrascht - etwa wenn beide nacheinander beim Anblick der zukünftigen weißen Schwiegertochter wie ein Brett nach hinten kippen und auf den Bühnenboden donnern. Bis dahin hatte es der parabelartigen Erzählung der Liebesgeschichte ein wenig an Tempo gefehlt, auch wenn Cathrin Zellmer die unschuldig mädchenhaften Rolle der Marie überzeugend gestaltet.

Koerbers Inszenierung schafft mit einfachen Mitteln Atmosphäre. Im Hintergrund leuchten die Umrisse des afrikanischen Kontinents auf. Auf der Bühne von Renáta Balogh wird mit buntgemusterten afrikanischen Stoffen, mit Holz, Blech und Pappe gearbeitet. Für feine Stimmung sorgt auch die Musik von Steve Bimamisa (Gitarre) und Sebastian Huber (Bass, Djembé).

Wirklich virtuos ist in dieser Produktion der Umgang mit den vielen Sprachen: Alle Mitwirkenden sprechen in ihrer Heimatsprache - also deutsch und verschiedene afrikanische Sprachen. Die Rahmenerzählung wird auf Portugiesisch, in der Amtssprache Mosambiks, präsentiert, auch Englisch und Französisch sind zuweilen zu hören. Und alles wird übersetzt. Aber nicht durch ablenkende Übertitel oder per Kopfhörer, sondern durch einen Kunstgriff. Koerber hat eine zusätzliche Rolle geschaffen: Bettina Kenter als deutsch sprechendes alter ego der Erzählerin Lucrécia Paco. Beide kommen sich im Spiel gelegentlich in die Wolle, etwa wenn Kenter übersetzt: „Ich bin die Mutter“. Dann erwidert Paco - auf Deutsch - spaßig: „Nein, ich bin die Mutter!“.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

Dass diese Produktion aus dem Geiste der Aufklärung geboren ist, offenbarte nicht nur das Vorspiel von Géza Révay, „Letzte Ausfahrt Otjivero“, in dem das furchtbare Leiden des südwestafrikanischen Volkes unter der Christianisierung und der deutschen Kolonialherrschaft thematisiert wird. „Liberté, Égalité, Fraternité“ singen alle Mitwirkenden auf der Bühne und tanzen fröhlich dazu.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 6.12.2010. Die besprochene Aufführung fand statt am 3.12.

Fische blubbern auch beim Nachtgesang

Abschied des Stuttgarter Ensembles Exvoco im Kunstraum 34

Großes Finale im Kunstraum 34 in der Filderstraße: Im Rahmen des Festivals "Klangraum" feierte das 1972 gegründete Stuttgarter Vokalensemble Exvoco seinen Abschied von der Bühne. In einem Vierstundenprogramm gaben das Gründertrio Ewald Liska, Theophil Maier und Hanna Aurbacher, die kürzlich ihren 80. Geburtstag feierte, und die fünf jüngeren Ensemblemitglieder noch einmal einen Einblick in ihr Riesenrepertoire an witzig-pointierter, klangpoetischer Wortmusik – darunter auch Schwitters ulkige "Ursonate", Morgensterns nur aus organisiertem Blubbern bestehender "Fisches Nachtgesang" oder Hans Arps sprachverwirrtes "Und stösselt abermals". Neben den Stimmbändern kamen auch Radieschen, Sägen und Manchego-Käse zum Einsatz. Im Zentrum der großen Klang-Party stand die "Message", die die Komponistin Adriana Hölszky einst Liska und Aurbacher gewidmet hat. Ein großartiges Werk, das neben kommunikativer Stimmvirtuosität und gewaltigen elektronischen Effekten auch zahlreiche Klangrequisiten wie murmelnde Marmeladengläser oder Glasscheiben in Wasserbecken fordert.

Im Zwischenspiel mit Soloperformances der jüngeren Kollegen unterhielt Liska-Sohn Urs am Klavier mit zoologischen Studien von Vittorio Rieti, Angelika Meyer mit Cathy Berberians comicsprachlicher "Stripsody", Monika Meier-Schmid mit Satie-Chansons und Berthold Schmid mit Schönbergs pointierten "Brettl-Liedern". Mit seinem "Tusch", dem Sprung auf ein Holzbrett, das auf vier Plastikbechern ruht, hatte Dieter Mack schon zuvor für Lacher gesorgt. Bariton Frank Wörner und Perkussionist Michael Kiedaisch überraschten dann mit einer wundersam exotischen Improvisation aus Obertongesang und mystischem Trommeln, bevor es mit Max Benses "Rosenschuttplatz" ins furiose Tutti-Finale ging. Ein starker Abschied, der freilich ein wenig Wehmut hinterlässt.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 6.12.2010. Der Abend fand statt am 4.12.

Samstag, 4. Dezember 2010

Die Kunst der Verwandlung

Kulturübergreifend: Herbie Hancock und Band mit einer Live-Version ihres „Imagine“-Projekts im Stuttgarter Hegelsaal

Der Meister mit der Keytar: Herbie Hancock entlockt seinem Umhänge-Keyboard auch mal jaulende Gitarrenklänge. Foto: dpa

Stuttgart - Als Zugabe spielten Herbie Hancock und seine Band im Hegelsaal der Stuttgarter Liederhalle sein funkiges „Chameleon“. Ein Titel, der das Wesen des Jazz glänzend umschreibt. Dient doch der Farbwechsel des Chamäleons nicht nur der Tarnung, sondern vor allem der Kommunikation mit den Artgenossen. Nicht anders der Jazz. Auch er kann sich jederzeit verwandeln. Er ist die Kunst der Fusion im Dienste des kulturellen Austauschs, er kann jeden Stil integrieren.

Jazzpuristen haben Hancock seine Ausflüge in die Pop-Musik trotzdem übel genommen. Aber der Pianist und Komponist, der kürzlich 70 Jahre alt wurde, sieht das pragmatisch: „Der Jazz muss sich, um in der Zukunft zu überleben, noch viel mehr öffnen“, forderte er einmal in einem Interview.

Bemerkenswertes Stilgemisch

In diesem Jahr tragen seine grenzüberschreitenden Ambitionen sogar politische Früchte. Die universelle Sprache der Musik nutzt Hancock für Friedensbotschaften: für die Einforderung einer globalisierten Welt mit menschlichem Antlitz als produktiven Gegenpol zur zerstörerischen Finanzkrise. So versammelte er für sein „Imagine“-Projekt Musiker aus verschiedenen Kulturen und coverte mit ihnen Hits von Kollegen - in einem bemerkenswerten Stilgemisch aus Jazz, Pop und Folklore. Mit dabei waren so gegensätzliche Künstler wie Anoushka Shankar, Seal, Pink, Jeff Beck, Los Lobos oder Oumou Sangare.

In Stuttgart beendete Hancock jetzt seine Deutschlandtournee zum „Imagine“-Projekt. Sechs Songs des Albums bildeten das Gerüst des Abends. Allerdings nicht in der Promi-Studiobesetzung, sondern dargeboten von einer junge Sängerin aus Georgia, Kristina Train, deren Stimme zwar sehr kräftig und laut ist, der aber ein wenig die vibrierende Geschmeidigkeit fehlt, die Jazz-Gesang fordert. Zudem musste man sich bisweilen mit Teilplaybacks behelfen: So bereicherten in der Multi-Kulti-Version von John Lennons „Imagine“ afrikanische Daumenklaviere von der Festplatte den Sound, und plötzlich war auch Oumou Sangare zu hören. In der Irish-Folk-Version von Bob Dylans „The times they are a-changin‘“ griff Kristina Train selbst zur Fiddle, Tin whistle und Dudelsack waren im Synthesizer von Greg Phillinganes gespeichert.

Fetzig und funkig

Doch Hancock wäre nicht Hancock, wenn er es bei der Live-Reproduktion der „Imagine“-Scheibe beließe und auf puren Jazz ganz verzichtete. So wechselten sich die globalen Ausflüge mit groovigen, fetzig-funkigen Jazznummern ab, in denen die Mitstreiter auf der Bühne ihr Welt-Niveau offenbaren konnten. Ob in „Watermelon man“ oder einem Medley aus anderen Hancock-Klassikern wie „Maiden Voyage“, „Dolphin Dance“ oder „Cantaloupe Island“: Trevor Lawrence junior an den Drums faszinierte durch sein spektakulär fein differenziertes, changierendes, ornamentales rhythmisch-metrisches Gewebe, während James Genus seinen E-Bass menschenstimmenähnlich in irrsinnig geschwindem Tempo plappern ließ. Wenn auch Greg Phillinganes an den Keyboards den Gesamtklang gelegentlich zu sehr in Synthesizer-Sahne schwimmen ließ, so gab er mit Sam Cookes souligem „A change is gonna come“ eine respektable Kostprobe seiner Sangeskunst.

Der Meister selbst, der zwischen bizarrer Keytar - einem Umhänge-Keyboard -, Korg-Synthesizer und klassischem Flügel wechselte, unterhielt neben seinen virtuosen Klavierimprovisationen, neben perlenden Licks und quirliger Polyrhythmik auch mit musikalischer Mimikry, indem er der Keytar jaulende Gitarrenklänge entlockte und dem Synthie Trompetenfanfaren.

Mehr Spaß als Melancholie

Der Höhepunkt war aber Hancocks ausgedehnte Improvisation am Flügel, bei der die Mitmusiker respektvoll die Bühne verließen. Inspiriert von Joni Mitchells Ballade „Court and Sparks“ ließ Hancock introvertiert und ohne jeden virtuosen Gestus graue Wolken aufziehen, ließ die Töne ziellos wie ein verwehtes Blatt durch den Klangkosmos streifen, wandelte schwermütig auf verwachsenen harmonischen Pfaden und ließ die Konturen in impressionistischem Farbnebel verschwimmen. Wunderbar! Ansonsten blieb die Melancholie aber zuhause. Der Abend wurde vor allem vom mitreißenden Spaß getragen, den die Musiker offenbar miteinander hatten. Davon könnte sich mancher deutsche Kollege eine Scheibe abschneiden.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 4.12.2010. Das Konzert fand statt am 2.12.

Freitag, 3. Dezember 2010

An der Grenze des Möglichen

Tokyo String Quartet im Mozartsaal der Stuttgarter Liederhalle

Stuttgart - Das überholte Ideal eines vollen, expressiv vibrierenden, nebengeräuscharmen Streichquartett-Tones bekamen die Zuhörer im sehr gut besuchten Mozartsaal der Stuttgarter Liederhalle am Mittwochabend nicht zu hören – obwohl das Tokyo String Quartet bereits 1969 gegründet wurde und geschlossen auf Stradivari-Instrumenten spielt. Ein Gründungsmitglied, Kazuhide Isomura, ist heute noch mit dabei: am Pult der Bratsche. Die anderen Positionen haben gewechselt. Martin Beaver spielt seit 2002 die erste Geige, Kikuei Ikeda seit 1974 die zweite und Clive Greensmith seit 2000 das Cello.

Das Quartett pflegt einen modernen, individuellen, fein differenzierenden Sound, der sofort aufhorchen lässt: Die vier suchen nach Farben, hören sehr genau aufeinander. Man geht an die Grenzen des Möglichen – zuweilen hart, geräuschhaft und risikofreudig in Sachen Intonation. Gerne bewegen sich die Bögen nahe am Steg oder am Griffbrett, weswegen fahle Farben dominieren. Ein Klang, den man unter vielen Quartetten schnell heraushört. Nicht allen Kompositionen tut er aber gut.

Das Es-Dur-Quartett D 87 des erst 16-jährigen Schubert gewinnt an emotionaler Tiefe: Über seinen jugendlich frischen, klassisch hellen Geist fällt ein dunkler Schatten. Die bleichen Farben, die die Musiker wählen, die zarte Melancholie, die jeden freundlichen Gedanken verdüstert, hauchen dem Werk eine gewisse vorauseilende Todessehnsucht ein.

Samuel Barbers h-Moll-Quartett op. 11 berührt am unmittelbarsten. Der berühmte Trauergesang des Adagios, der sooft bebildert wurde oder Bildern unterlegt wurde, entfaltet an diesem Abend ganz ohne Sentimentalität seine betörende Schönheit und seinen erhabenen Ernst.

In Beethovens Quartett op. 127 aber, mit seiner für das Spätwerk so typischen Polarisierung der Charaktere, wirken die emotionalen Ausbrüche gedämmt, die Konturen verhuscht, der Gestus schwebend, eher unverbindlich. Allein der Scherzo-Satz überzeugt in seiner geisterhaften Kahlheit. In diesem Fall hätte eine wenig Saft der alten Schule ganz gut getan.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 3.12.2010. Das Konzert fand statt am 1.12.

Mittwoch, 1. Dezember 2010

Lyriker im Rockgewitter

Peter Maffay mit Band und Orchester in der Stuttgarter Schleyerhalle

40 Jahre Rock'n'Roll: Peter Maffay macht auf seiner Jubiläumstour in Stuttgart Station. Foto: Udo Eberl

Stuttgart - „Du musst mich jetzt aber auch wieder loslassen“, sagt Peter Maffay sanft zu einem Fan, der ihn partout nicht wieder zurück auf die Bühne gehen lassen will. Zum x-ten Male hat sich der Deutschrocker mit Schlagervergangenheit an diesem Abend ein Bad in der Menge gegönnt. Sie haben ihn alle lieb, und es ist bewundernswert, wie es dem drahtigen 61-Jährigen gelingt, in der zugigen Stuttgarter Schleyerhalle, die mit 10 000 Besuchern so gut wie ausverkauft ist, eine richtig familiäre Atmosphäre aufzubauen.

Unbekanntes Land

Maffay ist seit Anfang November auf Deutschlandtournee, mit Band und dem Philharmonic Volkswagen Orchestra in der Leitung von Hans Ulrich Kolf. Maffay feiert sein 40-jähriges Bühnenjubiläum mit einem Querschnitt durch sein Oeuvre, das von seinem ersten Schlagerhit „Du“ von 1970 über Hardrockiges bis hin zu seinem neuen Bluessong „Unbekanntes Land“ reicht. Fast alle Nummern, Neues und Altes in neuem Gewand, sind auf seinem aktuellen Studio-Album „Tattoos“ vereint - seinem mittlerweile 34.

Der „Tabaluga“-Erfinder mit einem Herz für Kinder ist vielseitig, keine Frage. Und mit dem soften Schlaghosen-Image der Anfangszeit hat er längst nichts mehr am Hut. Die tätowierten muskulösen Oberarme geschmackssicher im ärmellosen T-Shirt zur Schau gestellt, in Westernstiefeln und engen Jeans brettert er auf einer Harley Davidson auf die Bühne und beginnt die Show - nach einem kleinen Solo-Blues-Vorspann - mit ohrenbetäubendem Gitarrenrock: Mit „Schatten in die Haut tätowiert“ oder dem verrockten Schlager „Sonne in der Nacht“. Hinter den Soundsäulen, die die Sitzreihen der Schleyerhalle zum Vibrieren bringen, werden die Musiker immer kleiner, wie es unserer Zeit der Gigantomanie eben entspricht.

Maffays cooles Image findet im Publikum keine Spiegelung. Dort sieht man keine Headbanger, Rockermatten oder schwarze Lederjacken. Die Zuschauer entstammen zwar allen Generationen, mit Schwerpunkt auf den Mittvierzigern bis Endfünfzigern, aber ihre Zusammensetzung ist erstaunlich homogen: gutbürgerliche Schwaben, die die Boxenentladung auf der Bühne mit Hilfe von Ohrstöpseln geduldig über sich ergehen lassen und ihrem Star mit bravem Klatschen zustimmen. Erst im Nostal­gieblock gehen manche ekstatisch aus sich heraus: Wenn es an die Anfänge zurückgeht, Maffay die alten Schnulzen zum Besten gibt, die mittlerweile zu veritablen Rockballaden mutiert sind. Dann ist auch vom Orchester mal was zu hören, das auf einem zweistöckigen Gerüst den Bühnenhintergrund verschönert und gelegentlich von bunten Videoprojektionen - Floralem oder Foto-Rückblenden auf Maffays Leben - übertüncht wird. Der Orchestersound, der offenbar über die Rockanlage verstärkt wird, ist schauderhaft. Im einzigen Song, in dem die sechsköpfige Band ganz schweigt, im Liebeslied „Ewig“, vermisst man die Gitarren deshalb ein wenig.

Die Hits „Du“ oder „Es war Sommer“, die Maffay einst groß machten, bringen das singfreudige Schwaben-Publikum ins Spiel. Das Karat-Cover „Über sieben Brücken musst du gehen“ klingt der ursprünglichen Version wohl am ähnlichsten. Jetzt steht das überwältigte Auditorium geschlossen auf und jubelt: Das ist ihr Peter, wie sie ihn am allerliebsten haben. Maffay wiederum liebt sein Publikum, holt es gelegentlich auf die Bühne, gibt ihm Zucker, und das erfreulicherweise mit Ironie. „Was gibt es da zu lachen?“, fragt er schelmisch, als auf der Leinwand Dieter Thomas Heck und der junge Maffay in grellbunten Anzug und roten Plateauschuhen erscheinen.

Der Meister auf einem Holzstuhl

Die Evergreens sind für die Fans, der Rock für die Band. Im letzten Teil der Show müssen wieder Ohrstöpsel rein. Jetzt dürfen die Gitarristen Carl Carlton, Pascal Kravetz, Peter Keller, der Keyboarder Jean-Jacques Kravetz, Drummer Bertram Engel und Bassist Ken Taylor alleine ran. Dürfen ihre Wunschtitel auch selbst singen: Robert Palmers „Addicted to love“, den ZZ Top-Song „Gimme all your lovin‘“ oder den Golden-Earring-Hit „Radar Love“.

Maffay hatte zuvor mit einem sehr persönlichen, ruhigen Block überrascht. Auf einer kleinen Bühne mitten im Publikum auf einem Holzstuhl sitzend, widmet er sich bluesigem Westerngitarren-Picking, bittet ein paar befreundete Musiker, etwa Chris Kramer an der Mundharmonika, zur Blues-Jam. Der intime Sound überrascht inmitten des Bombastes.

Erst nach über zweieinhalb Stunden - ohne Pause, versteht sich - ist Maffay am Ende angekommen. Ein Extrem-Programm liegt hinter ihm, abwechslungsreich und unterhaltend, in dem er sich als alter Bühnen-Hase und als glaubwürdiger Herzblutmusiker ins Gedächtnis gespielt hat. Seine Liebeserklärung an die Musik, seine nur von Cello und Piano begleitete Ballade „Meine Musik“, nimmt man ihm deshalb bei allem Pathos ihrer „Mit dir leb und sterbe ich“-Lyrik absolut ab: Selbst die Zeilen „Du bist das Fenster meiner Seele, durch das schau ich hinaus, bist meine Burg und mein Zuhaus“.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 1.12.2010. Das Konzert fand statt am 29.11.

Dienstag, 30. November 2010

Entspannung mit Trancefaktor

Stuttgarter Kammerorchester in der Reihe „Classic im Club“ im BIX

Stuttgart - Drangvolle Enge auf der Bühne des Stuttgarter Jazz-Clubs BIX: 19 Streicher dort unterzubringen, wo sonst kleinere Combos jazzen, erfordert einiges Geschick von den Musikern. Vor allem was die Führung des Bogens angeht, dessen Spitze schnell mal ins Auge oder Ohr gehen kann.

Aber das Stuttgarter Kammerorchester in der Leitung von Dennis Russell Davies präsentierte sich in der BIX-Reihe „Classic im Club“ als hochdisziplinierter Klangkörper, der im Laufe des Konzerts auch die akustischen Probleme der Lounge, die auf elektronisch verstärkte Musik ausgerichtet ist und nicht auf die dynamisch sehr fein austarierte Klassik, vergessen machte. In Joseph Haydns A-Dur-Violinkonzert musste man sich an das Lüftungsrauschen und die Deckelung des Klangs, durch die nicht nur zarte Töne kaum erblühen konnten, allerdings erst noch gewöhnen. Zumal die akustische Situation wirklich jede noch so kleine intonatorische Unreinheit des Streichorchesters grausam zutage förderte. Dafür sorgte aber der junge britische Geiger Alexander Sitkovetsky im Solopart mit Spielfreude, rhythmischem Drive und fein empfundenem Melos für den nötigen Hörsog.

Klassik einmal fernab des Musentempel-Flairs bei einem Glas Chardonnay oder einem Cocktail genießen zu dürfen, ist eine feine Sache, vor allem, wenn die entspannte Atmosphäre dieselbe Hörhaltung zur Folge hat: Aus dem Publikum, das sich augenscheinlich aus BIX- und Liederhallen-Stammgästen gleichermaßen zusammensetzte, war kein Mucks zu hören: kein Quasseln, kein Gläser-Klirren, kein Scheppern. Es herrschte eine gespannte Stille, die Lauscher waren gespitzt.

Nach dem Klassiker stürzte sich das Kammerorchester klangsüchtig auf Musik amerikanischer Komponisten. Prall, saftig, sonnig entfaltete sich David Diamonds „Rounds“ von 1944, dessen Reiz darin besteht, dass rhythmische und kontrapunktische Komplexität wirkungsvoll auf einfacher Thematik und tonaler Harmonik aufbaut und dadurch zugänglich wird. Eine typisch amerikanische Stilprägung, die später auch den Minimalismus hervorgebracht hat.

Der kam in der dritten Sinfonie von Philip Glass, die Russell Davies und das Stuttgarter Kammerorchester 1995 selbst zur Uraufführung gebracht hatten, klangsinnlich, farbig, emotional geladen, kurz: prächtig zur Geltung. Und in den trancefördernden Weiten minimalistischer Gleichförmigkeit zeigte sich die immer noch deutlich spürbare Harmonie und Vertrautheit zwischen dem Orchester und seinem ehemaligen Leiter wohl am eindrücklichsten.

Fazit: Ein toller Abend mit einem klug ausgewählten Programm, an dessen Gelingen auch die angenehm lockere, dennoch Fachwissen vermittelnde Moderation Russell Davies‘ ihren Anteil hatte - und eine Kooperation, die auf jeden Fall zur festen Einrichtung werden sollte.

Rezension für die Eßlinger Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten vom 29.11.2010. Das Konzert fand statt am 26.11.

Donnerstag, 25. November 2010

Spielwütig im Paradies

Christian Weise inszeniert am Stuttgarter Staatstheater Shakespeares "Was ihr wollt" als rasante Slapstickkomödie

Geburt der Venus: Sebastián Arranz als Olivia (links) und Lukas Rüppel als Viola vor Botticellis zitiertem Gemälde. (Foto: Gläsker)

Stuttgart - Zehn Männer sitzen in einer Reihe auf der Bühne, splitternackt, mit traurigen Gesichtern. Spielen auf Gitarre, Melodica, Rohrblattflöte schwermütig eine traurige Weise, bis einer aufsteht, sich einen dunkelroten Morgenmantel überwirft: Es ist Orsino, Herzog von Illyrien: "Das Lied noch mal, es starb so schön dahin", entfleucht es gebieterisch seinen Lippen. Wie wahr!

Ein starkes Bild, mit dem Regisseur Christian Weise William Shakespeares Komödie "Was ihr wollt" beginnen lässt, die gestern in einer der Interimsspielstätten des Staatsschauspiels Stuttgart in der Türlenstraße, in der kleinen "Box", Premiere hatte. Stark, weil es einen denkbar großen Kontrast herstellt zur Komödie: Nackte Körper können ihr Geschlecht nicht verbergen, sind schutzlos auf sich selbst zurückgeworfen. In "Was ihr wollt" aber geht es um Sein und Schein, um Täuschung, Verwechslung, Uneindeutigkeit: Da wird sich verkleidet, versteckt, in die Falschen verliebt, in die Falle gelockt, was das Zeug hält.

Im Mittelpunkt Viola, eine Frau, die sich als Mann verkleidet hat, aus Selbstschutz, um dem Herzog dienen zu können. Christian Weise treibt die Travestie noch weiter: Er besetzt alle Rollen mit Männern, auch die weiblichen - wie es bei den Kollegen im Jahre 1602, als "Was ihr wollt" uraufgeführt wurde, gang und gäbe war. Die doppelte Travestie macht das geschlechtliche Kuddelmuddel perfekt: Viola ist ein Mann, der Mann und Frau nur spielt.

Auch der melancholische Vorspann täuscht: Ihm folgt ein rasanter Theaterabend, mit einer ungeheuer schnell getakteten Slapstick- und Pointendichte, mal grob boulevardesk, mal liebevoll im Detail. Immer mit Spielwucht und voller Überraschungen. Drei Stunden Theater ohne Längen. Selbst ins finale Lied des Narren "Und als ich ein winzig Bübchen war" wird noch eine Pointe hineingehauen: Dienstmagd Maria läuft mit dem Junker Rülps auf dem Arm durchs Bild, der ein Brautsträußchen ins Publikum wirft, während beide hysterisch vor sich hingiggeln.

Gespielt wird auf einer minimalistisch schwarzen, rechteckigen Fläche, die im Hintergrund durch Projektionen auf die Schiebewände erweitert wird: Julia Oschatz hat Gemälde von Botticelli und Cranach wirkungsvoll videoanimiert. Ständig wird das Geschehen ironisch kommentiert: In Cranachs Paradies segeln träumerisch Blätter hernieder, wenn Gräfin Olivia ihren Trauerschleier hebt, um dem geliebten Cesario alias Viola ihr schönes Gesicht zu präsentieren, später fliegt Amor durchs Bild und schießt seine Pfeilchen, und am Ende sind die Protagonisten selbst Teil des Paradieses, wo sie nackend Ringelreihen tanzen und Liebe machen. Jens Dohle am Synthezizer und E-Piano und als Geräuschemacher sorgt für witzige musikalische Pointen und die Begleitung der Lieder.

Durch die erweiterte Travestie zentriert Weise Shakespeares Liebeskummerkomödie auf die Komik und ihre spielsüchtige Seite. Man sieht den Darstellern an, dass sie sich mit Haut und Haar der Sache verschrieben haben. Grandios Martin Leutgeb in einer Doppelrolle: als Orsino schwermütig, schwerfällig, männlich, und als Olivias Dienstmädchen Maria eine schlaue Schlampe mit verrutschter Perücke, füllig, aber behände, haarig, aber herzig. Zum Totlachen, wie Leutgeb Maria eine gewisse elefantöse Zierlichkeit verleiht, sie zwischen mädchenhafter Koketterie und verdorbenem Draufgängerinnentum lavieren lässt.

Selbst an der Klappe der Hausbar scheitert Johannes Benneckes prollig-berlinernder, notgeiler, durch ständige Alkoholzufuhr schwer koordinationsgestörter Junker Rülps, der während seiner grotesken Stolperpirouetten auch mal kurz auf die Bühne kotzt. Cornelius Schwalm als dümmlicher, schlaksiger, ständig hysterische Lachsalven herausdonnernder Junker Bleichenwang tanzt herrlich zappelnd-virtuose Luftsprünge, Sebastián Arranz' bartschattige, aber zierliche und wunderschöne reiche Gräfin Olivia betört durch Eleganz, kokette Augenaufschläge und spanisch-melancholische Gesänge in schwarzem Flamencokleid.

Boris Koneczny spielt den Narren als einen Überlebenskämpfer am Abgrund, gelegentlich weltweise, aber meistens grob, depressiv oder gar gewalttätig. Einer, bei dem man nie genau weiß, woran man ist. Und dem Mobbingopfer Malvolio verpasst Michael Stiller schmierigen Berlusconi-Charme. Ihm gelingt an diesem Abend wohl die subtilste Komik bei gleichzeitiger Nähe zur Tragik: Am Ende ist das Mitleid auf seiner Seite.

Die große Qualität von Weises Inszenierung ist, dass sie ihr Tempo bis zum Schluss hält. Sie steigert sich nach der Pause durch virtuos-knochenbrecherische Fecht- und Prügelszenen, bei denen auch ganze Bretter auf Köpfen zertrümmert werden – sehr akrobatisch hier Toni Jessen als Violas Zwillingsbruder Sebastian.

Für die reflektierenden Augenblicke sorgt im Karussell der Liebeswirren vor allem Lukas Rüppel als Viola: Sein doppeltes Spiel, das auch eigene Verwirrung und innere Zerrissenheit zur Folge hat, die in einer mitreißenden Interpretation des Prince-Songs "Purple rain" Entladung finden, geht unter die Haut. Und in seiner finalen Rückverwandlung in eine Frau – flugs entkleidet er sich und klemmt sein Gemächt zwischen die Beine –, in dieser krassen Entblößung zeigt sich plötzlich die ganze Zerbrechlichkeit, Gefährdung und Einsamkeit des Menschen – ein erschütternder, zutiefst beklemmender Augenblick inmitten des Klamauks.

Rezension für www.nachtkritik.de. Die Premiere fand statt am 23.11.2010.

Dienstag, 23. November 2010

Ohne Fleiß kein Preis

Ensemble Il Gusto Barocco mit Werken vom Stuttgarter Hof

Stuttgart - Vermutlich hätte Herzog Eberhard Ludwig von Württemberg seinen Kapellmeister nach einer Aufführung dieser Qualität vom Hofe gejagt: Was das Stuttgarter Alte-Musik-Ensemble Il Gusto Barocco in der ersten Hälfte seines Matinee-Konzerts mit Musik vom Stuttgarter Hof um 1700 am Sonntag im sparsam besetzten Opernhaus bot, war in großen Teilen ziemlich peinlich. Die Arien aus der Oper "Ariadne" von Johann Sigismund Kusser, von 1698 bis 1704 Stuttgarter Hofkapellmeister, reihten sich öde und langweilend aneinander. Meist uninspiriert, oft genug unpräzise spielte das elfköpfige Ensemble unter der Leitung seines Gründers Jörg Halubek vor sich hin. Die jungen Solisten Camilla de Falleiro (Sopran), Carlos Zapien (Tenor) und Symon Chojnacki (Bass) sangen zwar mit schönem Timbre, agierten aber weitgehend ohne theatralische Ausgestaltung.

Dem aber nicht genug. Der Hauptattraktion des Morgens, dem Altus Matthias Rexroth, wollten die Einsätze oft gar nicht gelingen. Halubek schien dessen verzweifelte Blicke gar nicht zu bemerken: Er war viel zu sehr mit seinem Cembalo beschäftigt, von dem aus er die Aufführung leitete, um seinem Star die rettenden Fingerzeige geben geben zu können.

Mehr Proben hatte offenbar die folgende ausschnittsweise Uraufführung der Oper "Tisbe" vom Stuttgarter Hofkapellmeister Giuseppe Antonio Brescianello genossen, die im Jahr ihrer Entstehung, 1718, aus finanziellen Gründen nicht auf die Bühne gekommen war. Jetzt spielte das Ensemble mit mehr Sicherheit, Spielfreude und rhythmischem Drive, auch Rexroth konnte endlich entspannt mit lebendiger Theatralik unterhalten. Dennoch: Will Il Gusto Barocco seinem Saisonziel, "spektakulär und voller Grandezza wird diese klingende Stuttgarter Ära erneut aufblühen", gerecht werden, muss es noch sehr viel Arbeit investieren.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 23.11.2010. Das Konzert fand statt am 21.11.

Dienstag, 16. November 2010

Klangtheater mit Trauerflor

Hansjörg Albrecht dirigiert die Gächinger Kantorei und das Bach-Collegium

Stuttgart - Ganz im Zeichen des Volkstrauertages stand am Samstag das Konzert der Bachakademie im gut besuchten Beethovensaal. Zu Gast am Pult der Gächinger Kantorei und des Bach-Collegiums stand der Dirigent und Cembalist Hansjörg Albrecht. Zunächst gab es Purcells Trauerfeiermusik für Queen Mary II. Eine gute Idee, für szenische Atmosphäre zu sorgen: Der feierliche Einzug der Choristen vom Zuschauerraum her, begleitet vom Wirbeln zweier Trommler rechts und links der Bühne, machte genauso viel Effekt wie die rote Bühnenbeleuchtung. Chorstücke, begleitet von vier tiefen Streichern und zwei Blockflöten, wechselten sich ab mit Märschen und Canzonen für Blechbläser, die auf der Empore hinterm Publikum positioniert waren. Die Gächinger zeigten sich in guter Form: Unter der präzisen, detailgenauen Gestik Albrechts offenbarte sich Purcells Mehrstimmigkeit in vier leichten, beweglichen, deutlich herausgearbeiteten Linien.

Bachs "Actus tragicus"-Kantate erfreute durch das gut harmonierende Solistenquartett: strahlend Sibylla Rubens (Sopran), mit schöner Tiefe Sophie Harmsen (Alt), leicht und hell Bernhard Berchtold (Tenor) und selbstgewiss Shigeo Ishino (Bass). Ansonsten wirkte Purcells und Bachs Trauermusik in den Weiten der Liederhalle etwas verloren.

Nicht so Alfred Schnittkes finsteres Requiem von 1975, eigentlich als Bühnenmusik zu Schillers "Don Carlos" komponiert. Ein effektvolles Stück, das vor allem durch die klangliche Wucht der Orgel geprägt wird, deren Pfeifenwerk im Beethovensaal in mystischem Blau leuchtete. Dem Chor, den Instrumentalisten und den durch Sopran Miriam Burkhardt ergänzten Solisten gelang eine spannende Aufführung dieser theatralischen Musik, die mit unterschiedlichsten Stilen - Tontrauben, groovenden Trommelrhythmen, E-Gitarrenklängen und archaischer Polyfonie - zu unterhalten weiß.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 15.11.2010. Das Konzert fand statt am 13.11.

Wege nach innen

Norbert Beilharz' Film "Luigi Nono: Prometeo. Tragödie des Hörens" beim Festival "attacca"

Stuttgart - Ein schöner Auftakt für einen Tag prallvoll mit Neuer Musik: Im ersten Konzert des Eintages-Festivals "attacca" des SWR war Norbert Beilharz' Film "Luigi Nono: Prometeo. Tragödie des Hörens" von 1993 zu sehen, eine filmische Annäherung an das letzte große Musiktheaterprojekt des italienischen Komponisten, der vor 20 Jahren starb. Beilharz montierte Ausschnitte aus zwei Filmaufnahmen unterschiedlicher Aufführungen des "Prometeo": aus der Uraufführung von 1984 in der Kirche San Lorenzo in Venedig unter Leitung Claudio Abbados sowie aus jener unter Ingo Metzmacher bei den Salzburger Festspielen 1993.

Beilharz spürt in seinem Film dem Wesen der Musik Nonos einfühlsam nach: in permanenten Kamerafahrten, die schweifend das kathedrale Innere der Spielorte abtasten, Licht und Schatten nachgehen, ohne Pause. Zwischen diesen Sequenzen kommt Nono zu Wort: der Klangsucher, der Ohrenaufwecker, der nach eigenen Aussagen ohne Voridee ans Werk ging. Komponieren hieß für ihn: suchen und forschen, den Weg nach innen nehmen, um das Unerhörte wahrzunehmen.

Im anschließenden Podiumsgespräch, das Neue-Musik-Redakteur des SWR, Hans-Peter Jahn, mit Norbert Beilharz und dem Komponisten Jörg Widmann führte, ging es dann um die Visualisierung von Musik und die Unmöglichkeit, Porträts aktueller Komponisten beim Fernsehen unterzubringen. Bei der Wahl seiner Musikfilmprojekte seien nicht die Interessen des Publikums oder der Redaktionen entscheidend, sondern seine "hemmungslose Vorliebe" für bestimmte Komponisten, erklärte Norbert Beilharz. So hatte er seinen Nono-Film zunächst ohne Auftrag und auf eigenes Risiko begonnen.

Für fein justierte Lauscher hatte zu Beginn Wolfgang Rihms "von weit" für Violoncello und Klavier von 1993 gesorgt. Musik, die aus dem Zeitkontinuum herausgenommen zu sein scheint. Vages, suchendes Tasten, vorsichtig geatmete Flageolett-Töne bestimmen das Spiel des Cellos (Nicolas Altstaedt), das vom Pianisten (Henri Sigfridsson) konzentriert umlauert wird, um immer wieder genau darauf reagieren zu können. Selten zerreißt mal ein aggressiv hingeworfener Klang das ungleichmäßige Netz aus wispernden Tönen.

Der größtmögliche Kontrast dann zum Schluss: ein Ausschnitt aus Beilharz‘ Verfilmung von "Rosamunde", einem romantischen Schauspiel von Helmina von Chézy mit der Bühnenmusik von Franz Schubert. Krasse Farben, harte Schnitte, schnelle Ortswechsel bestimmen hier die Ästhetik.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 15.11.2010. Das Konzert fand statt am 13.11.

Montag, 15. November 2010

Belebende Wut

"The Rage of Life" als deutsche Erstaufführung an der Jungen Oper Stuttgart

Aufbegehren gegen eine beängstigende Wirklichkeit. Tobias Hächler als Leif in „The Rage of Life“. Foto: Sigmund

Stuttgart – Es gibt kein richtiges Leben im falschen, lautet die berühmte Adorno-Weisheit: Es kann für den einzelnen Menschen kein moralisch integres Leben geben, solange nicht auch die Gesellschaft verantwortungsbewusst und im Interesse menschlicher Bedürfnisse handelt. Gelindert werden kann dieses Dilemma nur, wenn man sich das Empfinden für das moralisch Richtige von den Mitmenschen nicht rauben lässt. Solcherlei Fragen, die etwa den Sinn von Kriegen oder die Zerstörung ökologischer Lebensgrundlagen betreffen, sind gerade für Jugendliche existentiell. Weil sie sich noch nicht mit denn gesellschaftlichen Defiziten arrangiert haben, weil sie Amoral verständnislos gegenüberstehen, weil sie auf der Suche sind. Es ist die besondere Qualität der neuesten Produktion der Jungen Oper der Staatsoper Stuttgart, die am Freitag im Kammertheater ihre umjubelte Premiere feierte, dass sie sich genau diesen existentiellen Themen widmet. Es geht um das Aufbegehren gegen eine als beängstigend empfundene Wirklichkeit.

"The Rage of Life" (Lebenswut), ein Musiktheaterstück für Jugendliche ab 14 Jahren mit Musik von Elena Kats-Chernin auf ein Libretto von Igor Bauersima (englischsprachig mit deutschen Übertiteln), erzählt die Geschichte des 18-jährigen Leif, dessen Freundin Helena spurlos verschwunden ist. Leif liebt Helena wegen ihres Mutes, ihres Wissens- und Wahrheitsdurstes. Seine Eltern haben es sich längst im falschen Leben gemütlich gemacht. Ihre Behauptung, Elena sei tot, glaubt Leif nicht. Elena sei geflohen vor der Lüge, sagt Leif und ist verzweifelt. "Was ist das, richtiges Leben? Was ist Wahrheit?" fragt er die Mutter. Die antwortet verständnislos: "Bist du in einer Sekte?"

Leif sucht Helena und findet sie schließlich in einem heruntergekommenen Industrieareal. Sie sei auf der Flucht vor Verfolgern, die sie töten wollen, sagt sie, weil sie Beweisstücke für korrupte politische Machenschaften in ihrem Besitz habe. Ist's Traum, ist's Wirklichkeit? Leif landet in einer Psychiatrie, der er entfliehen kann – auch wenn der Staat seine Bürger durch Chips im Personalausweis überwachungstechnisch fest im Griff hat. Auf der Flucht vor der Polizei, herumirrend im Dickicht der Großstadt, findet er gemeinsam mit Helena den einzigen Ausweg aus dem Überwachungsstaat: Einen Schacht, in den man hineinspringen muss, ohne zu wissen, wohin er führt. Leif und Helena springen.

"The Rage of Life", das die Junge Oper in Kooperation mit der Flämischen Oper Antwerpen und Gent in Auftrag gegeben hat, wo das Werk im Mai 2010 uraufgeführt wurde, bietet einen bis zur letzten Sekunde spannenden Theaterabend. Das liegt am formidablen achtköpfigen Ensemble, allen voran die beiden Hauptdarsteller: Tobias Hächler als Leif stellt Lebenswut, Hilflosigkeit, Verzweifelung gleichermaßen wahrhaftig dar und erfreut durch seine geschmeidige Baritonstimme mit schöner Tiefe. Sopranistin Liesbeth Devos gelingt es mit flexibler Stimme, den komplexen Charakter Helenas glaubwürdig zu vermitteln: ihre Reife, ihre Arroganz, ihre geistige Freiheit genauso wie ihr ambivalentes, anfänglich distanziertes und erst allmählich sich annäherndes Verhalten Leif gegenüber.

Mitreißend auch die Musik: Elena Kats-Chernin hat sich bei der Komposition am amerikanischen Minimalismus und seinen melodischen und rhythmischen Patterns orientiert, über der sich die Singstimmen frei deklamierend entfalten können. Ihr Umgang mit der Tonalität ist unbefangenen. An emotionalen Hochpunkten bricht sich Musical-Schmelz Bahn und immer wieder auch der Swing. Das Kammerorchester aus Studierenden und Absolventen der Musikhochschule sorgte unter Leitung von Hans Christoph Bünger für rhythmischen Drive und feine, kontrastierende Klangfarben und Stimmungen.

Durchweg überzeugend auch die Inszenierung von Igor Bauersima (Neueinstudierung für Stuttgart: Lars Franke). Schlicht und vielseitig nutzbar Bauersimas Bühnenbild: In der Mitte eine weiße Stellwand, auf die sich allerlei projizieren lässt: Das durchgestylte Ambiente der elterlichen Wohnung, eine hässliche Industriebrache oder die sterilen Gänge einer Nervenklinik. Endlich werden Videoprojektionen (Georg Lendorff) mal nicht nur zur Illustration genutzt, sondern bewirken räumliche Weitung nach außen. Ergänzend kommt ein beweglicher Kubus zum Einsatz, der schnell in eine Schlafstelle für Obdachlose oder in Betten einer Psychiatrie verwandelt werden kann.

Und wie endet die "Lebenswut"? Mit einem ironischen Bruch und einem spektakulären Effekt: Nach ihrem Sprung in den Schacht – Suizid? – landen die Liebenden nicht auf dem Friedhof, sondern im Paradies. Mit einem Schlag klappt die Projektionswand nach vorne auf und entfaltet donnernd einen idyllischen Garten aus Blätterwerk und Blumen – wie im Klappbilderbuch. Turtelnd fallen sich die Verliebten in die Arme. Schluss-Kuss, Fine. Tosender Applaus.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 15.11.2010. Die Premiere fand statt am 12.11.

Freitag, 12. November 2010

Zum Raum wird hier die Zeit

New Zealand Symphony Orchestra und Hilary Hahn im Beethovensaal

Stuttgart - Es ist einfach atemberaubend: mit welcher Gelassenheit die Geigerin Hilary Hahn rasend schnelle Doppelgriff-Ketten und durch die Oktaven zischende Läufe nimmt. Wie kontrolliert jeder Ton sich an den anderen reiht, egal in welcher Geschwindigkeit. Wie akkurat abgemessen, wie beherrscht Hahn den Bogen führt. Kein risikohaftes Hineinstürzen, eher ein leichtes, gelenkiges Durchfliegen der Strukturen macht ihren Ton aus. Vielleicht fehlt diesem gelegentlich ein bisschen Wärme. Dem fesselnden Sog ihres Spiels steht das aber nicht im Wege. Vor allem nicht, wenn sie wie am Mittwoch im voll besetzten Beethovensaal Sibelius" Violinkonzert spielt.

Dort sorgte schon das New Zealand Symphony Orchestra unter Pietari Inkinen für satte, volle Klanglichkeit. Das mit seiner farbigen, gerne mal wuchtig auftrumpfenden Klangfülle für romantische Werke bestens geeignete Orchester konnte sich aber auch einfühlsam zurückhalten: etwa zu Beginn, wenn über leisem Streichertremolieren die Solovioline ihre Stimme zum melancholischen Nachtgesang erhebt. Wunderschön! Die besondere Qualität Hilary Hahns zeigt sich zudem im kommunikativen Zugriff: Die Geigerin steht nicht einsam-introvertiert an der Rampe, sondern wendet sich immer wieder dem Orchester zu, reagiert.

Inkinen inspirierte sein Orchester dann in Smetanas sinfonischer Dichtung „Sarka" und der „Hommage an Schumann" des Neuseeländers Ross Harris zu großartigen Tongemälden. Gerade die enorme Klangraumöffnung scheint Inkinens besonderes Talent zu sein, wie sich auch in Tschaikowskys fünfter Sinfonie zeigte. Innere Dramatik und episch-breiter Erzähldrang hielten sich dabei in perfekter Balance. Wunderbar auch, wie sich im Andante über vibrierender Streichergrundierung schwebend die Sologesänge von Horn, Klarinette, Oboe und Cello entfalteten. Zu Recht reagierte das Publikum am Ende mit euphorisiertem Applaus.


Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 12.11.2010. Das Konzert fand statt am 10.11.

Montag, 8. November 2010

Perfektes Zusammenspiel

Das London Philharmonic Orchestra unter Chefdirigent Vladimir Jurowski in der Stuttgarter Liederhalle

Stuttgart - Der Abend im ausverkauften Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle begann unspektakulär. Johannes Brahms' zweites Klavierkonzert spielte das London Philharmonic Orchestra mit sattem, fettem Streichersound, der in Zeiten sinfonischer Transparenz etwas altbacken wirkte. Klangschön war's aber allemal. Und man verstand sich mit Leif Ove Andsnes, dem Pianisten, bestens. Virtuose Gelassenheit, technische Souveränität, kraftvolles Zupacken, aber auch Sinn fürs große Farbspektrum und fein ausgearbeitete Dynamik prägen das Spiel des Norwegers.

Unter der Leitung seines Chefdirigenten Vladimir Jurowski legte der britische Klangkörper weniger die strukturellen Finessen des Werks frei, sondern konzentrierte sich auf den emotional aufgeladenen Klangsog. Der großdimensionierte Kopfsatz erlitt so eine gewisse Glättung, während es der melancholisch-leidenschaftlichen Grundhaltung des Moll-Scherzos und dem intim entrückten Adagio nicht weiter schadete. Dem Finale allerdings schon: Der zunächst noch graziös-tänzerische Drive wurde schnell wieder von schwerblütiger, süßer Glasur überzogen, jede spielerische Heiterkeit in Melancholie ertränkt.

Nach der Pause dann doch eine Überraschung: Beethovens dritte Sinfonie „Eroica“ wurde nicht wie angekündigt im Original, sondern in einer von Gustav Mahler retuschierten Fassung gegeben - in Riesenorchesterbesetzung mit aufgerüstetem Bläserapparat. Interessant ist ein solches Unterfangen vor allem in historisch-interpretatorischer Hinsicht. Mahler griff in die dynamischen Verhältnisse ein und in die Balance zwischen Streichern und Bläsern. Bestimmte thematische Linien werden so plastischer hervorgehoben. Das Ergebnis bleibt Geschmackssache. Beethoven entgegen kommt es aber nicht: Hörbar wurden die Eingriffe vor allem durch die oft sehr grell intonierenden und schreienden Blechbläser, überhaupt in der Gesamtlautstärke: etwas, was den heroischen Grundzug überzeichnet und kompositionstechnische Details gelegentlich übertüncht. Charakterlich verändert erscheint vor allem der Trauermarsch, der zum zähflüssigen Trauergesang mutiert, was der rhythmisch-metrischen Genialität Beethovens den Todesstoß versetzt.

Willkürlich wirken die satzinternen Tempoveränderungen wie die an exponierter Stelle eingebauten Zeitverzögerungen vor allem im Kopfsatz - ein Zeichen für den noch wesentlich freieren Umgang mit der Agogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dass der Verzicht auf die Wiederholung der Exposition die architektonischen Verhältnisse des ersten Satzes untergräbt, sei nur nebenher erwähnt.

Auch wenn die revolutionäre Sprengkraft der „Eroica“ unter Mahlers Einflussnahme spätromantisch gedämmt wird - für die Tourneebesetzung der Londoner Philharmoniker eignet sich das Werk in dieser Gestalt natürlich bestens: Der hervorragende Bläserapparat hatte so wesentlich mehr Gelegenheit, seine besonderen Klangqualitäten unter Beweis zu stellen, die Streicher überzeugten durch dramatischen Sog und hochkonzentriertes, perfektes Zusammenspiel. Der vollbesetzte Beethovensaal war begeistert.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 6.11.2010. Das Konzert fand statt am 4.11.

EDUARDAS UNIVERSUM

weblog für ernste kultur von verena großkreutz

Wer ist Eduarda?

Eduarda bin natürlich ich! Diesen Spitznamen verpasste mir ein Freund in meiner Anfangszeit als Musikkritikerin in Erinnerung an den berühmten Eduard Hanslick.

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