Sonntag, 27. Oktober 2013

Allzu geschmeidig

Radio-Sinfonieorchester Stuttgart spielt Mahler und Dutilleux

Stuttgart - Es scheint, als habe Gustav Mahler in seiner sechsten Sinfonie bewusst die Objektivität der überlieferten Tradition gesucht, um in ihr seine düstersten, vielleicht auch subjektivsten musikalischen Visionen zu verarbeiten. Keine andere seiner Sinfonien orientiert sich derart eng am klassischen viersätzigen Formmodell. Und keine andere endet so ausweglos, so negativ. Keine Spur von Transzendenz, nichts rettet hier den imaginären Helden. Erzählt wird eine Geschichte auf Leben und Tod: eine, die tödlich endet. Die Sinfonie erhielt deshalb schon bald nach ihrer Uraufführung 1906 den Beinamen „Tragische“. So manch einer hat in der omnipräsenten, brutalen Marschmotorik und in den beiden apokalyptisch niederschmetternden Hammerschlägen des Finales Vorahnungen kollektiven Unheils herausgehört.

Glasklar durchhörbar

Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart (RSO) und sein Chefdirigent Stéphane Denève nahmen sich jetzt dieses abendfüllenden Werks im vollbesetzten Stuttgarter Beethovensaal an. Hut ab: Das RSO blieb selbst im 30-Minuten-Finale immer hochkonzentriert, engagiert und mit vollem Einsatz bei der Sache. Diese schöne klangliche Durchsichtigkeit und Farbigkeit, mit der sich das Orchester international einen Namen gemacht hat, hielt die Ohren staunend offen. Nichts verlor sich in dieser jegliche Begrenzungen sprengenden Partitur. Jedes Harfenglissando, jedes Flötentönchen blieb glasklar hörbar. Phänomenal!

Indes: Stéphane Denève ist ein Klanggenießer. Deshalb kann er selbst den hässlichst gemeinten Instrumentenäußerungen noch etwas Schönes abgewinnen. Für Mahler bedeutet dies: Sarkasmus wirkt schnell neckisch, der Marschrhythmus verliert an Brutalität und die Groteske an Dämonie. Und die Kuhglocken, für Mahler Klangsymbole der Entrückung, integrierte Denève so stark in die übrigen Strukturen, dass sie lediglich als neue Klangfarbe wirkten und nicht als ein Disparates, das Paradies-Visionen auslöst. Denève macht Mahler weicher, geschmeidiger. Gut für das traumverlorene, sehnsüchtige Andante. Schlecht nicht nur fürs diabolische, dunkle, abgründige Scherzo und seine bösartigen, giftigen Töne, seine überschrillen Bläser-Attacken und härtesten Staccati. Auch das Final-Getöse erhält erst einen Sinn, wenn das Davor überscharf formuliert wird. Den brodelnden Alptraum aus Märschen, Naturbildern und der mutierten Neufassung des Liebesthemas verschmolz Denève zu einem einzigen Dauergedröhne. Es gelang ihm nicht, den wellenartigen Verlauf dieses Schlachtgetümmels deutlich herauszuarbeiten, weshalb das Finale immer zäher wurde.

Dagegen ließ der Beginn des Abends keine Wünsche offen. Das RSO hatte für Henri Dutilleux’ Cello-Konzert „Tout un monde lointain“ den Cellisten Gautier Capuçon zu sich gebeten, der auch in der quirligen Atmosphäre eines Sinfoniekonzertes Intimität herstellen kann. Fantastisch, wie er durch einen gleichsam introvertierten und dennoch hochexpressiven Ton das Publikum in Bann zog, mal rezitativisch sinnierte, mal dialogisierte, dann aber auch aggressiv attackierte. Die Kommunikation zwischen Solist, Dirigent und Orchester funktionierte in jeder Hinsicht ganz vorzüglich.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 26. Oktober 2013. Das Konzert fand statt am 24. Oktober.

Dienstag, 22. Oktober 2013

Zusammen kamen sie nicht

WDR Sinfonieorchester Köln und die Pianistin Hélène Grimaud im Stuttgarter Beethovensaal

Stuttgart - Sicher: Die Komponisten des 19. Jahrhunderts konzipierten ihre Solokonzerte auf den Schlussapplaus hin. Die Kehraus-Sätze geben den Virtuosen durch heikle Finger- und anderer Übungen abschließend noch einmal die Gelegenheit, die Hörer durch grandiose Artistik zu überwältigen. Da darf nichts anderes kommen als tosender Beifall. Auf besondere Klangschönheit mag das nicht immer angelegt sein. Aber was Hélène Grimaud jetzt im voll besetzten Stuttgarter Beethovensaal mit dem Finale des a-Moll-Klavierkonzerts von Robert Schumann anstellte, glich dann doch eher dem Arbeitsergebnis einer Dampfwalze.

Breiige Donnerwolken


In Pedalmarinade aufgelöste Oktavketten, Arpeggi, Läufe - eigentlich quecksilbriges Passagenwerk - verschwammen ihr zu breiigen Donnerwolken, die mehr und mehr den Orchesterklang verfinsterten und so jegliches komponierte Profil dem Erdboden gleichmachten. Nicht erst jetzt schien die Französin vom Musikerkollektiv um sie herum nichts wahrzunehmen, hämmerte auf den Flügel ein, bis die nur leidlich gemeinsam mit dem Orchester getroffenen Schlussakkorde vom virtuosen Gemetzel erlösten - und das Meisterkonzert-Publikum drauflosklatschen konnte, entzückt von all der Prankenpracht der zierlichen Künstlerin und Wolfschützerin.

Auch in den beiden vorausgegangenen Sätzen hatte Grimaud vor allem die Frage aufgeworfen, wo in aller Welt die immense Kraft herkommt, mit der sie den Flügel bearbeitet. Lyrische Abschnitte dagegen gerieten ihr eher gläsern als berührend, ihr Rubatospiel wirkte dann manieriert. Vor allem aber verfolgte die 43-Jährige offenbar ein anderes dynamisches Konzept und andere Tempovorstellungen als das Orchester. Was gerade bei diesem Konzert einige Probleme mit sich brachte. Die zu Schumanns Zeiten neuartige Verzahnung von Solo- und Orchester-Part schreit ja nach Kommunikation. Aber auf den Ohren war Grimaud taub, spulte ihren Part ab, ohne in die Orchesterfarben hineinzuhören.

Kein Spannungsaufbau

Das WDR Sinfonieorchester in der Leitung seines Chefdirigenten Jukka-Pekka Saraste spielte mit und hinterher, zeigte sich allerdings auch nicht von seiner besten Seite. In Richard Wagners eingangs gespieltem „Tristan“-Vorspiel und Isoldens Liebestod gelang es Saraste nicht, dem Orchester einen zielgerichteten, minuziösen, spannungsfördernden Aufbau vorzugeben, der für den Reiz dieser dauersehnenden, die Entladung immer wieder geschickt herauszögernden Musik die Voraussetzung schafft. Viel zu laut und erdgebunden begann man, zu unpräzise spielte man zusammen, und zu grob gerastert blieb die Dynamik. Saraste, der auswendig und mit bedächtiger, aber schwungvoller Gestik dirigierte, fehlten hier deutlich die Ideen. Auch wenn dem Orchester gelegentlich der Gaul durchging vor lauter Engagement: Es vermittelte sich nicht einmal andeutungsweise, wieso so mancher Wagner-Exeget im Liebestod einen „auskomponierten Orgasmus“ vermutet.

Spiellust statt Routine bei Brahms

Immerhin offenbarte dann Johannes Brahms’ final gespielte vierte Sinfonie, dass zumindest dieses Werk gut geprobt worden war. Jetzt agierte das Orchester präziser, durchsichtiger, ersetzte Routine durch Spiellust und Ausdruckswillen und erfreute durch so manches klangschön umgesetzte Detail. Dass die Musiker und Musikerinnen auch hier bei der Formung musikalischer Gedanken allzu scharfkantig blieben, mag am Dirigenten liegen, der sich nicht gerade als dynamischer Feinarbeiter profilieren konnte.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 21. Oktober 2013. Das Konzert fand statt am 18. Oktober.

Mittwoch, 2. Oktober 2013

Kontrolliert, aber frei

Witz, Leichtigkeit, Intensität: Die Geigerin Hilary Hahn und die Camerata Salzburg im Stuttgarter Beethovensaal


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Hilary Hahn ist an Perfektion des Tons derzeit fast konkurrenzlos. (Foto: Promo)

Stuttgart - Die vollständige Kontrolle über den Ton und die technische Perfektion, mit der sie weltweit nur wenig Konkurrenz haben dürfte, machen die US-amerikanische Geigerin Hilary Hahn beim Spiel so frei, dass sie losgelöst scheint von allem Virtuosenschmerz dieser Welt. Ein bisschen zeigt sich ihr musikalisches Doppelwesen - kontrolliert, aber frei - auch äußerlich. Der Rockteil ihres Abendkleides, das sie im voll besetzten Stuttgarter Beethovensaal trägt, ist naturhaft bauschig, das Oberteil eher bieder und mit Glitzersteinchen besetzt, ihre Frisur einerseits etwas streng gesteckt, andererseits sind die Haare nicht wirklich glattgebügelt. Und ihre Haltung, sehr gerade wie bei einer Ballerina und über den Dingen schwebend, wird kontrastiert durch freundliche, offene Blicke, die sie neugierig oder bewundernd dem Orchester zuwirft, wenn sie sich ihm immer wieder zuwendet.

Mit Mozarts G-Dur-Violinkonzert KV 216 ist sie zwar diesmal nicht unbedingt mit dem technisch anspruchsvollsten Stück angetreten, aber man weiß es ja: Manchmal ist gerade das Einfachere das Schwerere. Und der Witz, die Leichtigkeit, die Intensität, mit der Hahn spielt, ihr sehr beweglicher Bogen, der filigran phrasieren kann, sind phänomenal. Die 33-Jährige streicht die Saiten nicht mit Schmackes an, sondern eher grazil, und treibt sie doch zu weit tragenden Aussagen. Jeden Ton setzt sie unter Strom, als verbänden die Notengirlanden die Pfosten eines elektrischen Weidezauns. Schön, wie sie die Musik atmen lässt. Alles sieht so einfach aus. Man kann nicht weghören, selbst wenn man wollte. Zusammen mit der Camerata Salzburg, einem erstklassigen Kammerorchester, und deren Leiter Louis Langrée lässt Hahn die Musik des 19-jährigen Mozart juchzen, jauchzen, seufzen, tirilieren und beinahe explodieren vor Jugend und Lebenslust.

Ralph Vaughan Williams’ Romanze für Violine und Orchester von 1914 heißt zwar „Die Lerche steigt auf“, aber sie erinnert die Ohren eher an das Panorama einer einsamen Prärielandschaft, durch die die Ureinwohner Nordamerikas ziehen. Das Orchester malt nun schöne, bunte Klangflächen, leise, behutsam, einfühlsam, derweil Hahn ihre Finger rhapsodisch-meditativ über die Saiten huschen lässt. Das Publikum ist ganz verzaubert.

Die Rahmenstücke gehörten dem Orchester allein. Samuel Barbers Adagio für Streichorchester wies zwar noch leichte Warmspielschlacken im Zusammenklang auf, gelang allerdings schön transparent, fein geformt und frei von jeglichem Kitsch - nicht selbstverständlich bei diesem verträumten Trauerstück. Louis Langrée forderte äußerste Gespanntheit und gebündelte Expressivität ein, trotz Zurückhaltung in der Laut­stärke.

In Mozarts Jupitersinfonie, seiner letzten, dann Klassik vom Feinsten. Phrasierung heißt in der Musik Formung der Gedanken, was Lautstärke, Artikulation, Gliederung und Rhythmik angeht. Die Camerata phrasierte vorbildlich: atmend, luftig, lebendig, wodurch jene Transparenz entstand, die den prallen Kosmos des Orchesterinstrumentariums erst hörbar macht und damit die Qualität von Mozarts Musik. Kontrastreich, wirkungsvoll und plastisch spielte der Klangkörper jene Augenblicke heraus, in denen die raffiniert komponierte, sich aber scheinbar unproblematisch gebende Oberfläche plötzlich zerrissen wird und Tiefe entsteht. Ein Abend, der vorführte, wie Musik zur Droge werden kann.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 1.10.2013. Das Konzert fand statt am 28.9.

Donnerstag, 26. September 2013

Alice im Totenreich

Junge WLB Esslingen beschäftigt sich in „Verkleidete Diamanten“ von Nora Backhaus mit dem Thema Tod

Begegnungen der jenseitigen Art: Franziska Theiner als Mädchen mit Tobias Strobel als Maulwurf (li.) und Martin Frolowitz als Gnom. (Foto: WLB, Andreas Zauner)

Esslingen - Für Kinder, die auf die gute alte Aufklärungsfrage „Wo komm’ ich eigentlich her?“ schon alle Antworten wissen, gibt es jetzt in der Jungen WLB, dem Kinder- und Jugendtheater der Esslinger Landesbühne, ein uraufgeführtes Stück, das sich mit dem diametral entgegengesetzten Thema befasst: Wo geh’ ich eigentlich hin? „Verkleidete Diamanten“ heißt das Stück, und es ist sehr anspruchsvoll. Nicht nur, weil es vom Tod und den Fragen, was nach ihm kommt, handelt.

Nora Backhaus, bis zur vergangenen Spielzeit Schauspielerin im Ensemble der WLB, jetzt freischaffend, hat das Stück geschrieben. Es ist ihr erstes und wohl auch eines, das lange in ihr gearbeitet hat. Als sie klein war, schreibt sie im Programmheft, habe sie die Frage nach dem Tod sehr beängstigt, weil niemand Antworten gewusst habe. Es sei wichtig zu lernen, mit dem Thema Tod umzugehen, um dann nicht völlig überfordert zu sein, wenn ein Angehöriger stirbt. In anderen Ländern, wie etwa Mexiko, sei der Tod viel stärker in den Alltag integriert.

Ausgangspunkt des Stücks ist ein Spiel unter Kindern, in dem ein Mädchen „erschossen“ wird und sich tot stellen muss. Eine Situation, die ihm gar nicht behagt. So stellt das Mädchen (Franziska Theiner) die große, ungeklärte Menschheitsfrage: Was passiert mit mir, wenn ich tot bin? Die Frage scheint der Schlüssel zur fantastischen Welt hinter den Dingen zu sein. Wie Alice im Wunderland trifft das Kind nun auf allerlei merkwürdige, befremdende Gestalten. Denen stellt sie ihre Frage, und kriegt eine Menge unterschiedlicher Antworten.

Elementargeister und Puzzlemeister

Es sind schöne Bilder und witzige Figuren, die Backhaus erfunden hat. Die Elementargeister etwa in Gestalt einer Meerjungfrau, eines Papageis und eines Maulwurfs, die den Zustand des Todes ganz nach dem eigenen Wesen beschreiben: „Du fliegst im schönsten Himmel mit Rückenwind über traumhafte Landschaften“, „Du kommst in unentdeckte Ozeane mit unzähligen bunten Fischen und blühenden Seerosen“, „Du wühlst dich durch lockeren, weichen Sand mit vielen leckeren Regenwürmern drin!“Ein ge­nial-verrückter Puzzlemeister setzt pantomimisch Quader aufeinander, um sich daraus ein Haus zu bauen. Was nach dem Tod sei? „Du wirst natürlich neu zusammengepuzzelt!“, sagt er. Mit einem Knall landet das Mädchen an der Pforte des Totenreichs. Der verwirrte Wächter, der dreiköpfige Hund, gerät mit sich selbst in Streit bei jener gewichtigen Frage: „Hinter uns liegt nicht das Paradies. Dahinter ist das Nichts“, sagt sein erster Kopf. „Warum sollten wir denn das Nichts bewachen?“, fragt sein zweiter Kopf, „das ist alles Quatsch! Hinter uns liegt eine Wartehalle, in der du deinen neuen Körper bekommst“.

Nora Backhaus spricht vieles an in ihrem Stück: die Frage nach der Wiedergeburt, ob die Unsterblichkeit wünschenswert ist, dass das Leben schön und wertvoll ist und wir alle im tiefsten Inneren verkleidete Diamanten sind, die der Tod nur dann zertrümmern kann, wenn niemand sich mehr an uns erinnert. Das Ensemble mit Franziska Theiner, To­bias Strobel, Annegret Taube und Martin Frolowitz macht seine Sache in der Regie von Nora Bussenius mitreißend, engagiert, lustig und sehr liebevoll. Die kleine Bühne des Kindertheaters im Esslinger Schauspielhaus wurde von Sebastian Ellrich in eine kühle Betonlandschaft mit meist verspiegelten Ausgängen verwandelt. Wunderbar sind Thomas Rodehuth die vielen unterschiedlichen Kostüme gelungen - etwa der erd-flauschige Maulwurf mit Schweißerschutzbrille oder der garstige Gnom: ein Mülltütenhaufen mit Gesicht.

Achtjährige, an die sich das Stück richtet, dürften von der Aufführung insgesamt allerdings überfordert sein. Spätestens in der viel zu langen Szene vom armen, mitleiderregenden, uralten Wesen, das alles schon hundertmal erlebt hat und sich zu Tode langweilt, aber immer noch nicht sterben darf, wurde das junge Publikum in der Uraufführung sehr unruhig. Und Themen wie Wiedergeburt über ein Rollenspiel dreier verkleideter Affen zu behandeln, verlangt schon einige intellektuelle Geschmeidigkeit. Über viele Witze lachten denn auch vor allem die Erwachsenen. Und womöglich erst der finale Auftritt des Maulwurfs - er ist der Sympathieträger des Abends - und sein Liebesgeständnis an einen perfekt geformten Stein sprachen wieder die Humornerven der Jungen und Mädchen an. Dennoch: „Versteckte Diamanten“ ist ein schönes, gelungenes Stück, das man freilich noch ein wenig straffen könnte und das eher für Kinder ab zehn Jahren geeignet erscheint. Und dann am besten thematisch gut vorbereitet durch die Schule.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 24.9.2013. Premiere war am 21.9.

Mittwoch, 11. September 2013

Tödlich langweilig

Musikfest Stuttgart: Das Hilliard Ensemble und die Geigerin Muriel Cantoreggi in der Domkirche St. Eberhard

Stuttgart - Spielerei oder Zufall? Sieben Töne umfasst das Thema des Credo der Bach’schen h-Moll-Messe. Sieben ist die Zahl der Vollkommenheit. Also, mutmaßt so mancher Bach-Exeget, sagt die Musik hier: Der Gott, an den wir glauben, ist vollkommen. Verborgene Zahlensymbole in Bachs Werk ausfindig zu machen, ist ein beliebtes Hobby musikwissenschaftlicher Spürnasen. Ein anderes Verfahren der Dechiffrierung geheimnisvoller Mitteilungen ist die Suche nach Parallelstellen zwischen Vokal- und Instrumentalwerken. Eine eigentlich mit Text unterlegte Tonfolge kann dann im Kontext eines rein instrumentalen, also wortlosen Werks plötzlich Bedeutsames an den Tag bringen. Wenn es sich dabei um ein genaues Zitat handelt, macht das Sinn. Wenn man aber die Töne mühsam aus der Partitur zusammenklauben muss, um die Melodie erkennbar zu machen, wird das Verfahren fragwürdig.

Die Musikwissenschaftlerin Helga Thoene hat 1994 eine solch spekulative, weil nicht beweisbare Zahlen- und Zitate-Analyse der berühmten Chaconne aus Bachs d-Moll-Partita für Violine solo angedeihen lassen. Sie glaubte, darin ein klingendes Epitaph, also eine Grabinschrift Bachs für seine plötzlich verstorbene erste Gattin Maria Barbara entdeckt zu haben. Thoene stützte ihre These unter anderem auf verborgene Zitate aus dem Choral „Christ lag in Todesbanden“, die sich wie ein roter Faden durch die Chaconne ziehen sollen. Das britische Hilliard Ensemble hat Thoenes Mutmaßungen mit seinem Projekt „Morimur“ zum Klingen gebracht. Beim Musikfest Stuttgart stellte das Vokalquartett zusammen mit der Freiburger Violinprofessorin Muriel Cantoreggi das Resultat in der Eberhardskirche vor.

Leider plätscherte die Veranstaltung ohne weitere Erklärungen so vor sich hin. Die Zuschauer sollten sich offenbar selbst einen Reim darauf machen. Zunächst spielte Cantoreggi die komplette d-Moll-Partita, wobei die Hilliards zwischen den fünf Sätzen einzelne Choralzeilen zum Besten gaben. Dann folgten sämtliche in der Chaconne angeblich zitierten Choräle. Abschließend gab es als Synthese noch einmal die Chaconne, diesmal mit darübergesungenen Choralfragmenten.

Mal abgesehen davon, dass die Thoene’sche Analyse in der Praxis keinen Mehrwert offenbart, weil die vermeintlich geheimen Melodien im Klangmaterial mühsam zusammengesucht wirken und es zudem Eulen nach Athen tragen heißt, wenn man den Affekt von Trauer und Schmerz etwa in chromatischen Tonfolgen ausfindig macht: Es war vor allem die schlechte Qualität der Aufführung, die den Abend so fragwürdig machte. Denn Cantoreggi, die ihre Geige mit monochromem, statisch phrasiertem Ton traktierte, war von dem technisch und gestalterisch extrem anspruchsvollen Werk deutlich überfordert. Man vermisste einen hörbaren Spannungsbogen, schnelle Läufe und Arpeggien wirkten gehudelt, der Überdruck ihres Bogens produzierte Schlacken.

Unausgewogen im Zusammenklang, kaum miteinander kommunizierend, dazu ohne besonderen Gestaltungswillen präsentierte sich das Hilliard Ensemble: Monika Mauch als Gast sang mit viel zu schneidendem Sopran und überdeckte dadurch Countertenor David James, während Tenor Steven Harrold durch katastrophale Intonation auffiel und Gordon Jones’ zu wenig geerdeter Bariton zittrig wirkte. Das alles zerrte arg an den Hörnerven. „Morimur“ heißt „wir sterben“. An diesem Abend starb man vor Langeweile.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 9.9.2013. Das Konzert fand statt am 6.9.

Montag, 9. September 2013

Himmlisches Licht, himmlische Stimmen

Musikfest Stuttgart: A-Cappella-Konzert mit dem norwegischen Vokalsextett Nordic Voices in der Domkirche St. Eberhard

Stuttgart - Geheimnisvoll und ein bisschen gespenstisch beginnen die sechs Nordic Voices ihr spätes Konzert in der Domkirche St. Eberhard: ein sanftes Gewebe aus Säuseln, Windeswispern und tiefem Brummen, das eher an ein Didgeridoo erinnert als an eine menschliche Stimme. Dazwischen zartes Pfeifen, das lustig seine eigenen Wege geht: Obertongesang, äolsharfengleich und nicht ganz von dieser Welt. Der Komponist Lasse Thoresen hat sein hymnisches Stück „Himmelske Fader“ (Himmlischer Vater) , das nach diesem mystischen Intro langsam in ein „normales“, mal chorisches, mal solistisches Singen übergeht, dem phänomenalen norwegischen Vokalsextett auf den Leib geschrieben. Es sind die instrumentalen Farben und naturhaften Klänge, die sich immer wieder in die traditionelle Singtechnik mischen und Nordic Voices zu einem ganz besonderen Ensemble machen.

Mit ihrem Landsmann Lasse Thoresen arbeiten die drei Frauen und drei Männer eng zusammen. Die experimentierfreudigen Künstler machen sich besonders für die zeitgenössische Musik ihrer Heimat stark. Sie lieben und genießen sichtlich Thoresens kompositorische Mischung aus skandinavisch-folkloristischen Klängen, Mikrotonalität und spektralen Obertönen. So auch „Solbøn“, mit dem die Vokalisten ihr A-Cappella-Programm beenden: eine musikalische Sonnenanbetung, die plastisch mit Dunkel-Licht-Effekten arbeitet, mit wolkigen Klangflächen, aber auch handfesten Volksmelodien. Selbst der Nebel wird hörbar, durch den die ersten Sonnenstrahlen am Morgen fallen, bevor sich nach und nach der ganze Himmelskörper Bahn bricht und die Landschaft unter gleißendes Licht setzt. Da juchzen und jauchzen die Stimmen vor Euphorie.

Berückend schön auch die luziden, mikrotonalen Klangflächen in „Verklärung“ von Asbjørn Schaathun oder „Kyrie“ von Gisle Kverndokk. So weich und warm können sich Dissonanzen reiben. Aber auch das dur-mollige Wiegenlied „Sov, sov liten gut“ (Schlaf, schlaf kleiner Junge), geschrieben von Ensemble-Bariton Frank Havrøy, gerät den Nordic Voices zu vibrierender Wohlklangfarbenmusik dank eines vollen, wohlausgewogenen Zusammenklangs, der sich sofort auch wieder verschlanken kann. Lupenrein, klar, geschmeidig und beweglich singen alle sechs Goldkehlchen: Neben Frank Havrøy die Soprane Tone Elisabeth Braaten und Ingrid Hanken genauso wie Mezzosopran Ebba Rydh, Tenor Per Kristian Amundrød und Bass Trond Olav Reinholdtsen. Auch in den beiden Renaissance-Werken „Tenebrae factae sunt“ von Carlo Gesualdo und „Exaltata est“ von Cristobal de Morales zeigen sie Gesangskunst von höchster Güte: farblich perfekt aufeinander reagierend bis zur völligen Verschmelzung, mit packendem Spannungsbogen, enorm in ihrer dynamischen Bandbreite und selbst im Pianissimo noch von weittragender Intensität.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 7.9.2013. Das Konzert fand statt am 5.9.

Sonntag, 8. September 2013

Leben pur

Musikfest Stuttgart: Igor Levit glänzt m Mozartsaal mit Beethoven und Liszt

Igor Levit in Aktion. (Foto: Promo)

Stuttgart - Igor Levit fixiert meist scharf die Tasten, wenn er Töne und Klänge formt, sitzt leicht vornüber gebeugt, und sein Gesicht verzieht sich zuweilen, als jongliere er gerade mit rohen Eiern. Der junge Pianist ist ein Meister des subjektiven Ausdrucks und der emotionalen wie intellektuellen Einverleibung jedes strukturellen Details einer Komposition, wie jetzt sein Klavierabend beim Musikfest im Mozartsaal wieder deutlich machte. So geriet „Der Sturm“, wie fantasiebegabte und Shakespeare liebende Zeitgenossen Beethovens 17. Klaviersonate seinerzeit tauften, einerseits zum Bad heftigster Stimmungsschwankungen, andererseits erschien das Material so durchgeformt und plastisch, dass sich diese ja eigentlich abstrakte Musik wie von selbst zur einer Geschichte formte.

Zeit scheint still zu stehen

Levit erzählte vom Leben, seinen Abgründen, seinen Katastrophen, von Tod und Einsamkeit, aber auch von seinen Glücksmomenten und der Überwindung der Verzweiflung. Levits unerschöpfliche Klangfantasie macht das möglich: Jedes Motiv eines Themas spricht unterschiedlich, erhält so einen eigenen Charakter, wodurch besondere klangliche Ereignisse über die Sätze hinweg erinnerbar bleiben. Manchmal bringt Levit die Strukturen an den Rand des Zerfallens. Das sind die Augenblicke, in denen die Zeit still zu stehen scheint und etwas nicht mehr ganz Fassbares im Raume steht. Wie jeder große Pianist hat der 26-Jährige die virtuosen Ansprüche verinnerlicht. Alles klingt leicht und selbstverständlich. Souverän und gelassen kann er sich so an die Gestaltung machen. Igor Levit, der als Kind aus Russland nach Deutschland kam, sagt von sich, er erarbeite sich ein neues Stück zuerst immer ohne Klavier aus den Noten, trage es mit sich im Kopf herum, manchmal einige Monate. Man müsse es doch kennen, bevor man es spiele.

Dies trifft vor allem auf die Werke Liszts zu, dies es Levit besonders angetan haben. An diesem Abend spielt er nach der Pause vier Stücke aus dem zweiten Band „Italie“ der „Années de pèlerinage“ (Pilgerjahre) - ein Hymnus auf die Universalität der Künste: auf Dichtung, Bildende Kunst und Musik. Eine Hommage an Raffael, Michelangelo, Petrarca und Dante. „Raffael und Michelangelo“, schrieb Liszt einmal, „verhalfen mir zum Verständnis von Mozart und Beethoven“.

Levit reflektiert und sinniert, versinkt tief in der Klangwelt eines Sinn- und Ich-Suchenden. Niemals gibt er sich dem virtuosen Rausch hin, immer bleibt er deutlich, erhält jede zarte Tongirlande, jede Verzierung, jede Umspielung Bedeutung. Wie in „Il Penseroso“ (Der Sinnende), in dem Liszt seine Eindrücke beim Anblick des Florentiner Michelangelo- Denkmals verarbeitete: Finster und abweisend gibt sich die Musik, die Aura des Sinnenden, seine Tragik und die marmorne Starre des Kunstwerks in sich aufnehmend. Levit sucht nach den Bedeutungen hinter den Klängen, findet Töne in der Stille.

Subjektiver Zugriff


Sein extrem subjektiver Zugriff auch auf die Barockmusik, wie etwa auf Johann Caspar Kerlls d-Moll-Passacaglia, mag nicht jedem gefallen. Innerhalb seines Konzerts war das aber durchaus stimmig. Den besonderen Höhepunkt im wahrsten Sinne des Wortes bewahrte sich Levit ohnehin für die Zugabe auf: Liszts Klavierbearbeitung von „Isoldes Liebestod“ aus Wagners „Tristan“-Oper. Levit verwandelte den Flügel in ein großes Orchester, aber nicht im Sinne eines opulenten Klanges, sondern durch äußerster Transparenz und Vielstimmigkeit. Wie er diese erregte Musik, in der so manch einer die Vertonung eines Orgasmus erkennt, wie er die aufsteigenden Sequenzen minutiös in die Ekstase führte, die einzelnen Stimmen spielerisch individualisierte und dadurch absolut pathosfrei die enorme Sinnlichkeit dieser Musik noch steigern konnte: Das war einfach große Klasse.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 6.9.2013. Das Konzert fand statt am 4.9.

Freitag, 6. September 2013

Zerbrechliche Klangwelt

Musikfest Stuttgart: Die Geigerin Carolin Widmann mit Soloprogramm in der Johanneskirche

Stuttgart - Totenstille herrscht in der Stuttgarter Johanneskirche am Feuersee. Salvatore Sciarrinos Flüsterstücke für Geige solo, die Sechs Capricci, fordern das ein. Der Italiener revolutionierte damit 1976 die Spieltechnik der Violine. Fast immer werden die Töne im Flageolett gegriffen, also mit nur leicht aufgesetzten Fingern auf den Saiten, so dass die Obertöne, die Naturtöne der Geige, hörbar werden. Carolin Widmann spinnt daraus an diesem späten Montagabend beim Musikfest zarte Geflechte aus Vogelzwitschern oder aus feinsten Schraffuren und Glissandi, die oft in zackigen Fieberkurven huschen und tanzen. Die Zeit scheint still zu stehen. Auch greift sie den Bogen mit der Faust und reibt ihn auf die Saiten, die Quälgeräusche von sich geben, oder sie klopft mit den rechten Fingern auf das Griffbrett, macht diffuses Tröpfeln und Zischen hörbar. Alles in rasendem Tempo und Wechsel natürlich.

Sciarrino goss die zerbrechlichen Klänge in wohlstrukturierte Formen, die sich deutlich auf Paganinis 24 Capricci beziehen und diese auch gelegentlich subtil zitieren. Eine Welt jenseits des Schönklangs, und doch so ausdrucksstark, vielfältig und berührend. Niemand derzeit kann sie vermutlich so teuflisch gut spielen und so schön erdentrückt und verschleiert in den Raum schicken wie Carolin Widmann, die sich stets für die Neue Musik stark macht. Mit „Bravo“-Rufen bedankte sich das Publikum für diese Virtuosenkunst im Gewande der Avantgarde. Der Geist Paganinis offenbart sich in diesen Stücken ja auch im verwunderten Aufhorchen: Wie schafft es Widmann nur, das so zu spielen? Und wie viel Üben braucht es? Der rote Geigenfleck am Hals, Arbeitsmal aller Vielübenden, ist bei der Mitdreißigerin nicht eben klein.

Sciarrinos zerbrechliche Klangwelt war zwischen zwei Klassikern für Solovioline - einem der Moderne und einem des Barock - gut aufgehoben. Béla Bartóks späte Violinsonate, sein letztes Kammermusikwerk, ist auf andere Weise höchst anspruchsvoll. Es bezieht sich auf Bachs d-Moll-Partita, die Widmann als letztes Werk spielte: auf die berühmte Chaconne, auf die Fugentechnik, auf die Synthese eines mehrstimmigen und tänzerischen Stils. Aber die expressive Verdichtung, mit der Widmann ihr Publikum in den Bann zog, ist in Bartóks Sonate verzweifelter und voller dissonanter Grenzgänge, die im Finale gar zu mikrointervallischen Fortschreitungen führt. Klar, dass eine Spezialistin für Neue Musik für Bartóks zukunftsweisende Sonate wesentlich mehr Klangfarben parat hat als konventionelle Virtuosen, sowohl im fahlen Suchen als auch in krasser Geräuschhaftigkeit.

Bachs d-Moll-Partita beendete den umjubelten Abend und war damit glänzend positioniert. Denn die Wirkung tonaler Musik verstärkt sich auf geheimnisvolle Weise, wenn sie auf neue Klänge folgt. Warm, weich, satt war der Ton, mit dem Widmann das polyphone, akkordisch-melodische Spiel meisterte, dem tänzerischen Geist nachspürte und wie zupackend, deutlich und kräftig sie die Chaconne interpretierte. So klar und rein, so geerdet und auch ein bisschen deftig kann diese Partita wohl nur nach einem Sciarrino klingen.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 4.9.2013. Das Konzert fand statt am 2.9.

Mittwoch, 4. September 2013

Bach geschüttelt und gerührt

Musikfest Stuttgart: „The Battle of Bach“ mit dem Peter Sadlo Quintett und der Elbtonalpercussion im Theaterhaus

Stuttgart - Wer hat den Jazz erfunden? Peter Sadlo hat die Antwort: „Bach natürlich.“ Und Sadlo muss es wissen, immerhin gehört er zu den weltbesten Solo-Schlagzeugern. Im Stuttgarter Theaterhaus, wo Sadlo am Samstagabend beim Musikfest in Wettkampf trat zu vier ebenso schlagfertigen Kollegen, untermauerte er seine kühne These vor allem in berühmten Bach-Präludien, die per se über eine perkussive Seele verfügen.

Hier lieferte er sich mit dem jungen Turiner Simone Rubino auf Marimba und Vibes wahrlich wilde Wettläufe. In rasendem Tempo tanzten und wirbelten die Schlägel über die Klangstäbe. Und das so überzeugend, dass das Publikum, was die geschichtlichen Tatsachen angeht, schon bald einer Art Gehirnwäsche unterzogen war: Na klar, Johann Sebastian Bach hat den Jazz erfunden, und das vor allem in Hinsicht auf die wundersam weite Welt des Schlagwerks.

Blues-, Swing- und Latin-Versionen

Denn unter dem Motto „The Battle of Bach“ gab es in Blues-, Swing- und Latin-Bearbeitungen von Werken Bachs und anderer nicht nur tradi­tionelle Schlaginstrumente auf die Ohren. Nein, neben Normalo-Trommeln und Congas, Holzblöcken, Zimbeln und Drumset erspähte man viele merkwürdige Zeitgenossen: etwa eine Trommel mit zwei Schallbecher-Ohren, aus deren Innern Claudio Estay grunzende und quietschende, auf jeden Fall etwas frivole Geräusche herauskitzelte.

Dann griff Sadlo zum Megaphon, um sein Klickediklack und Dumdididum mit Nonsensprosa zu veredeln. Und der Bulgare Kiril Stoyanov bearbeitete mit seinen Schlägeln die Pads eines Malletkats, eines elektronischen Stabspiels, mit dem man eine Menge Instrumente imitieren kann - von der donnernden Kirchenorgel über eine quäkende bulgarische Schalmei bis hin zum swingenden Bass. Weshalb die fünf Männer an diesem Abend auf ergänzende Band-Instrumente verzichten konnten, selbst in Chick Choreas „Spain“.

Melodisches war an diesem Abend also genauso gefragt wie Trommeldonner, etwa im verträumten, melancholischen, zart bebenden „Blues für Gilbert“ von Mark Glentworth für Vibraphon. Andreas Csok am Drumset schaute dabei immer sehr verschmitzt drein, lieferte sich Trommelduelle mit Estay, und beide garnierten das musikalische Geschehen immer wieder mit delikaten, fein ziselierten Klängen und ironisch-augenzwinkernden Pointen.

Dass die fünf Rhythmusvirtuosen unglaublichen Spaß bei der Arbeit hatten, übertrug sich bald aufs Publikum. Nicht nur für die Schweißtropfen auf der Marimba bedankte sich der volle Saal am Ende mit tosendem Applaus.

Weniger draufgängerisch und ekstatisch ging es im Spätkonzert der Elbtonalpercussion zu. Die vier crossover-geschulten Schlagwerker aus Hamburg machten gleich im Intro klar: Jetzt wird’s ernster, meditativer und subtiler. Unter den zarten Marimbaklängen, aus denen Jan-Frederick Behrend das berühmte Bach-C-Dur-Präludium strickte, wurde deswegen ordentlich geplätschert inklusive der wiederholten Versenkung eines Gongs im Wassereimer. Schließlich meint Bach ja auch Fließgewässer. Fein auch das Arrangement des Bach-Chorals „Wenn ich einmal soll scheiden“ für Schlitztrommel, Kalimba und zwei Glockenspiele oder jenes des c-Moll Präludiums BWV 999, in dem auch ein sehr langes Plastikrohr und ein Haufen Blech beteiligt sind. Es zählten nun weniger individuelle Improvisationen als das kontrastärmere Gruppenspiel, was die moderierenden Musiker selbstironisch über die sinnstiftende „gruppentherapeutische“ Ausrichtung ihres Tuns witzeln ließ. Sie seien wie jene Mönche, die auf der japanischen Insel Sado ihr Leben ausschließlich dem Joggen, Beten und Trommeln widmeten.

Radau mit Regentonnen

Im „Trio per uno“ von Nebojsa Jovan Zivkovic, in dem die Musiker ein und dieselbe große Trommel traktierten, gab es wummernde Rhythmusvariationen über einem gleichmäßigen Puls. Echte Kontraste bot vor allem das klassisch-neutönende Marimba-Konzert „The Wave“ von Keiko Abe, in dem Behrend sich virtuos profilieren konnte, während das Kollegentrio durch Schreie und robustes Schlagen der japanischen Taiko-Trommeln das Geschehen befeuerte.

In Stephan Krauses „Stomping Buckets“ dagegen arbeitete man wieder im gut koordinierten Quartett: Regentonnen dienten nun als wohlstrukturierte Radaumacher, während vier mit Buchstaben versehene Eimerchen hin- und hergeworfen wurden, bis sie endlich - ganz zur Freude des Publikums - das Wort BACH ergaben. Was allerdings ziemlich voraussehbar gewesen ist.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 2.9.2013. Das Konzert fand statt am 31.9.

Montag, 2. September 2013

Im Tal der Glocken

Musikfest Stuttgart: Der Pianist Herbert Schuch in der Liederhalle

Stuttgart - „Konzeptalbum“ nennt man Schallplatten oder CDs, auf denen einzelne Titel nicht für sich stehen, sondern sich thematisch aufein­ander beziehen, um so zu einem Gesamtwerk zu verschmelzen. Berühmtes Beispiel ist die LP „Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ der Beatles. In der klassischen Konzerttradition ist solches synthetisches Vorgehen - trotz gelegentlicher übergreifender Thematik - nicht üblich. Zu umfänglich erscheinen die einzelnen Werke dafür, ob Sinfonie oder Solosonate. Aber auch wenn kleinere Formen zur Aufführung kommen, werden sie meist isoliert behandelt.

Was der deutsch-rumänische Pianist Herbert Schuch jetzt beim Musikfest bot, war aber im besten Sinne ein Konzeptkonzert. Unter dem Motto „Ruf der Glocken“ verband er in seinem pausenfreien Klavierabend im gut besuchten Mozart-Saal der Liederhalle romantische und impressionistische Charakterstücke, also übersichtliche pianistische Stimmungsbilder unterschiedlichster Komponisten, zu einem großen Ganzen. Nur in der Mitte gab es eine kleine Zäsur, in der geklatscht werden durfte. Ansonsten waren die Übergänge fließend, bereitete sich Schuch im letzten Takt des einen Stücks innerlich bereits auf das folgende vor, das er dann ohne Unterbrechung anschloss. Beeindruckend, wie es ihm etwa gelang, sofort von Harold Bauers romantisierender Schönklangbearbeitung der Bach-Arie „Die Seele ruht in Gottes Händen“ in die rabenschwarze Klangwelt der „Funérailles“ von Franz Liszt einzutauchen, die der Komponist 1849 als eine Art Grabrede für den verstorbenen Fréderic Chopin geschrieben haben soll. Die „Funérailles“ war das vorletzte Stück der Schuch’schen Reise durch die Seelenlandschaften eines trauernden, zweifelnden Ichs, die ihr Ziel in Maurice Ravels gewaltig donnerndem „Tal der Glocken“ hatte.

Gespräche mit Gott


Die impressionistische Klangwelt scheint dem allürenfreien, eher intro­vertiert wirkenden jungen Mann besonders zu liegen. Sein klangsuchender, sensibler Zugriff, verbunden mit großzügigem Pedalgebrauch, machte aus Tristan Murails „Abschiedsglocken, und ein Lächeln“, komponiert 1992 anlässlich des Todes des Komponisten Olivier Messiaen, ebenso pralle Farbenmusik wie aus Franz Liszts „Pater Noster“ und „Bénédiction de Dieu dans la solitude“: beides innere Zwiegespräche eines Einsamen mit Gott. Und als wolle er darauf eine Antwort finden, ließ Schuch Ferruccio Busonis Choralvorspiel zu Bachs „Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ“ folgen. Wut und Abschiedstränen thematisierten dagegen Messiaens „Cloches d’angoisse et larmes d’adieu“ - komponiert im Gedenken an die Mutter. Das Konzept war stimmig, Schuch hielt die Spannung bis zum Schluss. So folgte das Publikum atemlos und unterwarf sich ohne Murren der ungewohnten Anordnung, zwischen den Nummern nicht Beifall spenden zu dürfen. Für alle Zuhörer, die das Beifallklatschen nicht uneingeschränkt als angenehmes Geräusch empfinden, war das ein weiterer Wohlfühl­effekt dieses Abends.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 30.8.2013. Das Konzert fand statt am 28.8.

Mittwoch, 21. August 2013

„Bach ist für mich schönste Tanzmusik“

INTERVIEW HANS-CHRISTOPH RADEMANN
Der neue künstlerische Leiter der Internationalen Bachakademie Stuttgart möchte einen leichten und lockeren Stil entwickeln

Hans-Christoph Rademann: „Ich gehe mit grenzenlosem Vertrauen in die Aufgabe.“

Stuttgart - In dieser Woche geht in Stuttgart eine Ära zu Ende: Am Samstag übergibt im Rahmen des Musikfests Stuttgart Helmuth Rilling, Gründer und ehemaliger Leiter der Internationalen Bachakademie Stuttgart (IBA), den Stab offiziell an seinen Nachfolger Hans-Christoph Rademann. Der 48 Jahre alte Leiter des RIAS Kammerchors möchte in Stuttgart einen sehr transparenten Chorklang entwickeln, wie er im Gespräch mit Verena Großkreutz erläutert.

Herr Rademann, auf Ihnen lastet viel Druck, was die Vergangenheit und die Zukunft der Bachakademie angeht. Wie gehen Sie damit um?

Rademann: Ja, eine gewisse Erwartungshaltung ist entstanden, und die ist auch berechtigt. Und ich fühle auch eine gewisse Anspannung. Aber der Druck lastet nicht auf mir alleine, sondern auf allen, die sich mit der IBA eng verbunden haben. Das sind alle hier am Haus, aber genauso auch unsere Ensembles, die Gächinger Kantorei und das Bach-Collegium Stuttgart. Es nutzt aber nichts, sich darüber Tag und Nacht Gedanken zu machen. Es gilt jetzt, sich gemeinsam an die Arbeit zu machen und zu schauen, was die Zukunft bringt. Ich gehe mit grenzenlosem Vertrauen in die Aufgabe. Und ich freue mich, dass es jetzt endlich losgeht.

Sie wurden 1965 in Dresden geboren, haben dort studiert und 1985 den Dresdner Kammerchor gegründet, den Sie bis heute leiten. Sie haben auch eine Professur für Chordirigieren in Dresden inne. Sind Sie dort auch aufgewachsen?

Rademann: Ich bin eigentlich nur zufälligerweise in Dresden geboren. Mein Vater war Kantor im Erzgebirge, im idyllischen Olbernhau. Meine Mutter war gerade hochschwanger, als er sein erstes Weihnachtsoratorium zu dirigieren hatte. Da hat er gesagt: ‚Fahr doch zu deiner Mutter nach Dresden, dann stört dich mein Stress hier nicht so‘, und so kam ich in Dresden zur Welt. Aufgewachsen bin ich aber im Erzgebirge. Als ich in der vierten Klasse war, habe ich vom Dresdner Kreuzchor erfahren und war so fasziniert von der Idee, da mitzusingen, dass ich meine gesamten Überredungskünste zum Einsatz gebracht habe, um meine Eltern dazu zu bringen, mich in das Kreuzchor-Internat zu geben. Dort habe ich dann 1983 Abitur gemacht.

Seit kurzem leben Sie nun mit Ihrer Familie in Stuttgart. Es gibt ja gewisse Ähnlichkeiten zwischen Dresden und Stuttgart. Beide Städte liegen in einem Talkessel, und die Einwohner haben dadurch eine leicht eingeschränkte Sicht.

Rademann: Zu Stuttgart kann ich im Augenblick noch sehr wenig sagen, außer dass ich erst im Vorfeld meines Ortswechsels erfahren habe, wie viele Vorurteile über die Schwaben kursieren. Ich kann dazu nur sagen: Ich habe bisher so gut wie nur nette Schwaben kennengelernt. Ich fühle mich auch recht wohl hier. Ob der Talkessel die Menschen wirklich so prägt, dass wäre noch zu beweisen. Durch die wirtschaftlich weltweite Vernetzung ist doch der Blick über den Tellerrand absolut notwendig. Man wäre nicht ein Weltmarktführer, wenn man nicht auch Weltbürger wäre.

Sie leiten ja derzeit noch andere Ensembles. Machen Sie sich da nicht selbst Konkurrenz?

Rademann: Das könnte man so sehen. Aber ich habe Verträge zu er- füllen, bis 2015 mit dem RIAS Kammerchor. Der gilt weltweit als einer der zehn besten Chöre. So eine Aufgabe kann man nicht leichtfertig aufgeben. Ich trage Verantwortung. Ansonsten habe ich alles dafür getan, möglichst viel Zeit für die IBA zu haben, etwa mich von meiner Hochschultätigkeit in Dresden beurlauben lassen. Und mein Umzug nach Stuttgart ist ja ein klares Zeichen, wo ich mich hauptsächlich befinden werde.

Sie betonten im Vorfeld Ihres Stellenantritts, dass Sie viel von Rilling gelernt haben. Könnte man davon etwas aus Ihrem Stil heraushören?

Rademann: Ich habe während meines Studiums Dirigierkurse bei ihm besucht: in Leipzig und bei zwei Sommerakademien in Stuttgart. Ich habe gute Erinnerungen daran. Ich habe mich damals auch intensiv mit Schallplattenaufnahmen Rillings, die mein Vater besorgt hatte, beschäftigt. Aber man unterliegt als Künstler vielfältigen Einflüssen. Und es ist wichtig, dass man seinen eigenen Stil findet. Aber ich habe besonders die Durchsichtigkeit seines Chores bewundert, in dem man immer jede Stimme sehr präsent gehört hat.

Sie dirigieren in Ihrem Antrittskonzert Händels Oratorium „Israel in Egypt“. Warum gerade dieses Werk?


Rademann: Einerseits wollte ich kein Allerweltstück machen und vor allem zeigen, wie wichtig mir der Chor ist. Da passt „Israel in Egypt“, weil der Chor darin Hauptperson ist; er muss ganz schön viele Facetten zeigen: vom zartesten Piano über hintergründige Gedanken und merkwürdige Ausdrucksformen wie Ekel bis zur Brachialgewalt. Andererseits wollte ich einen Bezug zum Eröffnungskonzert von Daniel Barenboim mit dem West-Eastern Divan Orchestra, in dem ja junge Israelis und Palästinenser friedlich zusammenspielen, herstellen und die Ursachen für die Konflikte im Nahen Osten ein bisschen aufarbeiten.

Als Akademieleiter möchten Sie ja wieder stärker Johann Sebastian Bach ins Zentrum der Aktivitäten stellen. Das war ja auch ein Wunsch des Vorstandes der IBA. Aber ist ein Vorstand eigentlich dazu berechtigt, derart in die künstlerischen Belange des Hauses einzugreifen?

Rademann: Man hat sich gar nicht so vehement eingemischt. Im Gegenteil: Man hat uns sehr viele Freiheiten gegeben, aber natürlich auch gefragt, wie wir uns die Zukunft vorstellen. Ich habe mir Gedanken gemacht und gesagt: Wenn auf einem Haus Bachakademie draufsteht, dann sollte auch Bach drin sein. Ganz einfach. Und für mich ist Bach nach wie vor ein wichtiger Komponist, der uns viel zu sagen hat.

Im Gegensatz zu Helmuth Rilling stehen Sie ja für die historische Aufführungspraxis. Wie wird sich das zukünftig bemerkbar machen?


Rademann: Das Thema wird viel zu hoch gehängt. In sehr guten Barockorchestern hat man zwar andere Lautstärkenverhältnisse und den tieferen Stimmton, aber wenn ein modernes Orchester geschmackvoll spielt und stilistisch sicher ist, dann ist der Unterschied gar nicht so bahnbrechend groß. Aber klar: Durch den historischen Stimmton von 415 Hertz, der einen Halbton unter dem heutigen Kammerton liegt, haben Alte-Musik-Ensembles bei Stücken, die für die Soprane sehr hoch liegen, viel weniger Probleme. Und sie arbeiten vor allem daran, deklamatorisch eine Sprache zu finden. Sie fassen Musik stärker als Klangrede auf. Ich trage diese Klangvorstellungen in mir, und so wird sich der Klang des Bach-Collegiums, auch wenn es ein modern besetztes Orchester ist, sicher in diese Richtung entwickeln.

Sie haben das Probenpensum mit den Ensembles deutlich erhöht. Wohin wird die Arbeit mit dem Chor gehen?


Rademann: Wir müssen die Ärmel hochkrempeln. Ich möchte einen sehr transparenten Chorklang haben, ganz homogen, aufgeräumt und sortiert. Ich möchte einen sprachlich orien­tierten, leichten und lockeren Stil entwickeln. Ich bin gespannt, wie lange ich dafür brauchen werde. Bach ist für mich ja schönste Tanzmusik. Das ist auch ein körperliches Feeling, wenn das Ganze ins Schwingen kommt. Ich hatte kürzlich mal die Assoziation, dass Bachs Musik wie ein lebendiger Organismus ist: Wenn man ihn beatmet und einen Puls reinbekommt, ist das so, als fließe Blut durch ihn. Vielleicht ist da ja was dran, denn die göttliche Ordnung kann sich ja eigentlich nur in einem Organismus widerspiegeln.

Welche Visionen haben Sie für die IBA?

Rademann: Ich möchte einen eigenen Personalstil entwickeln, der als Aushängeschild der Bach-Interpretation zum Markenzeichen von Stuttgart, der Region und der IBA wird. Vor allem aber wollen wir aus dem Musikfest ein wunderbares Festival von internationaler Leuchtkraft machen. Stuttgart steht im Kultur-Ranking auf Platz 1 und glänzt auf allen Gebieten, nicht nur der Wirtschaft. Wir wollen uns nicht mit Salzburg vergleichen, aber so eine Stadt braucht ein Festival von internationaler Ausstrahlung. Das geht aber nur, wenn Stadt, Land und Unternehmen es auch wollen. Derzeit ist unser Budget noch viel zu schmal.

Interview für die Eßlinger Zeitung vom 20. August.

Mittwoch, 24. Juli 2013

Prinzip Hölle

Die Stuttgarter Staatsoper führt Rachmaninows Einakter „Francesca da Rimini“ konzertant auf

Stuttgart - Vergils Geist blieb am Freitagabend in der S-Bahn stecken. Da ging es auch Bariton Shigeo Ishino, der ihn singen sollte, nicht anders als den vielen Mitgliedern des Staatsorchesters und des Opernchores, die Opfer des Stromausfalls am Stuttgarter Hauptbahnhof geworden waren und nicht pünktlich zur Vorstellung erscheinen konnten. Die Premiere von Rachmaninows Operneinakter „Francesca da Rimini“ an der Staatsoper begann deshalb 45 Minuten später.

Sünden der Liebe

Den vorausgegangenen Stress merkte man aber niemandem an. Im Vergleich zum Schmoren in der Hölle, die Rachmaninow im Prolog mit allen raffinierten Mitteln, die einem Komponisten 1905 zur Verfügung standen, in Szene gesetzt hat, ist so ein Stromausfall ja ein Kinkerlitzchen. Wobei Vergils Geist sich auch hier recht entspannt artikulierte, Ishi­no in gewohnter Ruhe und Sonorität dem ängstlichen Dante - mit schöner, geschmeidiger Stimme gesungen vom charismatischen Tenor Stanley Jackson - das Prinzip Hölle erklärte. Womit in dieser Oper, die eine Episode aus Dantes „Inferno“ vertont, nur jene Teilhölle gemeint ist, wo die Sünden der Liebe bestraft werden.

Hier sind Francesca und Paolo wegen Ehebruchs gelandet. Eine Ungerechtigkeit, denn Francesca wurde bei der Hochzeit betrogen. Sie glaubte, den Brautwerber Paolo zu heiraten und nicht dessen hässlichen, hinkenden Bruder. Kein Wunder, dass Francesca lieber den schönen Paolo weiterliebt - und er sie. Weswegen sie dann allerdings beide vom eifersüchtigen Ehemann Lanciotto dahingemeuchelt werden.

Die eher banale Handlung, in Rückblenden erzählt, ist eigentlich Nebensache. Prolog und Epilog sind in ihrer bildhaften, ungemein eindrucksvollen musikalischen Darstellung der Hölle die spektakuläreren Teile. Der Chor als wortlos heulender Pulk einsamer, verdammter Seelen und das Orchester, das Liebesflammen sehnen und um Vergebung bitten, Höllenflammen lodern und züngeln sowie Donnerstürme sich entfachen lässt, sind die eigentlichen Protagonisten an diesem Abend. Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling und die beiden wunderbaren Ensembles formten diese Hölle zu unmittelbar Gänsehaut erzeugender Musik der Leiden, Qualen, Schuldgefühle, Überwältigung, in deren krassesten Augenblicken Berlioz‘ Requiem als ein Waisenknabe erachtet werden darf.

Die drei Hauptrollen waren mit russischen Stimmen besetzt - schließlich wurde ja in der Originalsprache gesungen. Sergej Leiferkus‘ gran­dioses Baritonorgan verlieh dem Lanciotto eine Gewalt und Kraft, die jeden Ton zum gezielten Speerstich in die Ohren werden ließ; jeder Vokal brannte sich ein, ebenso wie sein finales Höllengelächter. Nicht minder kraftvoll Tenor Dmytro Popov als Paolo, der sich über seine sichere, strahlende Höhe so schmetternd zu freuen schien, dass sein Gesang zumindest im vorderen Teil des Parketts die Ohren ein wenig betäubte. Olga Mykytenko konnte gegen diese Lautstärke nicht immer ansingen, schwächelte gelegentlich in der Höhe; sie schien ein wenig angegriffen zu sein und hüstelte zwischen- durch.

Schuld und Errettung

Um den Aspekt der Schuld zu unterstreichen und das Werk ins 20. Jahrhundert zu holen, hatte Cambreling die zündende Idee, Rachmaninows Einakter mit der 3. Sinfonie „Jesus Messias, errette uns!“ für Orchester und Sprechgesang von Galina Ustwolskaja zu kreuzen und die einzelnen Formteile den Bildern der Oper zwischenzuschalten. Die Russin schrieb das Werk 1983 auf einen mittelalterlichen Gebetstext des Mönchs Hermann des Lahmen. Den Sprechgesangspart übernahm sinnigerweise Lanciotto-Sänger Leiferkus. Die plötzlichen Wechsel von der spätromantisch-schwelgenden Tonsprache eines Riesenorchesters in die kammermusikalisch besetzte, zwischen schräger Kontrapunktik, Trommeldonner und pianistischem Tontraubenhämmern changierende Musik Ustwolskajas schockierte die Ohren im besten Sinne.

Die Oper wurde übrigens konzertant aufgeführt. Aber an diesem musikalisch so großartigen Abend vermisste man eine Inszenierung nicht, boten Chor und Orchester doch schon Theater genug.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 22. Juli 2013. Premiere war am 19. Juli.

Freitag, 19. Juli 2013

Spaß am Abgrund

Im Stuttgarter Theaterhaus wird Henrik Ibsens Familiendrama „Gespenster“ als slapstickreiche Groteske gespielt

Beschädigte Charaktere: Szene aus Janet Stornowskis „Gespenster“-Inszenierung im Theaterhaus. (Foto: Regina Brocke, Stuttgarter Theaterhaus)

Stuttgart - Das ist ein wirklich düsterer Stoff: Henrik Ibsens 1881 verfasstes Familiendrama „Gespenster“, das an jenem Tage spielt, an dem in einem alten Haus in einer verregneten norwegischen Fjordlandschaft all der Dreck, all die Lügen, die über Jahrzehnte unter den Tisch gekehrt wurden, explosionsartig ans Licht katapultiert werden und die Familie Alving in den Abgrund stürzen. Es sind die Folgen des ausschweifenden Lebens des verstorbenen Familienoberhaupts Hauptmann Alving, die jetzt ihre ganze Zerstörungskraft offenbaren: „Die Sünden der Väter werden heimgesucht an ihren Kindern.“ Am Ende krepiert Sohn Oswald an Gehirnparalyse, seine Halbschwester Regine verlässt das Haus in Richtung eines Seemannsbordells, die Mutter bleibt erstarrt und „sprachlos vor Entsetzen“ zurück. Das Kinderheim, das am nächsten Tag als Stiftungseinrichtung des Alving‘schen Vermögens eröffnet werden sollte, ist da schon längst in Flammen aufgegangen.

Verharmloste Dialoge

Janet Stornowski, Regieabsolventin der Berliner Schauspielschule „Ernst Busch“, war dieses frühe psychologische Enthüllungsdrama wohl zu deprimierend und trostlos. Für ihre Diplominszenierung, die jetzt in einer Kooperation mit dem Stuttgarter Theaterhaus eben dort Premiere hatte, schrieb sie „Gespenster“ um und inszenierte es als komödiantische, slapstickreiche Groteske. Sie konnte dafür nicht nur das Theaterhaus-Ensemble gewinnen, sondern auch den süßen Robert Stadlober, der einst in „Sonnenallee“ und „Crazy“ zum Jungstar des deutschen Kinos avanciert ist.

Handwerklich ist an diesem Abend im Theaterhaus zunächst wenig auszusetzen. Stornowski ist in Sachen Personenführung und skurrile Ideen sehr begabt. Keine Frage. Würden da nicht gerade Ibsens „Gespenster“ gespielt, fände man vielleicht sogar Gefallen an ihrem überdrehten Kasperltheater. Aber was die inhaltliche Umsetzung des Stücks angeht, bleibt am Ende ein riesiges Fragezeichen. Das beginnt bei der Dialogführung. Ibsens geniale Charakterisierungskunst löst sich auf in Dialoge, in denen der eine erst einmal das wiederholt, was die andere gesagt hat. Etwa so: „Ich will die Wahrheit wissen.“ „Die Wahrheit? Was denn für eine Wahrheit?“ „Die Wahrheit eben.“ Das wird schnell so öde, dass man zeitweilig denkt, man säße in einem schlechten Kindertheaterstück. Das fünfköpfige Ensemble macht seine Sache wiederum gut, bleibt aber in der Karikatur regiegemäß stecken. Es findet keine Entwicklung statt.

Engstrand, der gekaufte Vater Regines, die eigentlich der alte Alving mit dem Hausmädchen gezeugt hat, wird von Yavuz Köroglu als humpelnder Lippenlecker und clownesker Augenbrauenhochzieher gespielt. Anne Osterloh gibt Mutter Alving als ständig theatralisch zum Publikum deklamierende Diva. Julia Kelz als Regine, Hausmädchen und Oswalds Geliebte in spe, tanzt und zappelt ständig herum und wippt und wedelt mit der exzentrischen Zöpfchen-Frisur, während Stephan Moos für die Rolle des Pastors Manders, des alten Freundes von Mutter Alving und Stiftungsverwalters, Didi Hallervordens wirr haspelnde und stotternde Masche kultiviert hat.

Und Robert Stadlober, der Sohnemann Oswald spielt? Seine Rolle ist differenzierter angelegt. Er ist auch kein syphilisgeschädigter Maler wie im Original, sondern ein depressiver, nicht mehr arbeitsfähiger Popmusiker. Zunächst geistert er als etwas kindischer Heimkehrer - blass, mit dunklen Augenrändern, wirren Haaren und verknautschtem weißen Leinenanzug - im atmosphärisch gelungenen Bühnenbild eines einst reichen, jetzt aber heruntergekommen Gutshauses herum und geht der Mutter auf die Nerven. Bis er sich in Regine verliebt, ihr intellektuell verbrämte Liebesanträge macht: Ob sie beide nicht eine solidarische Gruppe bilden, sich systemisch koppeln könnten? Als dann herauskommt, dass sie Geschwister sind, fällt Oskar allerdings nicht in die Depression zurück, sondern entpuppt sich als Anarchist, der das Alte zerstören will, damit Neues entstehen kann. Das Kinderheim und das Gutshaus sollen dran glauben. Ende der Veranstaltung.

Einsamer Utopist


Stadlober spielt das überzeugend. Auch sein „Bella ciao!“, das alte italienische Partisanenlied, das er ständig traurig auf der E-Gitarre vor sich hin klampft und dazu singt, macht was her. Aber Storowski verwandelt Oswald in einen Utopisten, einen Einsamen, der sehnsüchtig nach einer neuen Gemeinschaft sucht: ein Opfer der oberflächlichen, ausbeutenden Gesellschaft, einer, der an das Konstrukt Familie noch zu glauben scheint.

Aber in einem Stück, in dem es eigentlich um die Zerstörung des Einzelnen durch die Familie geht, erscheint diese Umkehrung hanebüchen. Und auch die Idee, den alten Alving zum offiziell hochangesehenen Firmenchef zu machen, der sich freilich neben seinen Drogenexzessen und seinem Rumgehure auch auf dieser Ebene einiges zuschulden kommen lassen hat, will nicht wirklich Sinn entfalten, weil das nicht genügend erklärt wird.

Im Rahmen der Modernisierung sind auch die Kostüme von Gudrun Schretzmeier eher kontraproduktiv, da sie das Stück eindeutig im 19. Jahrhundert verorten. So verspaßt und veralbert zu werden, haben Ibsens „Gespenster“ nicht verdient. An Lebenslügen gehen schließlich auch heute noch immer diverse Familien zugrunde. Und das wird sich so schnell nicht ändern.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 17. Juli 2013. Premiere war am 15. Juli.

Montag, 15. Juli 2013

Drama, Drama, Drama

Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart in der Leitung seines Chefdirigenten Stéphane Denève in der Stuttgarter Liederhalle

Stuttgart - Stéphane Denève küsste sie alle: die Konzertmeisterin, den Komponisten, aber am häufigsten Gaby Pas-Van Riet. Die Soloflötistin des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart (RSO) hatte aber auch auf allen Ebenen gezeigt, was man aus einer Querflöte so alles herausholen kann.

Jacques Iberts Flötenkonzert von 1934 stand auf dem Programm des RSO-Konzerts im Beethovensaal. Nicht nur durch Vogelstimmenimitationen, faunenhafte Gesänge in schwerblütiger Nachmittagsstimmung, geschmeidige Töne-Tiraden und scheinbar unbegrenzte Höhenflüge erfreute Pas-Van Riet die Ohren. Genauso mühelos bewältigte sie die immensen kommunikativen Anforderungen, die Ibert an die Soloflöte stellt und dadurch raffiniert ihre klanglichen Nachteile zum Vorteil ummünzt. Die vergleichsweise begrenzte Farbpalette der Flöte wird des Öfteren durch die Kopplung an andere Solostimmen wie die Klarinette ausgeglichen oder sie tritt in rege Kommunikation mit dem Orchester - etwa in Gestalt eines herzergreifenden Duetts mit der Sologeige oder einer angeregten Plauderminute mit dem Fagott.

Das Publikum war am Ende so hingerissen von den phänomenalen Fähigkeiten der fröhlichen Flötistin, dass Pas-Van Riet gleich zwei Soli zugeben musste: eine hochvirtuose Etüde von Joachim Andersen, in der sie sich auf ihrer Flöte gleich selbst begleitete, und „Syrinx“ von Claude Debussy, wo sie noch einmal ihr besonders warmes, ungewöhnlich farbenreiches Spiel im tiefen Register unter Beweis stellte.

Der RSO-Chefdirigent würde wohl auch das Publikum durchküssen, wenn die Zeit dafür da wäre. Er weiß gar nicht, wohin mit seinen ganzen Gefühlen. Stattdessen drückte er beim Applaus für die Uraufführung von James MacMillans „The Death of Oscar“ die Partitur ganz fest an sein Herz. Was etwas selbstverliebt wirkte, hatte er sie doch selbst in Auftrag gegeben. Die Kontakte zum schottischen Komponisten stammen noch aus seiner Zeit als Chefdirigent des Royal Scottish National Orchestra in Glasgow, wo Denève zu seinem Abschied in einer Bronze-Büste verewigt wurde, die vom Bildhauer Alexander Stoddart stammte. Der wiederum inspirierte mit seiner geplanten Skulptur „The death of Oscar“, die sich auf den schottischen Ossian-Mythos bezieht, MacMillan zu seinem 11-Minuten-Orchesterstück.

So monumental, wie die Skulptur wohl werden soll, klang gelegentlich auch die Musik, die mit vielen „schönen Stellen“ gefallen will, aber insgesamt über filmsequenzartig aneinandergereihte Stimmungsbilder nicht hinauskommt. Dvorák, Hollywood und ein bisschen Strawinsky ließen grüßen: mittels schicksalsschwangerer Hornsoli, honigsüßen Streicherschwelgens, eines sehr langatmigen Englischhornsolos über arg einfachen Klangflächen oder effektvoller Schwellklänge und rhythmischer Einlagen.

Und Brahms final gespielte Zweite Sinfonie? Das RSO trug ganz schön dick auf im ersten und zweiten Satz. Und Denève setzte auf Drama, Drama, Drama. Zu viel davon und zu wenig Transparenz vernebelten die Fasslichkeit von Brahms‘ komplexen Gedankengängen. Dass es anders geht, zeigten dann der quirlig gespielte dritte Satz und das dynamisch differenziert ausgearbeitete Finale.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 13. Juli 2013. Das Konzert fand statt am 11. Juli.

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