Mittwoch, 15. Januar 2014

Im Geisterhaus

Uraufführung von David Martons „Doppelgänger“ im Stuttgarter Kammertheater

Stuttgart - Der Dichter lässt seine Geliebte aus seinem Roman „Die Elixiere des Teufels“ vorlesen - jene Stelle, als Mönch Medardus in Gestalt seines Doppelgängers nach dem Bruder auch die Mutter seiner Angebeteten mordet. Und erbost über die fehlende Leidenschaft beim Vortrag und Kritteleien am Stil zückt der Dichter, E.T.A. Hoffmann, das Messer und schleicht sich von hinten an die Rezitierende heran. Er zieht das Mordwerkzeug dann aber plötzlich wieder zurück und verschwindet. Ebenso unvollendet bleibt die spätere Liebelei mit einer anderen. Der Dichter kriegt seine Hose nicht auf, verfällt in Körperstarre und regelmäßige Schnarchgeräusche, die das weitere Bühnengeschehen dann gefühlte zehn Minuten als merkwürdigen Grundrhythmus untermalen. Das sind zwei der skurrilen Szenen, aus denen sich David Martons Musiktheaterstück „Der Doppelgänger“ zusammensetzt, das jetzt im Kammertheater als Produktion des Stuttgarter Staatsschauspiels uraufgeführt wurde.

Seelische Abgründe

Dem unheimlichen Phänomen des Doppelgängers will Regisseur David Marton, bekannt für sein bizarr durch Stile und Sparten treibendes Musiktheater, in seinem neuesten Stück auf den Grund gehen - und damit einem zentralen literarischen Motiv der Romantik. Seelische Abgründe, Bewusstseinsspaltung, geistige Zerrüttung - nichts verbildlicht ja die Angst vor dem psychischen Zerfall und vor dem Wahnsinn so genau wie die Figur des Doppelgängers: des ultrabösen Schattengängers des Ichs.

Nicht nur Motive und Textfragmente von E.T.A. Hoffmann, dem romantischen Dichter, Komponisten, Maler und nicht zuletzt Mozart-Fan, verbrät Marton in seinem neuen Stück, sondern auch Musik, vor allem Lieder, von Hoffmanns Bruder im Geiste, Robert Schumann, der in einer Irrenanstalt verdämmerte. Und Marton wollte noch mehr: Er begab sich gemeinsam mit seiner interna­tional besetzten Crew aus sieben hervorragenden Schauspielern und Musikern auf die „Suche nach dem Verdrängten und Unheimlichen unserer Zeit und ihren Erscheinungen“.

Ein richtig stringenter Abend ist daraus jedoch nicht geworden. Keine Geschichte wird erzählt, sondern Bruchstücke, Assoziiertes, Improvisiertes, kurze Szenen reihen sich aneinander. Die Dramaturgie zerfasert, bleibt vage, letztlich unverständlich. Immer wieder bleibt die Zeit stehen, passiert nichts. Es ist ja auch unendlich schwierig, den Wahnsinn, der im romantischen Doppelgängertum steckt, mit Ernst auf die Bühne zu bringen. So driftet man immer wieder ab ins Komische.

Das Bühnenbild von Christian Friedländer klebt Disparates in absichtsvoll falschen Größenverhältnissen zusammen: vorne eine Sitzgruppe, mittig ein zu enger Bürgersalon mit Tisch und Stühlen, rechts ein Flügel und ein Hochbettgestell, links eine zu kleine Kirche aus Wellblech und ein Harmonium, hinten ein großes Fotostudio. Ranzige, zerfetzte Vorhänge an einer Wäscheleine verschleiern zuerst den Blick der Zuschauer, später werden die Lappen beiseite gezogen. Düsteres Licht schafft Gespensteratmosphäre und Alptraumstimmung, in die sich irgendwie alles integrieren lässt. Nichts ist so unlogisch wie der Traum.

„Das fromme, treue Vaterland“

Aber es gibt auch richtig gute Szenen: Hoffmann alias Holger Stockhaus singt sitzend im Sessel Schumanns „Sonntags am Rhein“, und immer wenn der Refrain „Das fromme, treue Vaterland“ kommt, haut ihm sein Doppelgänger alias Thorbjörn Björnsson bei „Vaterland“ voll auf den Hinterkopf, bis Hoffmann aufspringt und sich mit ihm prügelt. Obwohl Björnsson präzise agiert, bleibt der Doppelgänger im Verlauf des Abends aber nicht wirklich dauerhaft als zweites Ich des Dichters erkennbar. Nicht nur, weil er ganz anders aussieht; er präsentiert sich auf der Bühne so autark wie die anderen sechs Protagonisten: sitzt entweder sinnend im Sessel und stöhnt ob der Klänge, die sein Ohr umschmeicheln, „Schöööön!“ oder fummelt an einem weiblichen Model herum, das ihm im Fotostudio kaugummiknatschend posiert. Ein anderer, gespielt vom famosen Trompeter Paul Brody, hockt auf dem Dach oder unterm Flügel und baut mit penetranter Geduld Modell-Kriegslandschaften aus Erde, Ästeleien, Soldatenfigürchen und Mini-Panzern. Zwischendurch verjazzt er Schumann oder spielt Mahler. Herrlich!

Musikalisch hat der Abend ohnehin einiges zu bieten. Nicht nur wegen verblüffender Verfremdungseffekte, in die neben Schumann auch Bach, Busoni, Händel, Mozart, Mahler überführt werden, sondern auch wegen der exzellenten Geigerin Nurit Stark, die sogar Bartóks Violinsolosonate drauf hat - während der aber leider so gut wie nichts auf der Bühne passiert. Oder die charismatische Sängerin Léa Trommenschlager, die nicht nur im Wahnsinn geschriene Dialoge über ihre Ähnlichkeit mit der Mutter zu bieten hat, sondern auch recht extravagante Schumannliedinterpretationen - dann immer begleitet von Stefan Schreiber an den Tasten. Der musikalische Leiter des Abends klebt auch mal gerne hinter den Vorhängen und gibt den paralysierten Voyeur oder dient als Projektionsfläche einer gemalten, nackten Schönen, deren Gesicht mit dem seinen verschmilzt und zum Objekt einer leidenschaftlichen Kussorgie des Doppelgängers wird, bevor sich Schreiber aus der Umarmung befreien und „Wüstling“ schreien darf. Richtig unheimlich ist aber nur die phänomenale Marie Goyette: eine Art strenge Gouvernante mit tiefgelegter Stimme, die Geisterhausstimmung à la Hitchcock verströmt.

Dem zweistündigen Abend hätte mehr Tempo gut getan: eine halbe Stunde weniger. Wären die einzelnen Episoden schneller getaktet, gäbe es weniger Leerstellen. So wirkt manche Musiknummer als Zeitschinderin, und der Abend findet kein wirklich zwingendes Ende. Am Schluss plätschert gar noch Schuberts Forelle vorbei. Na dann: Gute Nacht.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 14.1.2014. Premiere war am 11.1.

Dienstag, 24. Dezember 2013

Eduarda wünscht allen ihren Lesern und Leserinnen fröhliche Weihnachten und ein gutes Neues Jahr!!!

Viel Spaß mit Laurel & Hardy und ihrer genialen "Cleaning-Dance"-Szene aus dem Film "Bonnie Scotland", in dem die beiden unfreiwillig im schottischen Infanterie-Regiment landen.

Sonntag, 8. Dezember 2013

Seehofers Journalistenschule

Bester Kommentar zum Interview-"Skandal" Slomka-Gabriel (heute-show vom 6. November):

Donnerstag, 28. November 2013

Heiliger Geist in Kontrasten

Sylvain Cambreling und das Stuttgarter Staatsorchester kreuzen Sakrales von Haydn, Messiaen und Mosebach

Stuttgart - Eignet sich Musik Joseph Haydns als Objekt moderner Raumklang-Experimente? Der Stuttgarter Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling bejahte dies, knöpfte sich 2005 Haydns „Sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuz“ vor und bearbeitete das Orchesterwerk für vier im Raum verteilte Streichseptette und ein Solocello. Haydns Meditationen erfahren dadurch eine enorme klangliche Weitung, wie man im Matineekonzert des Stuttgarter Staatsorchesters unter Leitung Cambrelings am Sonntag miterleben konnte. So positionierten sich zwei der Septette links und rechts auf der Bühne des Beethovensaals, die anderen zwei im Zuschauersaal, während das Solocello in der Mitte des Saales thronte.

Aber damit nicht genug. Vorne, in der Mitte der Bühne, saßen dicht gedrängt die Schlagwerker und Bläser. Denn Haydns sieben Adagio-, Largo- und Grave-Sätze erklangen nicht am Stück, sondern im Wechsel mit den fünf Sätzen der Bläser- und Schlagzeugsinfonie „Et exspecto resurrectionem mortuorum“ (Und ich erwarte die Auferstehung der Toten), die Olivier Messiaen 1964 den Opfern des Ersten und Zweiten Weltkriegs widmete. Hier sämiger, beweglicher Streicherklang, dort Monolithe aus Bläsern und Ewigkeitsglockendonner. Hier Cambreling frontal, dort mit dem Rücken zum Publikum. Hier meditatives Fließen, melodisches Seufzen und Klagen, dort grell-dissonante, blockhafte, statische Klanglichkeit. Mehr Kontrast geht nicht.

Allein um die gewohnte Konzertsituation einmal aufzubrechen, lohnen sich solche Experimente. Zumal Cambreling Haydns „Sieben letzten Worten“ feinste Verfremdungen angedeihen ließ, die so manche Ohren spitzer machen. Denn den Streichersatz würzen Spieltechniken wie Bogenklopfen, Nah-am-Steg-Spielen, Flageolett. Die Musik gerät ins Beben und Pulsieren. Obertöne pfeifen leise, Klänge bleiben länger liegen, immer wieder schält sich eindrücklich das Solo-Cello (Francis Gouton) aus dem Stimmgeflecht, oder es werden seltsam blubbernde elektronische Töne hörbar. Aber all das geschieht sanft, geheimnisvoll, mystisch - auch wenn es bei der Aufführung in der Koordination der vier Streichergruppen oft kleckerte. Einsätze kamen leicht zeitverschoben. Auf Tuchfühlung im Podium oder Graben funktioniert die musikalische Schwarmintelligenz eben besser.

Keine Probleme hatten Bläser und Schlagwerker in Mes­siaens Auferstehungshymnus, der durch die Ausdehnung in extrem hohe und tiefe Bläserregister per se von kathedralenhafter räumlicher Wirkung ist. Das ist für den religiösen Offenbarungston dieses strengen und schmucklosen Opus fast zwingend.

Intellektuelle Erdung erfuhr Cambrelings Experiment durch eine weitere Zutat: Zwischen den Sätze lasen die Staatsschauspieler Svenja Liesau und Peter Kurth sachlich und lebendig Martin Mosebachs „Das Tuch“, in dem der Schriftsteller forschend in die Tiefenstruktur des Turiner Grabtuchs eindringt - jener Reliquie, die als Abdruck des Leichnams Christi verehrt wird. Mosebach sucht in den Brandflecken und Körperflüssigkeiten dieses „sich selbst gemalt habenden Bildes“ Antworten auf die letzten Dinge. Und so mancher gläubige Zuhörer mag aus dieser weltlichen Messe im Beethovensaal neue Erkenntnisse mit nach Hause genommen haben.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 25.11.2013. Das Konzert fand statt am 24.11.

Dienstag, 26. November 2013

Armut gebiert Ungeheuer

Armin Petras’ Inszenierung von Friedrich Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ am Stuttgarter Staatsschauspiel

Astrid Meyerfeldt als hier gar nicht alte Dame (links) wird von den verarmten Kleinstädtern in Beschlag genommen. Der Bürgermeister (kopfüber: Wolfgang Michalek) redet auf die stinkreiche Retterin und Rächerin ein. (Foto: Bettina Stöß, Staatstheater Stuttgart)

Stuttgart - Nur instabile Positionen sind auf dieser Bühne möglich: Die breite, hohe aufsteigende Treppe, die dem Publikum in Armin Petras’ Bearbeitung und Inszenierung von Friedrich Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ vor die Nase gesetzt wird, ist ungemütlich. Nur im Pulk lässt sich darauf sicher stehen. Sonst zwingt die Treppe den Einzelnen oft zu Schieflagen und bizarren, auch akrobatischen Verdrehungen. Oben angekommen ist es auch nicht besser: zu niedrig, um aufrecht zu stehen. In der umjubelten Premiere im Stuttgarter Schauspielhaus, wo Dürrenmatts Nachkriegs-Rachedrama jetzt als Übernahme einer Koproduktion des Dresdner Staatsschauspiels und des Berliner Maxim Gorki Theaters aus der Spielzeit 2009/10 gegeben wird, wurde es aber auch dem Publikum zuweilen recht ungemütlich: Es wurde zur Rede gestellt, heftig abgeknutscht (von Rahel Ohm) oder musste mal kurz als betrogene Gattin herhalten.

Allgemeine Verunsicherung

Die allgemeine Verunsicherung, die die Bühne von Olaf Altmann den Darstellern körperlich aufzwingt, ist für die Bewohner jener Kleinstadt, die Dürrenmatt in seiner Tragikomödie gesammelt zu Mördern macht, eine ganz reale. Petras’ bemerkenswerte Bearbeitung, die durch recht massive Eingriffe den Text aktualisiert und der jüngeren Alltagssprache anpasst, verlegt die Handlung von der fiktiven Kleinstadt „irgendwo in Mitteleuropa“ ins Ostdeutschland kurz nach der Wende. In der abgewrackten Zonenstadt, deren Wagnerwerke und Zigarettenfabrik längst bankrott sind und an der die Schnellzüge einfach vorbeirasen, leben die Menschen von der Arbeitslosenhilfe. Und auch die, die noch einen Job haben, sind in Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren - wie der Polizist (Paul Grill), der bangen muss, dass seine Stasi-Akte auftaucht und ihm die Karriere versaut. So fixiert sich die Hoffnung der Mittellosen auf die reiche West-Milliardärin Clara, die in ihre Heimatstadt zurückzukommen gedenkt. Ihr Rettungsangebot an die Stadt ist allerdings höchst unmoralisch: 500 Millionen für die verschuldete Stadt und 500 Millionen gleichmäßig verteilt für alle Bürger, wenn sie Gerechtigkeit in ihrem Sinne dafür kriegt. Und das heißt: Die Stadt soll ihren ehemaligen Geliebten Alfred Ill töten, der sie einst als 17-Jährige schwängerte und sitzen ließ.

Starke Szenen gleich zu Beginn: Ein Bürger-Empfangskomitee in schmutzigbraunen Mänteln, mit altmodischen Nasenfahrrädern und Russenmützen (Kostüme: Katja Strohschneider) erwartet am Bahnhof freudig, dann vor Kälte bibbernd Claras Ankunft, bricht aber müde zusammen, verschläft den Moment. Petras’ alte Dame ist weder alt noch aus Prothesen zusammengesetzt, noch hat sie ihr Gefolge aus blinden Eunuchen, Ex-Ehemännern, Raubmördern und einem Panther bei sich - vom umfangreichen Personenverzeichnis ließ Petras ohnehin nur ein Viertel, neun Figuren, übrig.

Die Dame erscheint also allein: Astrid Meyerfeldt in weißem, elegantem Pelz und schwarzen Stöckelschuhen stakst die Bühne herunter und wirkt wie ein Wesen aus einer anderen Welt - Traumgestalt, Racheengel und Gespenst der Vergangenheit gleichermaßen. Zwischen innerer Zerstörung und äußerer Verstörung, zwischen naiv-zerstreutem Charme und geschäftiger Geschwätzigkeit reibt sich die unerbittliche Rachelust ein wenig wund und bringt eine Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit an den Tag, die für diese Rolle eher ungewöhnlich ist. Eine raffinierte Mischung jedenfalls, die dank Meyerfeldts tiefgründigem komischem Talent - der Kunst der vielen schnellen kleinen Brüche - immer wieder für überraschte Lacher sorgt.

Klar, dass Claras Geld-gegen-Leben-Angebot schnell seine Wirkung zeigt. Zunächst empört beginnen die Bürger alsbald, sich zu verändern, auf Pump zu kaufen. Ostlook ade, immer schicker oder hipper kleiden sie sich, kaufen Digicams, Kenwoods und Autos. Selbst Ills eigene Kleinfamilie macht mit. Und der Bürgermeister, zunächst noch mit integren humanen und demokratischen Ansichten („Wir sind ein Volk“), verfällt immer mehr in hohle, kapitalistisch befeuerte Politikerphrasen. Wolfgang Michalek, auch äußerlich ein unglaublich wandlungsfähiger Mann, leistet akrobatische Maßarbeit. Wie er nackt, nur bekleidet mit einer hässlichen braunen Unterhose, Ill auf die Schulter springt, ihn dann in die Liegeposition zwingt und dabei die Beine nach oben kantet, ihm seine Körpermitte vors Gesicht schiebt und auch noch mit dem Hinterteil ins Gesicht hüpft, ist schon ein Kunststück. Ebenso beeindruckend geraten seine Verrenkungen, wenn er kopfüber in Schieflage, getragen von einem Menschenknäuel, auf Clara einredet, während sie eislutschend oder lesend auf einer Stufe liegt. Was für genial-groteske Bilder!

Größte Wirkung, kleinste Mittel

Andreas Leupold spielt den Ill mit grandioser Gleichmut als Verurteilten, der sich schuldig bekennt, um an entscheidenden Stellen durch minimale Brüche sein Inneres, seine Todesangst, freizulegen: größte Wirkung mit kleinsten Mitteln. Die Stadt blüht auf, bis es zur endgültigen Entscheidung kommt. Im Stadttheater buhlt man in Galaatmosphäre um Verständnis für das „Projekt“ (den nunmehr entschiedenen Mord) und singt im Chor à la Volker Lösch: „Nichts ist ungeheurer als die Armut, nur öde Tage, Tag für Tag, trostlos umfängt sie den Menschen, wie ein Leichentuch, wie eine Krankheit zum Tode“. Die dünne Decke der Humanität reißt. Und Ills Tochter (Sandra Gerling) sieht man per Video mit einem Koffer am Bahnhof warten. Auch sie wurde von ihrem Freund schwanger sitzengelassen. Die Geschichte wird sich wiederholen. So oder so.

Ill stirbt nicht von Bürgerhand, sondern durch den „Leoparden“ - eine katzenhaft durch den Abend schleichende und tanzende Allegorie (Berit Jentzsch), die Petras hinzuerfunden hat. Ein zwar ziemlich plattes Sinnbild, das verschüttete Schuldgefühle, dann das Tier im Menschen zu meinen scheint, aber es ist die einzige Schwäche in einer ansonsten brillanten Inszenierung, die von einem spielwütigen, mitreißenden Ensemble getragen wird.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 25.11.2013. Premiere war am 22.11.

Montag, 25. November 2013

Kleine Schwester, großer Beifall

Mona Asuka Ott spielte im Stuttgarter Mozartsaal Bach, Beethoven, Schubert und Liszt

Stuttgart - Hochbegabte Geschwisterpaare haben in der Musikgeschichte Tradition - von Fanny und Felix Mendelssohn Bartholdy bis Jörg und Carolin Widmann. Auch die deutsch-japanischen Pianistinnen Alice Sara (25) und Mona Asuka Ott (22) aus München sind in dieser Hinsicht schwer aktiv. Am Mittwoch war Alice Sara zu Gast im Beethoven-Saal der Stuttgarter Liederhalle. Am Samstag zog ihre kleine Schwester nach: mit einem Solorecital im Mozartsaal. Aber ein direkter Vergleich ist nicht ganz fair. Alice Sara Ott hat sich längst auf dem Klassikmarkt etabliert. Mona Asuka dagegen befindet sich hörbar noch in der Ausbildung.

Das virtuose, farbige Stimmungsmalen, für das Alice Sara berühmt geworden ist, ist Mona Asukas Sache nicht. Monochrom klingt Beethovens experimentelle Sonate As-Dur op. 26 und viel zu brav: Kaum kontrastiert der Charaktervariationensatz, spröde gerät das Scherzo, emotional blass der Trauermarsch und belanglos das Finale. Mona Asuka Ott differenziert statisch über Lautstärkenverhältnisse, mal laut, mal leise, nicht über Farben, Phrasierungen, Abschattierungen oder schlichtweg Ausdruck. Und sie neigt zu einer skurrilen Tempodramaturgie. Wird sie ­gerade langsamer, weil es inhaltliche Gründe hat oder weil sie überlegen muss, wie es weitergeht? Sie spielt zwar auswendig, aber nicht unbedingt sicher. Vor allem im ersten der vier Schubert'schen Impromptus op. 90 kommt sie ins Schliddern, steigt fast aus, fängt sich wieder. Puh, noch mal gutgegangen.

Schön immerhin Chopins Des-Dur-Nocturne: entrückt und verträumt wie seine Tonart. Beide Konzertblöcke münden in virtuose Zurschaustellung: In Franz Liszts 'Tarantella' und seinem ersten ­Mephistowalzer produziert Ott etüdenhaften Tastendonner. Und jedes Mal ­geschieht, was solch eine Musik provoziert: Applaus, Applaus, Applaus - für einen schwachen Abend.

Besprechung für die Stuttgarter Nachrichten vom 25.11.2013. Das Konzert fand statt am 23.11.

Sonntag, 24. November 2013

Im Einerlei opulenter Klanglichkeit

Radio-Sinfonieorchester Stuttgart mit dem Dirigenten Eliahu Inbal und dem Geiger Vadim Repin

Stuttgart - Die siebte ist Anton Bruckners dynamischste Sinfonie: nicht blockhaft gebaut wie die anderen, sondern unendlich melodisch, sehnend und singend, vibrierend und drängend, mal von spektakulären Durchbrüchen genährt, mal im Angedenken an Richard Wagner rheingoldig auf der Stelle wabernd. Da muss ein Meister des Übergangs ran, ein Dirigent, der fein differenziert, dem Orchester genau zeigt, wie was gemeint ist: dynamische Anweisungen, rhythmische Feinheiten, Akzente, Phrasen, der große Bogen. Und die Musizierenden müssen auf der vorderen Stuhlkante sitzen vor Anspannung.

In seinem Abo-Konzert im voll besetzten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle hing das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart (RSO) aber sehr entspannt in seinen Stühlen. Und der israelische Gastdirigent Eliahu Inbal, stramm auf die 80 zugehend, wedelte fleißig mit den Armen, ohne dass man daraus immer einen Sinn hätte ablesen können. Da das RSO ein perfekt aufeinander eingespielter Klangkörper ist, lief Bruckners Siebte so gut durch wie der heiße Kaffee in einer frisch entkalkten Maschine. Aber sie langweilte schon bald. „Hört einmal her, wie laut und schnell dieses Orchester Bruckner wegdengeln kann“, schien Inbal dem Publikum sagen zu wollen - mehr aber auch nicht. Phrasen wurden oft nicht genügend ausgespielt, dynamisch wurde zu wenig abschattiert, vieles verlor sich im Einerlei einer opulenten Klanglichkeit: etwa das spektakuläre C-Dur-Plateau im zweiten Satz, das zu einer schreienden Insel im Einheits-Radau wurde. Unterhalb der Mezzoforte-Grenze ging an diesem Abend so gut wie gar nichts.

Auch Alban Bergs zuvor gespieltes Violinkonzert „Dem Angedenken eines Engels“ hatte unter der klanglichen Dominanz des Orchesters gelitten, obwohl Vadim Repin, ein Weltklasse-Geiger, die tonliche Intensität suchte. Orchester- und Solopart sind in diesem Konzert zwar eng verzahnt. Aber derart gefangen im Stimmengeflecht des Orchesters hört man einen so ausdruckswilligen Solisten selten. Auf die Impulse Repins gingen weder Dirigent noch Klangkörper ein, und sein ausdrucksvoll gespannter Gesang wurde vom Orchesterklang immer mehr eingesogen. Eliahu Inbal gelang es nicht, jene innere Spannung herzustellen, die dieses Stück zu einem Klassiker der Moderne machte. Dadurch verlor Bachs Choral „Es ist genug“, der im Finale dieses Zwölftonstücks nach einem auskomponierten Todeskampf immer wieder aufscheint, seine Einbindung ins Ganze. Ergibt er sich nicht zwingend aus dem Davor, wird er nicht deutlich erspielt, wirkt er disparat und damit kitschig.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 23.11.2013. Das Konzert fand statt am 21.11.

Samstag, 23. November 2013

Schwebende Poesie

Alice Sara Ott in der Meisterpianisten-Reihe im Stuttgarter Beethovensaal

Stuttgart - Alice Sara Ott scheint über die Bühne zu schweben. Und das Grazile, Elfenhafte ihrer Gestalt überträgt sich wie von selbst auf ihr Flügel-Spiel. In ihrem Konzert im Beet­hovensaal der Stuttgarter Liederhalle gelangen ihr Wolfgang Amadeus Mozarts Neun Variationen über ein Menuett von Duprot dementsprechend leicht, zart, gesanglich und blütenrein. Die deutsch-japanische Pianistin, die wie immer barfuß spielte, weiß die unterschiedlichen Gesichter der Variationen fein zu modellieren. Schöne Kontraste erklangen da: mal witzig-spritzig, mal melancholisch, mal tänzerisch.

Mozart’sche Lyrik und Leichtigkeit überträgt sie dann auch auf Franz Schuberts große, weitausholende Sonate D-Dur D 850. Die verfasste der Komponist zwar in wohl recht guter Stimmung während einer Reise nach Gastein. Aber das heißt noch lange nicht, dass sich die gute Laune durchgängig in das Werk hineingeschrieben hat. Bei Alice Sara Ott hat man aber den Eindruck, dass es so war: Dunkel Drängendes mutiert zu energischem Schub, Nachdenklich-Reflektierendes zu Poesie, Schmerz zu entrückter Verträumtheit. Und dem kreisenden Charakter des Kopfsatzes fehlt das Manische. Er erklingt viel zu verspielt und neckisch. Dabei gelingt es Ott aber wunderbar, den sprudelnden, fließenden Atem der Sonate in Gang zu halten. Doch setzt sie zu sehr auf Farben, Brillanz und Stimmungen, was wiederum dem Beginn des zweiten Satzes, den sie zärtlich, als eine Erinnerung an ferne, glückliche Tage modelliert, durchaus gut tut.

Transparenz und Präzision

Aber die Vermittlung des großen, emotionalen Bogens, den solch gewaltige, hochanspruchsvolle Zyklen fordern, geht ein bisschen unter in ihrem flirrenden, bunten, beweglichen Spiel. Das nimmt dem 40-minütigen Werk mehr und mehr die Spannung. Ott gestaltet die Faktur allerdings bemerkenswert durchsichtig und leuchtkräftig, und Läufe, Triller, rhythmische Finessen meistert sie mit imposanter Geschmeidigkeit und Leichtigkeit.

Noch sind es offenbar nicht die großen Sonaten, die der 25-Jährigen liegen. Ott wird ja auch vor allem als virtuose Stimmungsmalerin gefeiert. Von daher waren Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ die richtige Wahl. Und Ott ist eine in­spirierte Erzählerin, die Übergänge fein gestaltet und timt - ebenso wie plötzliche Stimmungswechsel. Der massigen Klangwelt der immer wiederkehrenden „Promenade“ fehlt zwar die innere Fülle. Aber der straffe Spannungsbogen zwischen all den unterschiedlichen Bildern hält das atemlos lauschende Auditorium im Beethovensaal durchweg in Bann. Gerade die grotesken und quirligen Tonfälle formt Ott unerhört plastisch: den quietschvergnügten Tanz der Küken, den Streit spielender Kinder, das nervös-geschäftige Treiben auf dem Marktplatz von Limoges - während der finstere Gnom etwas zu romantisch geriet und das alte Schloss viel zu real. Solcherlei Mäkeleien aber hatte das Publikum nicht im Sinn. Es bereitete der sympathischen, allürenfreien Tastenlöwin am Ende ein begeistertes Jubelkonzert.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 22.11.2013. Das Konzert fand statt am 20.11.

Freitag, 22. November 2013

Sach' bleibt Sach'

Thaddäus Trolls „Der Entaklemmer“ im Stuttgarter Theater der Altstadt

Geiz ist ungeil: Martin Theuer (l.), Elif Veyisoglu und Dietmar Kwoka in Philipp Beckers Inszenierung des Stücks „Der Entaklemmer“. (Foto: Sabine Haymann, Theater der Altstadt)

Stuttgart - Im Gegensatz zur Komödie im Marquardt, wo man meist Honoratiorenschwäbisch hört, wird im Theater der Altstadt im Stuttgarter Westen neuerdings waschechtes Schwäbisch geschwätzt. Premiere hatte jetzt „Der Entaklemmer“, ein Lustspiel des schwäbischen Mundartdichters Thaddäus Troll, der sich 1976 Molières „Geizigen“ vorknöpfte, ihn ins Stuttgart des Jahres 1875 verlegte und dem Zungenschlag seiner Landesgenossen anpasste. Es geht mit deftiger Sprachgewalt zur Sache: „Wer in Württemberg hongert, isch z’faul zom Fressa“, stänkert der Geizige. Und sein Hausknecht lästert über den Knauserigen: „Eher kriagsch aus em tote Esel en Furz raus als aus dem en Sechser.“ Auch mit den Schimpfwörtern Brosamapicker, Schofbollekrämer, Glufamichel, Hennadrecksziager wird so mancher Reigeschmeckte Übersetzungsprobleme haben. Dennoch kommt in dieser Inszenierung jeder auf seine Kosten. Denn Regisseur Philipp Becker geizte nicht mit guten Einfällen, die den hochunterhaltsamen Abend zu einem galanten Balanceakt zwischen Kunst und Klamauk machen – inklusive seiner Perkussion-Intermezzi, in denen das Ensemble auf Alltagsgegenständen strukturiert Radau macht.

Ein bemitleidenswerter Mensch ist der „Entaklemmer“, was auf schwäbisch einen sehr knickrigen Bauern meint, der seine armen Enten, wenn sie denn den Stall verlassen wollen, in den Bürzel zwickt, um zu fühlen, ob sie ein Ei tragen, und wenn ja, werden sie in den Stall gesperrt, damit sie’s nicht irgendwo ablegen, wo der Gierige es nicht sieht. Der Troll’sche Entaklemmer ist ein schwäbischer Unternehmer der Gründerzeit, steinreich und doch lumpig, weil er jeden Taler tausendmal umdreht, eh er ihn ausgibt. Sein Vermögen hat er im Garten vergraben. Seinen Sohn habe er als Bub immer zum Mezger geschickt, um „fir en Kreizer Wurschtzipfel fir de Hond“ zu kaufen, schimpft die Dienstmagd, „ond oimal hätt er gsagt: Aber net so fett, dr Vater hot’s letzschte Mol kotze miasse“. Und was macht der „knickig Knaup“, wenn er mit einer Kerze vor dem Spiegel steht? „No feiert er de zwoite Advent.“ Aber Einsicht zeigt der Bemitleidenswerte nicht. Er bleibt auf Kurs. Bis zum bitteren Ende.

Gespielt wird der „Entaklemmer“ im Theater der Altstadt im Stil der Commedia dell’arte: Die Figuren sind typisiert, bewegen sich oft puppenartig. Die maskenhafte Bemalung der Gesichter und die Kostüme von Katharina Müller sind schrill und grotesk: Knaups Verwalter Eugen etwa trägt einen knallroten Phallus am Wams und Sohn Heiner gefällt durch seine witzige Haartolle, kurze Karohosen und Gamaschen an den Schuhen. Die quadratische Spielfläche ist angeschrägt, dem Holzgerüst drumherum fehlen die Wände, so dass man die Schauspieler nach ihrem Abtritt im Off und an den Schminkspiegeln beobachten kann. Die Bühne ist der Ring, in dem der Kampf zwischen dem Vater und seinem adolszenten, lebenslustigen und konsumfreudigen Nachwuchs ausgetragen wird, ebenso wie sich der misstrauische Pfennigfuchser ständig mit seinem Personal anlegt. Martin Theuer – mit riesigen, dachartigen Augenbrauen, in fleckigem Hemd und mit dickem Bauch – ist in der Rolle des Geizigen phänomenal – und ganz groß sein Solo: Wenn er, nachdem ihm die Geldschatulle stibitzt wurde, im Wahn am liebsten alle Zuschauer verhaften würde und auch sich selbst. Da steht er auf der Bühne und glotzt so scharf ins Publikum, dass einem richtig unheimlich wird. Und einfach herrlich, wie er sich mit seinem Sohn Heiner (wunderbar: Stefan Müller-Doriat) eine Prügelei liefert – in Slow-Motion und durch Geräuschsynchronisation getaktet.

Ob Elif Veyisoglu als Dienstmädchen Rickele, die im Ballonrock für den Zusammenhalt dieser kleinen Welt sorgt, Dietmar Kwoka als schlagfertiger Hausknecht Gottlieb oder Jörg Meyer als Knaups Verwalter, ob Kira Thomas als hippe Tochter Elise, Lucia Schlör als blonde Puppe Marianne oder Ambrogio Vinella als schwäbischer Amerikaner Hugo Hurlebaus – das Ensemble erfreute durchweg durch quicklebendiges, einsatzfreudiges Spiel.

Am Ende ist die Geldschatulle wieder da, die Erpressung des Entaklemmers gelungen. Alle sind glücklich: Sohn und Tochter dürfen endlich die Richtigen heiraten, Knaup hat seine Mäuse zurück. Ihm ist es jetzt völlig egal, dass Marianne, die er umgarnte, seinen Sohn nimmt: Denn jedes Mädle werde dereinst „wiascht“, „aber Sach bleibt Sach“. Interessant, dass das Publikum in der besuchten dritten Aufführung diesen Satz beklatschte – wobei nicht ganz klar war, ob aus Zustimmung oder gedacht als verfrühter Schlussapplaus. Denn das bittere Ende kam erst noch: Der Geizige, zärtlich seinen „Schatz“ umklammernd, stirbt – einsam und ganz ohne Triumph.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 21.11.2013. Besucht wurde die Aufführung am 17.11.

Mittwoch, 13. November 2013

Schuld und die Vergebung

Uraufführung von Georg Wötzers „Esslinger Judenmusik“ im Theodor-Rothschild-Haus in Esslingen

Esslingen - Esslingen am 10. November 1938: Ein bewaffneter Haufen, wild schreiend, SA und Zivilisten, marschiert die Burgsteige hinauf zum jüdischen Waisenhaus, zerschlägt dort alles in blinder Wut, zündet die kleine Haussynagoge an, bedroht und verprügelt Kinder und Lehrer, wirft Menschen auf Laster und deportiert sie in das KZ Dachau. Die Nachbarn schweigen. „Eine Schande für das deutsche Volk“, schreit nur einer und wird dafür bestraft.

Dieser Bericht steht im Mittelpunkt der „Esslinger Judenmusik“, die der Komponist Georg Wötzer jetzt am Jahrestag und am Ort des Geschehens – dem heutigen Theodor-Rothschild-Haus – zur Uraufführung brachte. Der Saal war voll, platzte aus allen Nähten. Es war ein doppelter Gedenktag: Vor 100 Jahre wurde das Jüdische Waisenhaus eröffnet, vor 75 Jahren wurde das Gebäude und seine Bewohner durch die Nazis geschändet.

Wötzer kleidet die schrecklichen Ereignisse in ein komplexes zeitgenössisches Klanggewand: Klarinette und Akkordeon – eigentlich Herz jeder Klezmer-, jeder jüdischen Volksmusik – artikulieren sich mal krass und schrill, mal nervös und geräuschhaft. Lediglich Schatten von Vertrautem werden spürbar, elektronische Verfremdungen verunsichern. Von außen wird die Tür bearbeitet. Klopfen, Hämmern dringt in den Saal, Unheil bahnt sich an. Der Sänger, das mehrgesichtige lyrische Ich des Abends, spricht, singt, schreit, flüstert auf Deutsch und Hebräisch.

Wötzer ist ein schlauer Fuchs. Er weiß seine Zuhörerschaft bei der Stange zu halten. Auch jene, deren Ohren nach klanglicher Harmonie dürsten. Die „Esslinger Judenmusik“ – „ein Zyklus aus acht Musikstücken über Schuld, Vergebung und uns“ – wechselt zwischen neuem und altem Stil: zwischen karger, schmerzhaft dissonanter und zerbrechlicher Musik und wunderbar arrangierten Streichquartettklängen in Dur und Moll, die die warme Baritonstimme begleiten. Wötzer kann eben beides: knallharte Avantgarde und süffig-sinnliche Romantik.

Trotz kleiner Besetzung ist der musikalische Kosmos der „Judenmusik“ prall, die Mittel vielseitig, mit denen Wötzer Vergangenheit und Gegenwart zusammenbringt. Die drei romantischen Lieder auf jüdische Gebete etwa verwenden Melodien aus dem Kompendium für Synagogengesänge von Mayer Levi, der 1844 bis 1874 in Esslingen als Kantor wirkte. Sie stehen in ihrer „himmlischen“ Schönheit für das Vertrauen in Gott, während die Neue Musik als einzig mögliche Ausdrucksform des Unsagbaren die furchtbare Realität darstellt: auch in Gestalt einer Vertonung von Jitzchak Katzenelsons Klagegesang über die Ermordung des jüdischen Volkes, in der das Rattern der Züge nach Auschwitz hörbar wird. Oder im „Esslinger Viduj“, des jüdischen Sündenbekenntnisses, das Wötzer umformte zum Dialog zwischen einem Deutschen und einem Israeli: „Wir können euch nicht vergeben, es vergebe euch der Allerhöchste.“ Zur Vergebung einer Sünde von solcher Dimension reicht die Kraft des Menschen nicht aus.

Die Aufführung war zwar nicht auf allen Ebenen perfekt – so machte etwa die reflexionsarme Akustik des Saals karge Klänge noch trockener und ließ sie zuweilen auseinanderfallen –, insgesamt aber ging der Abend sehr nahe. In der Leitung von Mark Johnston gelang dem Krakauer Archos-Streichquartett der Wechsel zwischen neuen und romantischen Tonfällen meist gut. Klarinettist Martin Möhler und Fanny Vicens am Akkordeon profilierten sich als gediegenes Avantgarde-Duo. Vor allem aber Bariton Reto Rosin sorgte dafür, dass das 90-minütige Werk durchweg fesselte. Ob Sprechgesang, Bodypercussion, Pantomime oder wohltönende Baritoninbrunst – mit kräfteraubendem Stimm- und Körpereinsatz warf er sich in die verschiedenen Darstellungs- und Artikulationsarten, die ihm die Partitur abverlangte. Am Ende verließ er die Bühne als gebrochener Mann. Nicht in der Rolle des jüdischen, sondern des nichtjüdischen Menschen, der schwer trägt an der Schuld, die nicht nur Esslingen einst auf sich geladen hat.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 12. November 2013. Das Konzert fand statt am 10. November.

Dienstag, 5. November 2013

Trost statt Endzeit-Getöse

Frieder Bernius dirigiert Louis Spohrs Oratorium „Die letzten Dinge“ in der Stuttgarter Liederhalle

Stuttgart - Louis Spohr galt im 19. Jahrhundert als einer der bedeutendsten deutschen Komponisten. Dass seine einst beliebten Werke heute so gut wie keine Rolle mehr in den Konzertsälen spielen, ist unverständlich: Der experimentierfreudige Romantiker hinterließ ein riesiges, vielseitiges Oeuvre, in dem manche Innovation zu finden ist. Frieder Bernius, bekannt dafür, sich kompositorischer Größen fernab vom Klassik-Mainstream anzunehmen, widmete sich jetzt an Allerheiligen im Hegelsaal der Stuttgarter Liederhalle gemeinsam mit dem Kammerchor Stuttgart und der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen Spohrs Oratorium „Die letzten Dinge“ von 1825/26.

Es war wieder einmal eines jener elektrisierenden Konzerte unter Bernius’ Leitung, in denen ein solcher Hörsog entstand, dass sogar die sonst übliche Hustkulisse fehlte. Alles stimmte und fügte sich wunderbar zusammen: Der weich und lebendig phrasierende, exzellent und farbig intonierende Chor, das extrem transparent und emotional befeuert spielende Orchester, das sehr gut miteinander harmonierende, ergriffen und ergreifend gestaltende Gesangsquartett mit Sopran Johanna Winkel, Alt Sophie Harmsen, Tenor Andreas Weller und Bass Konstantin Wolff.

Spohrs Apokalypse-Vertonung – die auf überbordendes Dies-Irae-Endzeit-Getöse fast vollständig verzichtet und durch vorwiegend gefühlsbetonte, süffige Melodik sowie innige und lyrische Tonfälle für eine positive, tröstliche und erwartungsfrohe Grundhaltung steht – zeigt ihren innovativen Geist im Verzicht auf die traditionelle Nummernreihung. In den Händen Bernius’, des perfekten Tempodramaturgen, waren das durchkomponierte Werk und seine fließenden Übergänge bestens aufgehoben.

In den großen, straffen Spannungsbogen fügte sich auch Heinrich von Herzogenbergs als utopisches A-cappella-Intermezzo zwischengeschaltete Motette „Und ich hörete eine Stimme vom Himmel“ so nahtlos ein, als hätte sie nie eine andere Bestimmung gehabt.

Besprechung für die Stuttgarter Nachrichten vom 4. November 2013. Das Konzert fand statt am 1. November 2013.

Sonntag, 3. November 2013

Das große Warten

Dürrenmatts „Das Versprechen“ in Armin Petras’ Theaterfassung am Stuttgarter Staatsschauspiel

Fritzi Haberlandt und Anja Schneider in „Das Versprechen“. (Foto: Staatstheater Stuttgart, Bettina Stöß)

Stuttgart - Schnee fällt. Immer wieder. Auf der fast leeren Bühne des Stuttgarter Schauspielhauses sind diese Schneefalleffekte eine der ganz wenigen visuellen Verzierungen, die Armin Petras der Inszenierung seiner eigenen Theaterfassung von Friedrich Dürrenmatts Erzählung „Das Versprechen“, entstanden 1958 aus der Drehbuchvorlage zum Film „Es geschah am hellichten Tag“, angedeihen ließ. Schnee fällt und fällt und fällt - und lässt in seiner melancholischen Monotonie jene Beinahe-Ewigkeit aufscheinen, die Ex-Polizist Gerd Schwarz auf den Killer wartet.

Der hat bereits drei kleine Mädchen mit dem Rasiermesser ermordet. Schwarz, vom selbstverordneten Zwang eines Versprechens an eine Opfer-Mutter getrieben, den wahren Mörder zu finden, hat sein ganzes Leben auf eine Karte gesetzt. Hat eine heruntergekommene Tankstelle gekauft, um dort im Fluss tankender Autos nach dem Mörder zu „fischen“: Ein kleines Mädchen soll, ohne es zu wissen, als Köder den Serientäter anlocken. Doch Schwarz wartet vergeblich. Zwar nimmt der Kindermeuchler Kontakt zum Mädchen auf, aber zur finalen Falle, die ihm die Polizei stellt, erscheint er nicht. Das sinnlose Warten geht weiter, bis zur völligen Selbstaufgabe.

Nach dem Auftaktwochenende des Staatsschauspiels mit Neuinszenierungen eröffnete „Das Versprechen“ jetzt den Reigen Stuttgarter Premie­ren von Übernahmen und Kooperationen. Petras’ „Das Versprechen“ ist schon einige Jahre alt. Die Uraufführung in derselben Besetzung fand 2005 am Thalia-Theater in Hamburg statt. Ist das der Grund dafür, dass dem Abend die innere Spannung fehlt? Das Ensemble spielt allerdings gut und noch immer frisch. Es ist wohl eher Petras’ Bearbeitung, die der Vorlage das Tempo und jegliche Dramatik nimmt - und nehmen soll. Er behandelte sie recht frei. Originaltext gibt es wenig, die grobe Handlung ist allerdings nur in Details oder durch Weglassungen geändert. Petras wählte eine neue Erzählperspektive. Als Erzählerin zwischen den Dialogen fungiert jetzt die inzwischen erwachsene Chrissi, die den Lockvogel für den Kindermörder gab. Und das ist eines der Hauptprobleme: die Nacherzählung, der Tod des Theatralen. Und das verbunden mit viel Stehtheater, dessen stärkster Vertreter an diesem Abend Peter Kurth sein muss. Humorlos, steif, ungesellig, einsam zeichnete Dürrenmatt seinen Schwarz. Bei Petras verzieht er keine Miene, bewegt sich kaum. Schwarz bleibt undurchdringlich, nichts gibt Einblick in seine Seele und sein Verhalten. Ohnehin ist sein völliger Verfall vorweggenommen, bevor die eigentliche Handlung beginnt: Er liegt zu Beginn wie ein Toter auf der Bühne.

Schwarzens Lethargie wird kontrastiert durch oft comedyhafte Übertreibung der anderen Protagonisten: Sehr witzig spielt Thomas Schmauser den aufgedrehten, geschwätzigen Polizistenkollegen, eine wirr-bigotte Oma oder den ängstlich-unsicheren tatverdächtigen Obdachlosen. Und Fritzi Haberlandt brilliert als Chrissi, die sich flugs von der Erwachsenen ins Mädchen zurückverwandelt. Da braucht ihr nur die Mutter (Anja Schneider) die Perücke abzureißen und die Zöpfchen freizulegen, und schon gickert und gackert einem die kleine Chrissi entgegen in all ihrer kindlich-nervösen Geschäftigkeit und bewegungstechnischen Skurrilität, die eben anfällt, wenn ein Erwachsener ein Kind spielen muss. Wenn die schlaksige Haberlandt-Chrissi, getrieben von Harndrang und in Beschlag genommen von einem roten Luftballon, der sie gen Himmel zieht, verkrampft von der Bühne tänzelt, ist das unglaublich komisch.

Zwischen den schrägen und meditativen Schneefall-Szenen brechen sich immer wieder, garniert von entsprechend harten Rhythmen aus den Boxen, cholerische Anfälle und Gewalt Bahn. Es sind im Innern aggressive und psychisch degenerierte, emotional verklemmte Menschen, die sich da auf der Bühne treffen. Der Kopfschuss des Obdachlosen lässt Theaterblut spritzen, oder Peter Moltzen als Kommissar Henning ballert mit seiner Pistole umher - nicht immer ist es nachvollziehbar, warum. Auch nicht, warum er einmal mit Blechauto unterm Arm und mit blutüberströmtem Kopf auf die Bühne kommt. Im Original wurde der Täter bei einem Autounfall getötet - eine Erklärung, warum er am Ende nicht in Falle tappte.

Die karge Bühne von Susanne Schu­both bietet nur wenige symbolhafte Requisiten: ein kleines Bambi, einen Kühlschrank, der mal als Schneemobil, mal als Verhörtisch dient. In Halbhöhe der nach hinten steil ansteigenden Rampe werden immer wieder skurrile Tänzchen aufgeführt. Beim Fallestellen der Polizei wird dort die kleine Chrissi als Opferlamm präsentiert, auf Feuerboden und zwischen Stelen, bevor sie von einem Feuerwehrmann gerettet wird.

„Die Vergangenheit ist ein schlafender Vogel, wenn er erwacht, kommt alles wieder“, sagt Chrissi zu Beginn. Petras hebt die Erzählung, die „Requiem auf den Kriminalroman“ sein will, weil hier der Zufall dem Spürsinn und der Logik den Garaus macht, ins Allgemeine, schafft Distanz und verhindert jede Identifikation. Man bleibt deshalb unberührt, verfolgt diese Erweckung eines großen, verschütteten Alptraums über einunddreiviertel Stunden aber mit Interesse. Am Ende freundlicher Applaus fürs Ensemble und Regisseur.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 2. November 2013. Premiere war am 31. Oktober.

Mittwoch, 30. Oktober 2013

Im Schatten der Herzen

Tschechows „Onkel Wanja“ hatte im Stuttgarter Schauspielhaus in einer Inszenierung von Robert Borgmann Premiere

Peter Kurth in „Onkel Wanja. Szenen aus dem Landleben“. (Foto: Staatstheater Stuttgart, Julian Röder)

Stuttgart - Darf man einem Geigenkonzert vorwerfen, dass darin eine Geige mitspielt? Darf man an einem Tschechow-Stück die Langsamkeit kritisieren? Und darf man einem Regisseur ankreiden, dass er diese Langsamkeit noch einmal verdoppelt und den Abend auf quälerische dreieinhalb Stunden dehnt? Etwas viel für „Onkel Wanja. Szenen aus dem Landleben“, deren Handlung schnell erzählt ist: Wanja arbeitet auf dem Gut des schmarotzenden Mittelmaß-Professors Serebrjakow. Als dieser das Gut verkaufen will, greift Wanja zum Gewehr.

Vermutlich war es die gedehnte Länge, die dem Publikum am Ende der Premiere dieser Tragikomödie im Stuttgarter Schauspielhaus unverhältnismäßig lautstarke Buh-Rufe aus den Kehlen lockte, die jeden Jubelruf übertönten. Vielleicht war der Grund aber auch die Weigerung des jungen Regisseurs Robert Borgmann, dem Stück jene psychologisierende Fokussierung angedeihen zu lassen, die Tschechow-Inszenierungen heute prägen.

Klangvolle Kulisse

Wie dem auch sei, jedenfalls bietet der Abend keineswegs schlechtes Theater. Die Bilder und Stimmungen, in die Borgmann den Text überführt, wirken nach und bleiben in Erinnerung. Für die Trägheit und den völligen Stillstand, der sich auf dem Landgut ausgebreitet hat, seit Professor Serebrjakow sich hier niedergelassen hat, fand Borgmann einen denkbar einfachen Raum: Auf der kahlen Bühne, die mal von Neonleuchten, mal von grellem Gegenlicht erhellt wird, zieht ein alter Volvo ohne Reifen im Schneckentempo seine Kreise. Mal schläft oder döst dort einer, mal sitzen viele drin, starr und steif. Von Russland sprechen nur das Matroschka-Püppchen und ein Teeservice. Statt einer Kulisse füllen monotone Klanglandschaften aus wenigen E-Gitarren- und Synthesizer-Akkorden die gähnende Leere, in der ein paar angewitterte Klappgartenstühle von früheren Festen zeugen. In einer solchen Atmosphäre bewegen sich die Menschen nicht schneller als der Volvo: Meist schleichen sie, sitzen, stehen, liegen - hoffnungslos, zukunftslos, leblos. Nur wenn der Professor erscheint und anhebt, lateinische Worte ins Mikrophon zu raunen, ist Tempo angesagt. Dann sucht die Bagage fluchtartig das Weite. Der Professor ist nicht gerade beliebt.

In dieser Kälte und Freudlosigkeit, in der jeder leidet und klagt, besitzt nur Wanjas Nichte Sonja (anrührend jugendlich gespielt von Katharina Knap) jene Energie, die gespeist wird von echten Gefühlen für einen anderen Menschen. Sonjas unerwiderte Liebe zum Arzt Astrow, Wanjas Freund, ist das kleine Feuer, das da brennt an diesem Abend und am Ende auch eine szenische Überhöhung erfährt: Eine riesige, jahrmarktmäßig rotierende Leuchtstoff-Sonne fährt auf die leere Bühne herunter, auf der nur Sonja und Wanja zurückgeblieben sind und einer tristen Zukunft harren. Schnell verglimmt die Sonne der Hoffnung, und eine letzte kleine Funzel dreht ihre Kreise, während nur noch das Knipsen der Zange zu hören ist, mit der Sonja ihrem Onkel die Fußnägel kürzt. Ein kaltes Geräusch, aber eine warme Geste der Zuwendung, die ansonsten im Miteinander der illustren Gesellschaft kläglich fehlte. Deren Darsteller überzeugen ausnahmslos: ob Susanne Böwe als Wanjas gestrenge Mutter, Sandra Gerling als cool-arrogante Professorengattin Elena oder Michael Stiller als stotternder, rührender Sonderling Telegin. Ob Peter Kurth, der den Wanja nicht als Schöngeist spielt, sondern als grobes, ungepflegtes Arbeitstier, Thomas Lawinkys Astrow, der sich ständig selbstzerstörerisch gegen Wände brettert, oder Elmar Roloff als distanziert-selbstgerechter Professor.

In all der Beziehungslosigkeit blieben Gefühle im Innern gefangen. Doch Borgmann macht sie sichtbar durch einen witzigen Kunstgriff: durch irreal wirkende Pantomimen in Zeitlupe, die immer dann zwischengeschaltet werden, wenn es um das Unsagbare geht. So entladen sich die Aggressionen während des Besäufnisses Wanjas und Astrows in einer ausgedehnten Auto-Action-Szene, in der die Windschutzscheibe splittert und die Körper über die Motorhaube fliegen. Oder Wanja wird am Regenschirm vom Sturm in den Himmel gezogen und später von der Mutter an einem Faden wie ein Luftballon auf die Erde zurückgeholt. Highlight dieser Slow-(E)motions: Nachdem Wanjas beide Schüsse auf den Professor danebengegangen sind, weitet sich das Ziel seines Amoklaufs auf die gesamte Verwandtschaft aus. In Wanjas Fantasie sind jetzt alle tot.

Keine Dämmerung, kein Tag

Die Langsamkeit des Abends mag immer wieder ermüden, aber zum eindrücklichsten Moment dieser Inszenierung gerät doch gerade jener, in dem auf der Bühne gar nichts mehr passiert. In fast rabenschwarzer Finsternis, nur schütter beleuchtet, sitzen im hintersten Winkel bewegungslos die Amme und ein Mädchen. Und dieses Kind, gemeint ist wohl Sonjas junges Alter Ego, singt nun live und sanft begleitet von Gitarre und Synthi „Cosmic Love“ der britischen Band Florence and the Machine. Und die kleine Gina Bartel singt dieses Lied so wunderschön und unschuldig, dass man meint, hier ein stille Botschaft des Regisseurs zu vernehmen, die Sonja zur inoffiziellen Hauptperson macht: „Die Sterne, der Mond, sie wurden alle ausgeblasen. Du hast mich in der Dunkelheit zurückgelassen. Keine Dämmerung, kein Tag, ich bin immer in diesem Zwielicht. Im Schatten deines Herzens.“

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 29. Oktober 2013. Premiere war am 27. Oktober.

Montag, 28. Oktober 2013

Wahrheit pulverisiert Ehe

Szenen einer Ehe – Jan Bosse demaskiert am Stuttgarter Staatsschauspiel Ingmar Bergmans Kammerspiel mit viel Humor

Astrid Meyerfeldt im Storchennest samt "Shining"-Zwillingen. (Foto: Staatstheater Stuttgart, © Bettina Stöß)

Stuttgart, 26. Oktober 2013. Der Weg ist lang und schmerzhaft: Marianne, die passive Ehemannsbewunderin und Kinderversorgerin mutiert in Ingmar Bergmans "Szenen einer Ehe" von 1973 mehr und mehr zur selbstbewussten, selbstbestimmten Frau, die die Scheidung fordert. Sie kann die Dauer-Affäre ihres lebenskrisengeschüttelten Ehegatten mit einer 22-Jährigen nicht mehr ertragen. Liv Ullmann brauchte für diese Wandlung knapp 300 Minuten, in der Kinokurzfassung der sechsteiligen Fernsehserie immer noch 169. Astrid Meyerfeldt gelingt dies in Jan Bosses Inszenierung am gerade wiedereröffneten Stuttgarter Schauspielhaus in gerade mal 105 Minuten.

Es geht hier mit allen Mitteln der Schauspielkunst zur Sache, vor allem aber mit viel Humor. Gerade der fehlt Bergmans Beziehungsdrama und macht es deshalb für so manch einen unerträglich. Bierernst quasseln und quälen sich Liv Ullmann alias Marianne und Erland Josephson alias Johan durch die Tiefen einer zunächst noch harmonisch scheinenden Ehe, die durch Midlife-Krisen, Kommunikationsunfähigkeit, Seitensprünge und Gewalt zerrüttet wird. Liebe, die man den beiden unterstellen darf, ist hier kein Garant für eine funktionierende Beziehung.

Komische Demaskierung

Die Alltagshölle lässt zusammen nicht kommen, sondern schläfert ein, macht sprachlos, zerstört. Die Ehe, sagt der Film, ist ein Hort der Maskerade und der Lüge. Anders wäre sie nicht erträglich. "Die Wahrheit hätte unsere Ehe pulverisiert", mutmaßt Johan retrospektiv. Bergmans Film ist ein langatmiges Kammerspiel, das in seinem bieder-kindlichen Schmollmund-Frauenbild der 1970er Jahre heute überholt erscheint. Doch Bosse arbeitet deutlich heraus, wie viel Zeitloses in dem Stoff steckt.

Die Nebenfiguren sind eliminiert. Astrid Meyerfeldt und Joachim Król spielen das Ehepaar um gut zehn Jahre älter. Sie, die Rechtsanwältin, ist 44, er, der Wissenschaftler, 52. Es ist der komödiantische Balanceakt zwischen Übertreibung und Zurückhaltung, den diese beiden Theatertiere so grandios beherrschen. Komik, die nicht Klamauk evoziert, sondern den Charakteren Tiefenschärfe verleiht. Bei Bergman ist Schluss mit lustig, wenn die Maskerade fällt. Bei Bosse sind gerade die komischen Brüche Mittel der Demaskierung.

Eindrückliche Telefonfratzen


Etwa wenn Marianne im Telefongespräch mit der Mutter erstmals das zum Zwang gewordene sonntägliche Mittagessen bei den Eltern absagen will und dann fürchterliche Grimassen schneidet, als die Mutter ihr tausend Argumente gegen diese Gewohnheitsänderung ins Ohr zwingt. (Lakonischer Kommentar Johans: "Die Revolution ist im Keim erstickt.") Marianne wechselt mit der Fratze, unsichtbar für die Mutter, die Rolle der liebenswürdigen Tochter und offenbart ihr aggressives Ich. Zugleich zeigt sich in dieser Szene auch der erste vage Widerstand gegen den Ehemann: Noch hat Johan die Zügel, sprich: das Telefon, in der Hand, von dem sich Marianne aber dank eines grotesk sich immer länger ziehenden Hörerkabels entfernen und in die Verwinkelungen des Eigenheimes verschwinden kann. Es sind solche Bilder, mit denen sich Bosses Inszenierung ins Gedächtnis brennt.

Meyerfeldt dient Mariannes Selbsterkenntnis, ein Leben lang Rollen gespielt zu haben, als gestalterisches Programm der inneren Wandlung: von der sich selbst verleugnenden, grenzüberschreitend fürsorglichen und sich sexuell verweigernden Ehegattin bis hin zur männerfressenden Greta-Garbo-Kopie im Abendkleid, als die sie den abtrünnigen Ehegatten zu verführen gedenkt. Immer wieder bricht selbstentlarvend die Pose durch, das Artifizielle. Selbst als sie in völlige Erstarrung verfällt, als ihr Mann sie verlässt. Und ihr atemloses Klagen über ihr "in Kästchen" geteiltes, gleichförmiges Leben aus Arbeit, Yogakurs und familiären Verpflichtungen garniert sie virtuos mit gleichzeitig ausgeführten Gymnastikübungen, Liegestützen und einem Spagat.

Irrgarten mit Storchennest

Moritz Müllers leicht surreales Bühnenbild stellt ein holzsperriges Häuschen mit verwinkelten Räumen dar, über denen wie ein Storchennest das eheliche Bett thront: der zentrale Kampfplatz der Geschlechter. Eine "Festung der Einsamkeit" (Johan) ist dieses Haus, hermetisch von der Außenwelt abgeschirmt und immer wieder Ort gediegener Alpträume, wenn sich die Drehbühne (sie dreht sich tatsächlich!) zwischen den Szenen in Gang setzt.

Dann wird das Haus zum Irrgarten, in dem sich das Paar verliert und auch durch Rufe nicht wiederfindet. Und das nur einen Ausweg bietet: die Tür in den Abgrund, in den sich Marianne im Hochzeitskleid abseilt. Zwei Kinder in Zwillingslook erscheinen immer wieder als Filmprojektion: gespenstisch und unwirklich wie die beiden Geister-Mädchen in Kubricks "Shining". Sie lugen um die Ecke oder drücken sich am Fenster die Nasen platt. Da war doch was? Mariannes und Johans Kinder spielen im Kern der Ehe keine Rolle. Es geht um das eigene Ich, die Selbstfindung und Befreiung.

Johan, dem es körperliche Beschwerden bereitet, über sein Inneres zu reden, geht den umgekehrten Weg seiner Frau. Er verliert den Boden unter den Füßen. Der schmerbäuchige Wohlstandswissenschaftler wird zum erbarmungswürdigen Berufsversager, der die Ehefrau um Erlaubnis zur Rückkehr ins Eigenheim anbettelt. Seine Geliebte kann er schon längst nicht mehr ertragen.

Junge Hunde

Król gelingen immer wieder Szenen von ungeheurer Intensität. Etwa wenn er im Jeans-Anzug irgendwo in einer Bar Amos Lees All my best days are behind me now ins Mikrophon raunt. Johans Art der Selbstfindung. Oder wenn er schwitzig und alkoholisiert Marianne die Unterschrift auf den Scheidungspapieren verweigert, stattdessen ein gewaltsam abgerungenes, bitterernst gemeintes "Woll'n wir es nicht noch mal miteinander versuchen?" herauspresst und Marianne darauf mit einem rabiaten "Du bist naiv bis zum Schwachsinn" jegliche Hoffnung zunichtemacht. Längst weiß Johan nicht mehr, was seine Frau denkt, hat die Kontrolle über sie verloren. Sie hat jetzt die Macht. Da gebiert Johans Hilflosigkeit Gewalt. Ende einer Ehe. Jahre später werden die beiden Neuverheirateten sich zufällig wiedertreffen und ein heimliches Verhältnis beginnen. Man kann nicht voneinander lassen.

Frenetischer Dauerapplaus am Ende der Premiere belohnte ein grandioses Duo. Und Meyerfeldt und Król, euphorisiert vom fieberhaften Spiel und befeuert vom immensen Beifall, tollen auf der Bühne wie die jungen Hunde. Es ist ein ganz großer Abend für die beiden.

Besprechung für www.nachtkritik.de. Premiere war am 26. Oktober 2013.

EDUARDAS UNIVERSUM

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Wer ist Eduarda?

Eduarda bin natürlich ich! Diesen Spitznamen verpasste mir ein Freund in meiner Anfangszeit als Musikkritikerin in Erinnerung an den berühmten Eduard Hanslick.

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